Kröte des Monats Februar 2021
Carlsen 2020.
€ 16, 50.
Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Mistvertsändnis. Mit Bildern von Peter Schössow
Arrogant. Der Duden nennt anmaßend, dünkelhaft, überheblich und eingebildet als Bedeutungsmöglichkeiten für das Adjektiv. Rico notiert dazu Folgendes:
Wenn man auf jemanden herabsieht. So schlau kann Oskar also gar nicht sein, schließlich ist er viel kleiner als ich und musste ständig zu mir raufgucken. (I, S. 36)
Gemeinsam mit dem Visier und der Primzahl ist arrogant einer jener Begriffe, die Rico in seinen Worterklärungs-Kärtchen mit Oskar in Verbindung bringt, als die beiden einander am Spielplatz in der Grimmstraße kennenlernen. Dort, wo die Grimmstraße eine Halbinsel bildet – und damit als eine Straße erkennbar ist, die von der Dieffe weg und gleichzeitig zu ihr zurückführt. Hier treffen der tiefbegabte Rico und der hochbegabte Oskar in jenem Sommer aufeinander, als Rico nach seiner Fundnudel und Oskar nach Mister 2000 sucht.
„Kann es sein, dass du ein bisschen doof bist?“ (I, S. 33) lautet Oskars Frage an Rico. Denn Oskar hat das, was für Rico offensichtlich ist, nicht verstanden.
In der filmischen Adaption sieht man Rico das inkriminierte Wort mit Filzstift auf ein Post-it schreiben, um es im Wörterbuch nachzuschlagen: arrokant. Denn dass Ricos Rechtschreib-schwäche in seinem Tagebuch dank Rechtschreibkorrektur nicht sichtbar ist, heißt ja nicht, dass sie nicht da ist. Doch wie hat es der Wehmeyer, Ricos Lehrer im Förderzentrum, so schön formuliert:
„Deine Rechtschreibung zieht einem zwar die Schuhe aus, Rico […]. Aber wie du schreibst, das hat schon was.“ (I, S. 49)
Andreas Steinhöfel etabliert Rico von Beginn an als defizitären Erzähler, der dennoch – oder gerade deswegen – seiner ganz eigenen Sprachgebung folgt. Als Ich-Erzähler nähert sich Rico seinem Leben und Erleben auf komische Weise an und macht das Moment des Absurden zum primären Stilmittel. Rico folgt nicht nur seinem konsequent kindlichen Blick, sondern auch den wortwörtlichen Bedeutungen dessen, womit er es zu tun bekommt. Seiner Bewegung im Raum entsprechend ist auch seine Sprach-Welt eine ohne Irrwege, ohne Metaphern und Sprichwörtlich-keiten. Ricos Blick ist ein komödiantischer Blick, der die Dinge ganz naiv und unverschämt offen legt.
Die semiotische Dimension einzelner Wörter ist Rico mitunter ein Rätsel; mit Blick auf deren Semantik jedoch ist er selten um assoziative Erklärungsmuster verlegen:
Linguistin: Eine Wissenschaftlerin, die die Geheimnisse der menschlichen Sprache untersucht. Also zum Beispiel, warum manche Autos Mehrtürer genannt werden, manche Heilige aber auch, und warum es Mehrtürertod heißt, obwohl der heilige Quirinius nicht bei einem Autounfall in Rom gestorben ist, sondern dort geköpft wurde. (III, S. 158)
Die angesprochene Linguistin ist Svens Mutter und entstammt dem dritten Band, als Rico und Oskar von Berlin aus bis an die Ostsee müssen, um das Rätsel um den Diebstahlstein zu lösen. Sven wiederum kennt man bereits aus dem ersten Band: Der gehörlose Zuhörer wird zum Wegweiser, als Rico die Dieffe zum ersten Mal (alleine) verlassen muss, um auf der Suche nach Oskar Sophia zu befragen.
Bereits mit dem dritten Band hat sich abgezeichnet, was sich nun, im fünften Band verfestigt: Durch und mit Oskar bewegt Rico sich viel selbstbestimmter durch die Welt. Gemeint ist damit eine räumliche Welt gleichermaßen wie Ricos Sprach- und Denkwelt. Nichts könnte davon besser Zeugnis ablegen, als das Worter-klärungskärtchen RUMKUGELN, das Rico extra für den Wehmeyer verfasst hat.
Gemeint ist damit aber auch Ricos Erzählwelt. Zwar wird auch Ricos fünftes Abenteuer auf wenige Tage verdichtet, doch die Zeitdehnungen des ersten Bandes (Immer noch fast schon Donnerstag I, S. 175) weichen einem zügigen Ablauf der durch-aus nicht unkomplexen Handlung, die nun sogar auf zwei Ebenen erzählt wird. Und eine umfassendere Figurenkonstellation als bisher miteinbezieht: Zusätzlich zum Haus in der Dieffe 93, des-sen Bewohner*innen-Plan weiterhin textuell in den Band einführt, kommen separat aufgelistete Handelnde dazu, denn:
Weil im Buch fast so viele Leute auftauchen, wie in einer Bingotrommel Kugeln sind, hab ich die wichtigsten hier aufgezählt. (V, S. 6)
All die Bingokugeln bereiten Rico mittlerweile viel weniger Sorgen. Statt des klackernden Durcheinanders in seinem Kopf löst sich höchstens mal eine vereinzelte Kugel – und lenkt Rico auf eine Denk-Spur, die er nicht in der Sekunde erfassen kann, der er aber dennoch nachgeht. Doch gerade diese eine Bingokugel fordert ihn gehörig heraus. Denn: Zwischen Rico und Oskar kommt es zu einem fürchterlichen Streit.
Wir erinnern uns: Mittlerweile ist das Rico und Oskar-Universum transmedial angewachsen. Für animierte Kurzfilme in der Sendung mit der Maus hat Andreas Steinhöfel seinem ver-schworenes Duo eine multikulturelle Clique an die Seite gestellt, die dann auch zu den Protagonist*innen der Kindercomics rund um Rico und Oskar wurden. Wie Rico Soo-Min, Samira, Nuri, Sarah, den Checker und den Lawottny kennen gelernt hat, wird im vierten Band (der nur an einem Tag und außer zu Beginn ausschließlich im Haus in der Dieffe 93 spielt) in Rückblicken auf den davor liegenden Sommer erzählt.
Damals hatte hinter einer hohen Mauer eine hoffnungsvolle Freundschaft begonnen, die aber im Herbst schmerzhaft und verräterisch wieder zerbrochen (IV, S. 43) war. Grund dafür waren Oskars Alleinanspruchsanwandlungen auf Rico. Als das Vomhimmelhoch herabschwebte, wurde der Streit beigelegt, so-dass die Clique nun integrativer Bestandteil eines neuen Aben-teuers von Rico und Oskar ist. Mehr noch: Sie steht im Mittel-punkt der Ereignisse. Denn der Hinterhof, in dem die acht einander treffen, soll verkauft und bebaut werden. Es gilt also, die eigene Zugehörigkeit zu verteidigen und herauszufinden, was hier eigentlich vorgeht und wie man es verhindern kann.
Just in dieser Situation keimen Oskars Eifersuchtsanwandlungen wieder auf. Denn da ist nicht nur die Clique per se, sondern auch Ricos neu erwachtes Herzklopfen, wenn es um Sarah geht. Rico wiederum fühlt sich von Oskar hintergangen und bedrängt. Es kommt zum Streit.
Es bleibt einem beinahe das Herz stehen, als die beiden in Worten aufeinander losgehen. Denn wenn eine Freundschaft so innig und einzigartig ist, braucht es sprachliche Heftigkeit, um aus Rico und Oskar wieder einen Rico und einen Oskar zu machen. Rico wirft Oskar dessen Verbitterung ob Sarahs neuer Rolle vor. (So einen bescheuerten Freund brauch ich nicht. V, S. 91) Oskar aber fällt in alte Muster zurück. Stichwort: arrogant.
„Wenn ich so schrecklich bin, dann geh doch, du Sonderschüler!“, brüllte Oskar. „Dann hau doch ab zu deiner Scheiß-Sarah, du Arschloch!“ (V, S. 91)
Wie Kugelmenschen waren sie, die beiden. Nun aber ist etwas zerbrochen.
Doch nur eine Freundschaft, die so innig ist wie jene von Rico und Oskar gibt auch her, dass ein Streit dennoch das Vertrauen impliziert, dass man einander verbunden bleibt. Diese Ver-bundenheit bleibt sichtbar, indem Rico weiterhin eine Rico und Oskar-Geschichte erzählt. Auch wenn die beiden (räumlich) voneinander getrennt sind.
Andreas Steinhöfel nutzt dazu einen Kunstgriff.
Für Rico kommt es ganz gelegen, dass Frau Dahling die Angst befällt, ihr Herr van Scherten könnte einem Kurschatten verfallen sein. Als Frau Dahling ihrem Liebsten nach Bad Wildungen nachreist, trifft sich das nicht eben ungünstig. Denn eine der Spuren im Hinterhof-Fall weist in diese geografische Richtung. Also begleitet Rico Frau Dahling. Und der Checker begleitet Rico, während die restliche Clique gemeinsam mit Oskar in Berlin weiter ermittelt. Als Rico Reiselektüre für Frau Dahling besorgen soll, stößt er auf die Werke von Hedwig Kurzmaler und ist höchst angetan von deren vornehmer Sprache und edlen Figuren (V, S. 105) und beschließt:
Wenn ich jemals ein Buch schreibe, dann schreibe ich es so, wie die Hedwig Kurzmaler es geschrieben hätte. (V, S. 105)
Enthusiasmiert lebt Rico sich in die Welt von „Griseldis“ ein und nutzt die Sujets der vorletzten Jahrhundertwendem, um nun seinerseits etwas ganz Neues auszuprobieren: Er erzählt Oscars kapitale Abenteuer und erschafft dafür eine metafiktionale Parallelwelt, in die er einschreibt, was Oskar in Berlin widerfährt, während er selbst in Bad Wildungen mit einer verworrenen Familiengeschichte konfrontiert wird. Verzeihung. Rico erzählt, in welche Gipfel aller Schmach Oscar Dörings durch den perfiden Verrat seines einst besten Freundes Federico d’Oretti durchleben muss.
Oscars kapitale Abenteuer werden nicht nur grafisch stilisiert und abgesetzt, sondern von Peter Schössow auch illustratorisch auf besondere Weise begleitet: Er versetzt Oscar ins Berlin der Jahrhundertwende, schreibt zahlreiche Filmzitate in seine Bilder ein und treibt das intertextuelle Spiel mit Verweisen und Anleihen, das Andreas Steinhöfel mit Hedwig Kurzmaler anstößt (deren Namen man eigentlich anders schreibt, nämlich ganz kompliziert und als Doppelname V, S. 104) intermedial klug und humorvoll weiter.
Zum Thema arrogant hätte auch Hedwig Courths-Mahler einiges zu sagen; muss sie es doch über sich ergehen lassen, als trivial markiert zu werden. Nur ein Autor wie Andreas Steinhöfel schafft es, ihr Werk mit so viel Esprit aufzugreifen und zu zeigen, wie lustvoll man dessen Kompositionsprinzipien (literarisch) rezipieren kann. Und nicht nur das: Andreas Steinhöfel verabschiedet seine Rico und Oskar Reihe, indem er sie umfassend in eine Tradition der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen und seines eigenen Werkes im Besonderen einschreibt: Von Schwestern, die den Namen Edith und Enid Burnett tragen (und damit gleich drei Kinderbuchautorinnen die Ehre erweisen), über die Tasche von Mary Poppins bis hin zu einem Verweis auf die Hexenkinder Visibles reichen die Anspielungen, die das Herz all jener frohlocken lassen, die Kinderliteratur anders begreifen als unter den Vorzeichen pinkifizierter Hypes.
Denn rosa ist hier höchsten die Füllung winziger Windbeutel, die Rico links liegen lassen muss (manchmal muss man für Freunde Opfer bringen V, S. 313), als vor der offenen Kühlschranktüre endlich die herzerwärmende Versöhnungsszene alles wieder ins Lot bringt. Andreas Steinhöfel schließt damit noch einmal den Kreis zum Beginn dieser wunderbaren Freundschaft am Spielplatz in der Grimmstraße. Nun ist es Rico, der sich bei Oskar entschuldigt:
Ich sollte dich besser kennen und dich deswegen auch besser verstehen. Aber ich hab nur mich und Sarah gesehen, und dabei haben ein paar Sachen, die ich doof an dir finde, zu viel Gewicht gekriegt. Entschuldigung bitte. (V, S. 313)
Dieserart versöhnt spazieren die beiden über die regennassen Straßen in den Sonnenuntergang und machen dabei Rick Blaine und Captain Louis Renault alle Ehre.
Wir werden sie vermissen. Aber! Uns bleibt immer noch die Dieffe 93.
Heidi Lexe
Die ersten drei Bände rund um Rico und Oskar als filmische Adaption sind Teil der neuen Kinderfilm-Medienliste, in der verschiedene Filme zusammengetragen wurden, die auf kinderliterarischen Texten basieren.
>>> hier geht es zu den Kröten 2021