Aus dem Engl. v. Bernadette Ott.
Aladin 2020. € 18,50

Sydney Smith: Unsichtbar in der großen Stadt

Ich weiß, wie es ist, klein zu sein in der großen Stadt.
Keiner sieht dich und es ist überall fürchterlich laut.

In der Kinderliteratur spielt die Großstadt – über die Funktion der Kulisse hinaus – immer wieder eine besondere, handlungsbe-stimmende Rolle. Schon Emil musste sich Ende der 1920er-Jahre durch das Berliner Straßenwirrwarr schlagen. Für Rico und sein so gut wie nicht vorhandenes Orientierungsvermögen wurde der urbane Raum fast 90 Jahre später schließlich zum topografischen Gegenspieler. Vermag der „tiefbegabte“ Protagonist durch seine liebenswerte und gewitzte Erzählweise dem Schreckens-Ort Großstadt sukzessive immer mehr von seiner Bedrohlichkeit zu nehmen, so kann das kindliche Ich in Sydney Smiths neuem Bilderbuch auf persönliche Rückzugsorte und eigene Erfahrungs-werte setzen, um einen sicheren Weg durch den Großstadt-dschungel zu navigieren.
Dabei richtet sich der lyrisch anmutende, reduzierte Text an ein bis zum finalen Twist unbestimmt bleibendes Du, mit dem die Erfahrung des In-der-großen-Stadt-verloren-Seins geteilt wird und dem in einer solidarisch-emphatischen Geste ganz persönliche Hilfestellungen angeboten werden. Welche Orte besser gemieden werden sollten (unheimliche schmale Gassen, in denen zwei schemenhafte Schatten auf der Motorhaube eines Autos sitzen oder Zäune, hinter denen wilde Hunde ihre Zähne fletschen) und welche Orte Schutz und Ruhe bieten (Haselsträucher mit launigem Vogelgezwitscher oder Hauswände mit warme Luft verströmenden Lüftungsrohren), wird vom namenlosen Ich-Erzähler entlang seiner Bewegung durch den winterlichen Stadtraum verraten. Begleitet wird er (oder sie?) dabei nur von in dichten Flocken fallendem Schnee, der den Horizont im Hintergrund oft vollständig verdeckt und das Sichtfeld drastisch einschränkt.
Durch Schicht um Schicht übereinandergelegte Farbebenen in Weiß, Grau und Blaugrün erzeugt Sydney Smith in seinen Bildern eine eindrucksvolle eisige Großstadtatmosphäre, die intensiv erfahrbar wird. Da ist zum Einen die Anfangssequenz, in der vier fast identische Panels gezeigt werden: Durch die beschlagene Fensterscheibe der Straßenbahn hindurch blicken wir vorbei an dem Protagonisten, dessen Profil in dicken schwarzen Tinte-strichen die Konstante der Bildfolge bildet, auf die vorbeiziehende, mit einem grauen Schleier überzogene Stadtlandschaft. Deren Konturen werden zunehmend unscharf, wenn Smith die zum Einsatz kommenden Wasserfarben immer stärker ineinander verschwimmen lässt. Draußen auf der Straße – Kenner*innen mögen sich vielleicht an Toronto erinnert fühlen, aber es könnte im Grunde auch jede andere Großstadt in den nördlichen Breiten sein – sind die Dinge dann endlich deutlicher erkennbar. Zwar domi-
nieren immer noch verschiedenste Grautöne, vereinzelte Farb-
akzente beleben jedoch die Szenerie. An die Stelle der dumpfen Abgeschlossenheit im Fahrzeuginnenraum tritt nun eine sensuale Reizüberflutung: lautes Stimmengewirr, Baustellen- und Verkehr-
slärm, Menschenmassen, die sich aneinander vorbeidrängen, blinkende Ampeln, Sirenengeräusche auf den Straßen zwischen den hohen, eng aneinandergeschmiegten Gebäuden… All das wird nicht vom Text beschrieben, sondern vielmehr in unterschied-
lichen fragmentierten Bildsequenzen präsent gemacht. Diese Versatzstücke visueller, auditiver und im weiteren Sinne auch olfaktorischer Großstadteindrücke kulminieren schließlich in einem mehrfach gebrochenen Spiegelbild des Kindes in einer auf Hochglanz polierten Glasfassade. Der dem Stilprinzip der Einfachheit der verschriebene Text bleibt auch hier ganz zurückgenommen und lässt so vielschichtige Deutungen zu:

Manchmal ist in meinem Kopf einfach viel zu viel drin.

Diese textimmanente Überforderung aufgrund unterschiedlicher gleichzeitig auf das Ich einströmender Sinneseindrücke steht jedoch in maximaler Opposition zu der Erzählhaltung des Buches und der Lektüreerfahrung. Denn Sydney Smiths Bilderbuch ist alles andere als laut. Auf kunstvolle Weise fügen sich Text und Bild – die diesmal beide aus der Feder des kanadischen Künstlers stammen – zu einer unaufdringlichen, behutsamen und poetischen Erzählung zusammen, bei der es um so viel mehr geht als um das Zurechtfinden in der anonymisierten Großstadt. Den ersten Hinweis darauf gibt die dialogische Erzählform: Wer ist dieses Du, das auf dem schwarzen Walnussbaum Schutz suchen und am Fenster der Chormusik in der roten Backsteinkirche lauschen soll? Wer ist es, der in der großen Stadt fast vollends unsichtbar zu bleiben vermag (und übrigens auch – ein weiterer der vielen kleinen Kunstgriffe von Sydney Smith – im gesamten Bilderbuch nie direkt zu sehen ist)?
Wer genau hinsieht, erkennt schon auf den vorangegangenen Seiten Hinweise über die Identität dieses so liebevoll adressierten Du. Verraten sei nur so viel: „Unsichtbar in der großen Stadt“ ist auch eine Geschichte über Freundschaft und Verlust, über das Suchen und das Zuhause-Sein, und über die Zuversicht im Loslassen:

Aber ich weiß, du findest dich schon zurecht.

Während sich Rico in Andreas Steinhöfels Kinderromanserie mit jedem weiteren Band Schritt für Schritt immer mehr zuvor unbekannte Handlungsräume erschließt, agiert das namenlose Ich hier in einem ihm bekannten Raum: Es geht die dargestellten Wege nicht zum ersten Mal – und für sein Alter bewältigt es diese, so ganz allein, auf beeindruckend souveräne Weise. Antriebsfeder für seine Bewegungen durch den Raum werden dabei seine sozialen Beziehungen. Und so endet die sorgfältig komponierte, aber an keiner Stelle artifiziell erscheinende, sondern fast organisch aus sich heraus entstehende Erzählung auch mit einer innigen Umarmung – und auf zweifache Weise deutbaren Spuren im Schnee.

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Claudia Sackl

Frostig wird es auch in der >>> Liste von Schnee und Eis (STUBE-Card-Bereich), während man sich in den >>> Städten (Buchliste) verlieren kann.

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