Kröte des Monats März 2022
Gerstenberg 2022.
80 S.
€ 26, 80.
Vitali Konstantinov: Alles Geld der Welt. Vom Muschelgeld zur Kryptowährung
Für die 99% sei dieses Buch geschrieben worden, verrät seine Widmung, und wen Vitali Konstantinov damit meint, ist rasch erschlossen: Ende 2020 waren 1,1% der Weltbevölkerung in Besitz von 45,8% des weltweiten Vermögens. Ein frappierendes Missverhältnis, das zwar immer wieder durch die Medien geistert, dessen Veröffentlichung im Umkehrschluss aber kaum einmal systematisches Umdenken oder Veränderung anregt. Und unter den besagten 99% ist Geld ohnehin ein schwieriges Thema – oft ist es ein erstaunlich kleiner Schritt von Geld regiert die Welt zu Über Geld spricht man nicht. Gerade für Menschen, denen der Zugang zum Geld nicht familiär mitgegeben wurde (das sind nämlich leider oft nur die, die gleich auch noch das Geld mitüberreicht bekommen), kann das Finanzsystem wie eine riesige, unberechenbare Blackbox wirken, von der sich besser fernhält, wer kann. Aber Geld bestimmt unseren Alltag, auch wenn es gar nicht so einfach zu definieren ist. In seinem Nachwort schreibt der Künstler:
Seit Geld existiert, gibt es Streit darüber, was es eigentlich ist. Nicht einmal Wissenschaftler und Experten wissen es genau, ihre sehr unterschiedlichen Meinungen hängen häufig vom jeweiligen politischen Standpunkt ab. Es gibt aber absolut keinen Zweifel, dass Geld unser Leben und Tun bestimmt und vorantreibt: Brot wird gebacken, Impfstoffe werden hergestellt, Schulen beheizt, Raumschiffe gebaut, Kriege geführt, Kleider genäht.
All diese Fäden nimmt der Autor auf und führt sie in diesem eigensinnigen, humorvollen und famos bebilderten Streifzug durch die Errungenschaften, Irrungen und Wirrungen der Geldgeschichte zusammen. Das großformatige Sachbuch organisiert sich in drei übergeordneten Kapiteln, beginnend beim Schenken, Tauschen, Kaufen. Noch nicht (wie auf den kommenden Seiten) in Comicpanels organisiert, sondern in Form einer assoziativ gestalteten Mind-Map stellt Vitali Konstantinov auf der ersten Doppelseite die provokante Frage Ohne Geld keine Welt? und knüpft durch mit Text befüllte Infoboxen, Pfeile, allerhand Doodles von kleinen Menschen, Tieren und Waren Verbindungslinien um ein symbolisches Zentrum herum: Zwei Hände, der Tausch eines Geldscheins gegen ein mit Eis befülltes Stanitzel. Auch auf allen kommenden Seiten wimmelt es nur so von kleinen (mal namenlos bleibenden, mal durchaus berühmten) Figürchen, die untereinander Geschäfte machen, ihre Meinungen zum Geld verlautbaren oder mit revolutionären gesellschaftspolitischen Ideen aufwarten. Die dezente Farbgestaltung orientiert sich – wie könnte es anders sein – am Dollar und ergänzt die schwarzen Linien auf weißem Grund durch die Schmuckfarben Grün und Gelb.
Nach dem assoziativen Einstieg und der daran angeknüpften historischen Vor- und Frühgeschichte dieses wundersame[n] Fantasieprodukts (so die liebevolle Bezeichnung des Autors) beschäftigt sich der umfassendste Abschnitt des Buchs mit dem Aufstieg des Geldes. Hier wird ein denkbar großer historischer Bogen von der Erfindung der Münze (auch die Gleichzeitigkeit von Entwicklungen wird hervorgehoben – an unterschiedlichen Orten der Welt haben sich unabhängig voneinander Münzgeldsysteme entwickelt) bis zu modernen Märkten und Börsen, ihren Krisen und Funktionsprinzipien gespannt. Das dritte Kapitel schließt dann noch Überlegungen zu Geld nach dem Geld an; eine Annäherung, die nicht nur vorausdenkend die Rolle der aktuell in aller Munde befindlichen Kryptowährungen einzuschätzen versucht, sondern die wiederum mit einer wahren Fülle an geschichtlichen Kuriositäten aufwarten kann. So geht es unter anderem um die vielleicht weniger bekannten Konzepte von Privatgeld, Freigeld und Ersatzgeld sowie die Zeiten, in denen sie tatsächlich zum Einsatz kamen.
Es ist gewiss keine leichte Lektüre, die der Autor seinen Leser*innen hier zumutet und es braucht schon einiges an Konzentration und Eigenleistung, um die Querverbindungen zwischen den oftmals nur Hinweis bleibenden Informationen herzustellen. Abschließende Wertungen werden außerdem keine vorgenommen, Aussagen wie Geld ist ein System des gegenseitigen Vertrauens und Geld zeugt von Misstrauen und totaler Kontrolle durch den Staat dürfen unkommentiert nebeneinanderstehen. Und vielleicht ist es gerade dieser pluralistische Zugang, den ein so komplexes Thema braucht. Das Sachbuch ist damit auch eine Aufforderung, sich auf nicht-lineare Lektüreprozesse einzulassen: nachzuschlagen, zu überspringen, zurückzublättern und einzelne Kapitel selektiv herauszugreifen. Abhilfe schafft dabei der umfassende Anhang. Er bietet Zusatzmaterialien wie einen überisichtlichen Zeitstrahl der in den Grafiken bearbeiteten Entwicklungen, liefert weiterführende Buchtipps, informative Websites zum Thema sowie einige Museums- und Sammlungsempfehlungen. Für die Lektüre selbst stehen ein Abkürzungsverzeichnis und ein Glossar zur Verfügung. Ein Glossar, das möglicherweise auch Leser*innen, die eigentlich seit Jahren und Jahrzehnten alltäglich Geldgeschäfte durchführen, häufiger konsultieren müssen als ihnen lieb ist. Aber zum Glück ist es da.
Wo ist die Kohle, wo ist die Marie? hat poetisch schon die Erste Allgemeine Verunsicherung gefragt, und Vitali Konstantinov gibt seine Antwort: Eigentlich überall. Geld hat sich eingeschrieben in gesellschaftliche Verhältnisse, kann sie durch Abhängigkeiten zementieren oder aufbrechen. Es bestimmt unser Verhältnis zu Besitz und definiert oft überhaupt erst dessen Wert. Über das Private hinausgehend wirkt Geld aber auch massiv auf internationale Beziehungen ein, es kann sie stabilisieren oder bedrohen, Konflikte befrieden oder eskalieren lassen. Der Autor liefert mit seiner Einführung in die Geldgeschichte wichtiges und anspruchsvolles Infotainment vom Feinsten, das durch seine exzentrische Aufmachung besticht und dessen Lektüre definitiv lohnenswert ist; für jugendliche wie erwachsene Leser*innen gleichermaßen.
Sarah Auer
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