Jacoby&Stuart 2017. € 15,50.

Arnould Wierstra: Babel


Sie planen einen Wien-Besuch im Sommer? Nun: Den Stephansplatz sollten Sie in diesem Jahr meiden. Seit Wochen wird er saniert, der Baustellenbereich breitet sich aus, die anstürmenden Besucher*innen müssen mit wenigen Quadratmetern vor dem Dom vorlieb nehmen. Als Alternative wäre der Schöne Brunnen einen Besuch wert, jenes abseits und beinahe einsam gelegenes Brunnenhaus im Schlosspark Schönbrunn, das jene Quelle fasst, die dem Ort den Namen gibt. Ebenfalls auf der Parkseite des Brunnens liegt ein wenig versteckt die Meierei, eines der sommerlichen Lieblingscafés des STUBE-Teams, in dem es sich herrlich frühstücken oder jausnen lässt und in das sich nur selten eine*r jener tausenden Besucher*innen des Weltkulturerbes verirrt.

Dieserart gestärkt könnte man weiter zum nächsten Schloss, dem Belvedere und in der dort untergebrachten Galerie den Tod und das Mädchen besuchen, das beeindruckende Gemälde von Egon Schiele. Dieser künstlerisch-morbiden Spur folgend bietet sich das Weltgerichtstryptichon von Hieronysmus Bosch in der Galerie der Akademie der Bildenden Künste an. Hier könnte das erste kinderliterarische Intermezzo eingelegt werden, denn für eine seiner berühmten Verfolgungsjagden im Bilderbuchformat hat der niederländischen Illustrator Thé Tjong Khing natürlich auch Motive dieses Tafelbildes verwendet. Wer mit „Hieronymus“ auf den Geschmack gekommen ist, wechselt vom Schillerplatz zum Maria-Theresien-Platz und wagt sich in das Allerheiligste der österreichischen Kunstgeschichte vor. Ein ehrfurchtsvolles WOW für Vestibül, Stiegenhaus und Kuppelhalle des Kunsthistorischen Museums, ein kurzer Blick auf das berühmteste, weil einst gestohlene Salzfässchen und dann  in Saal 10 der Gemäldegalerie zu einem der  wohl berühmtesten hier versammelten Werke: dem „Turmbau zu Babel“ von Pieter Bruegel dem Älteren, entstanden 1563.

Hier lässt es sich verweilen, um mit einem kleinen Fernglas auf Entdeckungsreise in der Welt eines monumentalen biblischen Unternehmens zu gehen (siehe Gen 11, 1-9).
Und es lässt sich – sozusagen live – jene Geschichte nachverfolgen, die der niederländische Illustrator Arnould Wierstra in seinem textlosen Bilderbuch „Babel“ schildert. Er nutzt die Szenerie in Pieter Bruegels Gemälde als Handlungsort und verknüpft ein aus menschlichem Größenwahn geborenes Unternehmen mit dem (aus anthropologischer Sicht) nicht weniger vermessenen menschlichen Wunsch zu fliegen.

Natürlich lässt sich das Bilderbuch unabhängig von Pieter Bruegels Gemälde als eine Art Such- und Abenteuergeschichte lesen, die erst zu einem sehr späten Zeitpunkt in ihren kunsthistorischen Kontext eingegliedert wird. (So geht auch das Buch selbst vor.) Darum wissend lässt sich der Lektüregenuss jedoch beträchtlich steigern, wenn man bereits von Beginn an Szene für Szene des Bilderbuches parallel zum Ausgangs-gemälde führt. Denn Arnould Wierstra nutzt nicht nur dessen Topografie, sonders bildet sie auch in faszinierender Exaktheit in seinen Tuschezeichnungen nach.
Was in Pieter Breugels Gemälde beinahe peripher erscheint, wird von ihm in der ersten Doppelseite in den Mittelpunkt gerückt: Jene Renaissance-Stadt, vor deren Mauern die größtmögliche Baustelle der Menschheitsgeschichte verortet ist. Mit dem ersten Umblättern erschließt sich dann das konzeptuelle Muster des Bilderbuches – basierend auf dem Miteinander des (im Gemälde) Sichtbaren und des fiktional Hinzugefügten und dessen primärer Verortung in Innenräumen. In vier voneinander nicht durch Rahmen oder Gutter abgegrenzten Panels wird der Blick in einen solchen Innenraum geworfen. Es handelt sich um eine Art Wohnraum gleichermaßen wie um eine Werkstatt.
Konstruktionspläne an den Wänden verweisen auf ursprüngliche Erfindungen der zentralen Figur, die auch jetzt letzte Handgriffe an das neueste Werkstück legt: Eine halbmondförmige Holzkonstruktion, deren Zwischenräume mit Federn bestückt sind und die an  Ikarus gleichermaßen erinnert wie an den Drachenflügel, den Hiccup seinem feuerspeienden Freund in „How to Train Your Dragon“ baut.
Erst auf den zweiten Blick lässt sich das Spiel mit Konstanten und Varianten erkennen, denn erst auf den zweiten Blick werden die Zeitabläufe und damit verbundenen (minimalen) Veränderungen in den Panels sichtbar. Katze und Eule bestaunen das Werk des tollkühnen Mannes und können in diesen wie auch in jedem anderen, folgenden Bild gesucht und gefunden werden. Ergänzt werden die umgeschnallten Flügel nur durch eine Vogelmütze (die später verloren geht, wiedergefunden und nachgereicht wird) und eigenwilligen Federschuhen, die im weiteren Verlauf der Geschichte ebenfalls Eigenleben entwickeln werden.
Dieserart gerüstet tritt der schnauzbärtige Erfinder mit umgeschnallten Flügeln aus dem Haus.

Die Wirkung ist anders, als erhofft; er wird verspottet und aus der Stadt getrieben. Mit der Brücke, die er überquert, lässt er sich erstmals exakt in der Topografie von Pieter Breugels Gemälde verorten und trifft vor jenem Haus, das auf einem freien Feld am linken Fuß der Turm-Baustelle zu sehen ist, auf einen Invaliden in einer ungewöhnlichen Rollstuhlkonstruktion (die entsprechende Skizze hat in der Werkstatt an der Wand gehangen). Er teilt den Glauben an den Erfindungsreichtum des Handwerkers und legt den Ideen-grundstein für alles Weitere: Vorbei an der Stufenmauer jenes Baustellen-Abschnittes, in dessen Bereich der Turm im oberen Teil bereits fertig gestellt ist (die Bauarbeiter mauern und verputzen hier gerade den unteren Bereich), führt er den wagemutigen Flieger zu einer Aufstiegsmöglichkeit auf den Turm. Vor der Hütte, die sich umwaldet an den Turmfelsen schmiegt, kommt es zu einem ersten Intermezzo, mit dessen Hilfe eine Szenerie am Rande des Gemäldes von Peter Breugel weitergedacht und ins Zentrum gerückt wird: der lokale Herrscher besucht die Baustelle.
Wenig später ist jener Punkt erreicht, an dem der Aufstieg beginnen kann und der neue Ikarus an einem Seil in die Höhe gezogen wird. In der Bilderbuchgestaltung wird an diesem Zeitpunkt bereits zwischen den viertelseitigen Panels, Einzel und Doppelseiten gewechselt, werden pluriszenische Bilder mit architektonischen Detailansichten verknüpft. Er landet auf der Plattform der Flaschenzugskonstruktion (wir befinden uns bei Breugel mittlerweile auf Drittelhöhe der rechten Seite des Turmbaus), wird von den Hamsterradmenschen bestaunt und verliert seinen Vogelhut. Die auch im Gemälde gut sichtbare Leiter führt ihn eine Etage höher, die Katze wirkt schon ein wenig ängstlich, doch die Absprunghöhe erscheint noch nicht hoch genug.

Es geht also weiter hinauf – und dabei ins Innere jenes Bereichs, in dem am Gemälde der  Fels zu sehen ist. Hier drinnen in der Höhle haben die draußen herumlungernden Arbeiter ihre Spuren hinterlassen, Backgammon, Spielkarten, Flöten und der ein oder andere Totenschädel kullern im Reich der Ratten herum, die mit Blick auf Eule und Katze für ein weiteres, diesmal kämpferisches Intermezzo sorgen.
Und wieder öffnet sich mit dem Umblättern ein neuer Blick – diesmal auf jenen Innenbereich des Turmes, von dem im Gemälde nur die Außenansicht der roten Torbögen sichtbar wird. Hier oben geht ein Musiker ungestört seinem Lautenspiel nach, singt dem todesmutigen Sturzpiloten im rockigen Stil Mut zu und wird dabei von einem Jungen auf der Trommel begleitet, der keine Aufstiegsmühen gescheut hat, um die Ausstattung des Handwerkers wieder zu komplettieren. Der zieht weiter und trifft kurz bevor er ins Freie trifft auf eine ganz wunderbar inszenierte gescheiterte Existenz. Inmitten von Büchern, Theaterbildern und Requisiten lungert hier ein Leser, den Hamlet-Schädel neben sich. Ein gescheiterter Shakespeare-Darsteller? Ein Anglist der frühen Stunde in seinem Elfenbeinturm? Verwundert blickt der Kopfmensch dem Mann der Tat nach, der noch einmal Katze und Eule tätschelt, bevor er sich zum Absprung bereit macht und – die beiden können gar nicht hinsehen – auch wirklich in die Lüfte abhebt.

Was folgt, ist ein unglaublicher künstlerischer Clou des Illustrators: Die Flugbahn des wagemutigen Wegbereiters lenkt er über die Rückseite des Breugelschen Turmes – über jene Seite, die bereits fertig gestellt ist. Es entsteht ein zum Gemälde spiegelbildliches Szenario, Arnoud Wierstras ganz eigener Turm zu Babel, der sich monumental ins Bild der Küstenstadt fügt.

Mittlerweile wurden wir im KHM wahrscheinlich schon mehrmals gebeten, Saal 10 der Gemäldegalerie zu verlassen, denn man möchte schließen. Macht nix, eine Jahreskarte zahlt sich bei diesen Eintrittspreisen ohnehin aus und der Drang, das Bilderbuch noch einmal und noch einmal in all seinen Details zu erforschen und  mit Pieter Breugels Gemälde parallel zu führen, ist ohnehin unermesslich. (Man könnte dazu natürlich auch den doppelseitigen Abdruck des Gemäldes im Bilderbuch selbst nutzen, aber …) Bis dahin reiht man sich gerne in den feierlichen Tanzkreis, der den Flug-Helden umgibt, wirft einen bangen Blick auf das im Dach eines Hauses gelandete Fluggerät und die zerknautschte Vogelmütze und lässt sich vom Trommlerkind und dem Lautenspieler noch einmal das Lied des Fliegens singen.    


Heidi Lexe

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