Kröte des Monats Juni
2017
Nagel & Kimche 2017. € 18,50.
Flurin Jecker: Lanz
„Warum bist du eigentlich gestern nicht da gewesen? Hey übrigens. Wir haben uns ja noch gar nicht hallo gesagt. Ich bin Lanz und du?” Das leierte ich alles runter, als sie aus dem Zimmer kam. Trotzdem freute es sie glaub, dass ich ihr hallo sagte, auch wenn nur sehr wenig zurückkam: „Anschiss.” Und ich wollte irgendwie lustig sein und sagte: „Geiler Name.” Und sie so: „Was?” − „War ein Witz.” Sie tat sich ein paar Haare hinters Ohr, und ich fragte sie, wie sie in echt hiess. Wahrscheinlich wusste sie, dass ich wusste, dass sie Lynn hiess, aber sie sagte gleich „Lynn”, und zwar nicht irgendwie genervt, sondern, im Gegenteil, mit ihrem ganzen Körper. „Ich bin Lanz. Habe ich ja schon ja gesagt …” Und weil sie dann nur „Okay” sagte, sagte ich halt „Tschüss”, und sie sagte „Tschüss” zurück. Und das tönt für euch jetzt vielleicht, wie wenn mein Versuch in die Hose gegangen wäre. Aber es gibt halt Sachen, die man nicht richtig aufschreiben kann. Nämlich, dass sie eigentlich nicht „Tschüss”, sondern „Tschüüüüss” sagte, mit so einer melodiösen Stimme, und dass sie dann durch den Gang lief und ich irgendwie spürte, dass sie spürte, dass ich ihr nachschaute und sie sich konzentrieren musste, nicht noch mal zurückzuschauen. Fragt nicht, wie ich das merkte, aber ich spürte das hundertprozentig. (S. 36)
Lanz schreibt gerade einen Blog. Nicht freiwillig und am Anfang auch mit großem Widerwillen. Daher ist das erste Kapitel dieses Jugendromans auch mit „Ich wollte Lynn und keinen scheiss Blog” betitelt. Ja, der Schweizer hat „Scheisse” gesagt. Daher gleich eines vorweg: diejenigen, die mit Kraftausdrücken, Fäkalsprache und Jugendjargon auf Kriegsfuß stehen, können die Lektüre an dieser Stelle abbrechen.
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Für alle anderen: der/die Klappentextautor*in verspricht nicht zu viel, wen er/sie schreibt: „Flurin Jeckers humorvoller Erstling [...]” ist „in einer eigenwilligen und wuchtigen, restlos glaubwürdigen Sprache” erzählt. Und noch etwas zur Sprache: auch das Doppel-s in „Scheisse” ist programmatisch. Flurin Jecker setzt nicht nur auf zeitgenössische Jugendsprache, sondern spezifiziert diese durch eine verschriftlichte Form der Schweizer Sprachvarietät (dem Verfasser ist bewusst, dass die Verwendung des Singulars bei „Schweizer Sprachvarietät” nicht korrekt gewählt ist; Beschwerden werden unter beanstandung@sprachpolizei.com entgegengenommen). Von all jenen, denen das „Schweizerische” nicht sympathisch ist, müssen wir uns an diesem Punkt ebenfalls verabschieden.
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Aber wer bitte mag das Schweizer Hochdeutsch nicht? Mit dem Wort „Znüüni“ verdoppelt sich die Köstlichkeit der vormittäglichen Zwischenmahlzeit, unübertroffen charismatisch ist das Wort „Chuchichäschtli“ (dt. kleiner Küchenschrank) und über den poetischen Mehrwert von „Glacé“ [ˈglaˌse] zu „Speiseeis“ muss erst gar nicht „getönt“ (schweiz. prahlen/klingen) werden. Der Schweizer Wortschatz findet in „Lanz“ ebenso Eingang wie die Schweizer Grammatik und somit „hat“ (dt. gibt) es einige sprachliche Unterschiede zu herkömmlichen Jugendbüchern, die den Erzählfluss aber keineswegs unterbrechen. Flurin Jeckers Formulierweise geben zusammen mit der narrativen Struktur des Textes ein hohes Tempo vor und 125 Seiten jugendlicher (Schul-)Alltag sind vorüber, noch bevor man „Aggro“; „Arschloch“ und „Schizo“ sagen konnte. Das verwundert, zumal die außergewöhnliche sowie außergewöhnlich derbe Sprachform immer wieder zu entschleunigten Momenten führt. Man nehme sich kurz Zeit für folgenden Satz:
„Ein Brunnen pisste auf dem Dorfplatz vor sich hin, und eine alte Strassenlaterne war daneben.”
Man ist geneigt von poetischer Fäkaltopographierung zu sprechen und noch mehr über die Reduziertheit, die Lakonie und den Minimalismus zu schwärmen. Doch zu viel Lobhudelei deutet meist auf den individuellen Geschmack des Rezensenten/der Rezensentin hin und die Story sollte ja zumindest kurz angerissen werden.
Lanz ist vierzehn Jahre alt, einziger Sohn geschiedener Eltern, schreibt in der vorsommerlichen Projektwoche einen Blog und er steht auf Lynn. Der anfängliche Schreibfrust wird rasch zur Schreiblust und Lanz reflektiert über die Situation zwischen zwei Wohnungen, Jungfräulichkeit, seinen nervtötenden Projektwochenlehrer und über das Schreiben selbst. Flurin Jecker setzt jedoch nicht auf einfache Lösungen, indem er dem Sich-etwas-von-der-Seele-schreiben eine kathartische Wirkung beimisst. Lanz hat schließlich genug. Er lässt Eltern, Lehrer und Lynn hinter sich und befreit sich durch einen räumlichen Ausbruch, der als Reise in eine glücklichere Zeit, in die Kindheit zu deuten ist:
Der Zug für nach Clavau war seit dem letzten Mal ausgewechselt worden. Vorher war es immer der ultimativste Klapperzug gewesen, in dem man die Fenster runterziehen konnte. Das war immer das Geilste. Vor allem im Winter. Als ich klein war, lehnte ich mich dann raus, und Mam hielt mich an den Füssen, und ich blinzelte so gegen den kalten Wind, dass mir die Tränen kamen und ich fast erstickte. Drin musste ich Luft holen und draussen pfiff der Zug in den Kurven. Mit einem Schlag kam manchmal ein Tunnel, dann war es wie im Krieg, dass, wenn ich schrie, ich den Schrei gar nicht hören konnte und mir Schnee in die Augen flog wie im grössten Schneesturm. Irgendwann spürte ich mein Gesicht nicht mehr: Dann sagte ich Babs [Papa], er solle SOFORT das Fenster zumachen, und ging mit meinem Kopf unter den Pulli von Mam, wo sie die Hand drauflegte, als ob sie schwanger gewesen wäre. Alles kribbelte. Und Babs nervte sich manchmal. Aber sagen tat er nie etwas. Jetzt war es so warm und so ruhig, dass ich fast sofort nach Chur einschlief. (S. 87-88)
Peter Rinnerthaler
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