Lektorix des Monats Dezember 2005
Geraldine McCaughrean: Nicht das Ende der Welt
Aus dem Englischen von Stephanie Menge.
München: Nagel & Kimche 2005,
198 S., € 15,40.
Two by Two?
In zahllosen Beispielen haben Künstler*innen den paarweisen Einzug der Tiere in die Arche gar lieblich anzuschauen - inszeniert. Dabei sind sie der Versuchung erlegen, einer Symbolgeschichte wie der von der Errettung Noahs in Bildern und Texten realistische Details abzutrotzen. Auch McCaughrean stellt sich dem Thema mit dem Versuch, hinter die Kulissen zu schauen: War das wirklich Gottes Wille? Oder könnte Noah und seinen Söhnen in der Dynamik des grausigen Geschehens die eigene Bedeutung zu Kopf gestiegen sein?
Hintergründig, provokant und mit erzählerischer Spannung entwirft die Autorin die Geschichte aus der Perspektive von Noahs fiktiver Tochter Timna. Der Handlungsbogen spannt sich von den ersten Regentropfen bis zum Augenblick, da sich der große Regenbogen des Bundes und der Versöhnung über den Himmel spannt. Im Wechsel von Vernichtung und Offenbarung, von Freund- und Feindschaft unter den Überlebenden, von der Enge auf dem Schiff und der Endlosigkeit des Wassers, von Hoffen auf den Neuanfang und Streit und Tod unter Mensch und Tier erzählen verschiedene Stimmen der Geretteten über den schmalen Grat hin zu Selbstgerechtigkeit und Unbarmherzigkeit.
Es sind nicht die biblischen Fragen der Genesis-Erzählung sondern die Fragen des modernen Menschen unserer Zeit, die diese Erzählung vorantreiben: Wo ist Gott angesichts der Katastrophe? Provokant und erzählerisch gekonnt webt McCaughrean viele kleine Antwortmöglichkeiten vom unergründlichen Wirken Gottes in den Handlungsfaden ein und unterminiert gleichzeitig jede fundamentalistisch und auf Gehorsam ausgerichtete und verordnete Religion, mit der Menschen sich selbst erhöhen. Das mit einem der bedeutendsten britischen Jugendbuchpreise ausgezeichnete Buch ist ein hervorragender Gesprächsanlass für Jugendliche ab 15 Jahren: Über biblische Textgrundlagen ebenso wie über Glaubenszweifel oder ein vordergründig rasches Gottesverständnis. McCaughreans versöhnlicher Schluss verweist auf den Titel: Noch haben die Menschen eine Chance, noch ist nicht das Ende der Welt
Inge Cevela
>>> hier geht es zur Jahresübersicht 2005

