Kröte des Monats Jänner
2017
Collection Büchergilde 2016. € 22,95.
Mehrdad Zaeri: Telling Time 2017. Kalenderbuch mit 24 Bildern von Mehrdad Zaeri und Marie Wolf
1. Jänner (dt. Januar): Raketenholz im Garten, auf der Straße. Marzipanglücksschweinchen. Vorsätze für ein ganzes Jahr, mit denen man schon nach wenigen Stunden gebrochen hat. Steuererklärung. (Digitaler) Glückwunsch-Spam. Aber es gibt auch Erfreuliches: Das Neujahrskonzert etwa oder ein frischer Kalender. Gibt es überhaupt etwas schöneres als das Aufschlagen eines neuen, eines leeren Kalenders? Vor Monaten hat ihn der/die Lieblingsversicherungsberater*in zugestellt, man hat einen idealen Platz für das so nützliche aber zu diesem Zeitpunkt völlig unbrauchbare Büchlein gefunden und der viele Weißraum vermittelt den Eindruck von zeitlicher Ungebundenheit. Gefühlsmäßig müsste das lateinische Wort “Calendarium” etwas mit Freiheit zu tun haben?! Ganz im Gegenteil! Das Wort Calendarium verwies auf das “Schuldbuch” zur Eintreibung der Zinsen. Das deckt sich aber ohnehin besser mit dem Gefühl, dass wir beim Übertragen der Termine bekommen: Im Grunde ist das Jahr dann schon fast wieder vorbei.
Deshalb empfiehlt die STUBE einen Kalender, der so ästhetisch, der so schön, der so kunstvoll gestaltet ist, dass man nur erquickliche Termine darin verzeichnen möchte. Mehrdad Zaeri hat diesen Kalender vorgelegt. Zwei sogar: “Telling Time” ist als Wandkalender (31,3 x 58,8 cm) und als Kalenderbuch (wesentlich kleiner) mit Lesebändchen in der Collection Büchergilde erschienen. Dass es sich aber nicht um einen konventionellen Terminkoordinator handelt, zeigt sich bereits daran, dass ein Vorwort vorangestellt wird, in dem der Illustrator und Bilderbuchkünstler erläutert, dass es sich um “eine zum Nachdenken anregende Bildergeschichte” handelt. Seine zwölf Bilder des Kalenders berichten von ihm “bekannte(n) Erfahrungen nach unserer (ganze Familie) Flucht aus dem Iran.” Gemeinsam mit Marie Wolf, die ebenso zwölf Bilder beisteuert, beziehen sich die beiden assoziativ auf Zitate aus Martin Bubers Werk “ICH und DU”, das wiederum das menschliche Miteinander lyrisch paraphrasiert.
Durch diese Zusammenhänge entsteht auf jeder Seite ein signifikantes Geflecht aus Illustration, Bildtitel, Buber-Zitat, Monatsname und der Verbindung mit den zuvor- und nachkommenden Illustrationen. In den Monat April setzt Mehrdad Zaeri ein Bild namens “Orupa”. Es zeigt eine in Blau- und Brauntönen gehaltene Hybridfigur - halb Wal, halb Mensch -, die sich bedrohlich und zugleich beschützend über ein Boot voller Menschen beugt, während dieses knapp oberhalb der Schwanzflosse eine scheinbar sichere Position eingenommen hat. Im Buber-Zitat heißt es: “Drei sind die Sphären, in denen sich / die Welt der Beziehung errichtet. / Die erste: das Leben in der Natur / Die zweite: das Leben mit den Menschen / Die dritte: das Leben mit den geistigen Weisheiten." Auf der zweiten Aprilseite folgt Marie Wolfs Illustration mit dem Titel. “Ankommen”. Hier sitzt ein überdimensionales Gürteltier-ähnliches Wesen mit angezogenen Beinen und retro-chiquer Kleidung auf einer Wiese. Es wird flankiert von drei kleineren, in schwarz-weiß-gehaltenen Menschen, die durch Gestik und Körperhaltung Dankbarkeit ausstrahlen. Im Hintergrund ist ein im Bau befindliches Haus angedeutet, die Farben des Bildes vermitteln Wärme und Bubers Zitat lautet: “Das DU begegnet mir von Gnaden - durch Suchen wird es nicht gefunden.”
Wie im Vorwort angemerkt wird, regt die Lektüre “zum Nachdenken” an und man kann dieses Buch, obwohl es im Grunde als Kalender über den Ladentisch geht, als zusammenhängende "Bildergeschichte" verstehen. Möglich wird dies durch den Assoziations- und Interpretationsspielraum, den die Künstlerin und der Künstler für die Betrachter*innen bereitstellen. Der Vergleich mit zeitgenössischen, illustrierten Lyrikanthologien liegt wohl nahe. Auch hier gehen die bedeutungsstiftenden Verbindungen nicht nur aus dem Bild-Text-Verhältnis hervor, sondern auch durch das Zusammenkommen von unterschiedlichen Illustrationsprogrammen.
Marie Wolf verweist auf das menschliche Miteinander durch den Verfremdungseffekt antropomorphisierter Tiere in Straßenkleidung und greift damit auf ein Stilmittel zurück, dass auch in der TV-Serie “Bojack Horseman” seit über drei Staffeln glänzend funktioniert: Erst durch die Transferleistung, der menschliches Verhalten aus der Domäne des Menschlichen verschiebt, wird menschliches Verhalten auffälliger, klarer, fokussierter und erkennbarer.
Dies steht in Verbindung mit Mehrdad Zaeris Zeichenprogramm, das weit weniger kohärent und deshalb umso ausdifferenzierter mit dem menschlichen Miteinander umgeht. Mit jedem Umblättern, mit jedem neuen Monat warten unterschiedliche Stile, Techniken und Motive auf die Betrachter*innen. Zudem reduziert Zaeri den Bildhintergrund auf ein Minimum - er ist weiß oder andersfarbig monochrom -, wodurch die volle Konzentration auf den Figuren liegt. Ganzseitig illustriert, angeschnitten, in eine Panelstruktur eingebettet oder leicht aus dem Bildmittelpunkt gerückt werden seine Figuren kunstvoll in Szene gesetzt. So berichtet der Illustrator, bildkräftig davon, was Martin Buber in Worten auszudrücken vermag: “Im Anfang ist die Beziehung.”
Da dieses Jahr bekannterweise, beinahe schon wieder vorbei ist, können wir uns schon auf die Verheißung eines neuen leeren Kalenders freuen. Mehrdad Zaeri hat diesen bereits gestaltet. Mit “Two of us” (2018) wird die Kalender-Trilogie vollendet; im Jahr 2016 ist bereits “Let’s talk” in der Collection Büchergilde erschienen.
Mehrdad Zaeri gestaltet jedoch nicht nur kunstvolle Kalender, sondern auch großartige Bilderbücher. Über sein Bilderbuchwerk, seine Biographie, seine Techniken, und vieles mehr wird er im Rahmen des >>>STUBE-Freitags am 13. Jänner 2017 berichten. UND: er wird live zeichnen. UND: er wird dabei von einer STUBE-Musik-Kombo begleitet. Also: Kalender kaufen, Termin eintragen, vorbeikommen!
Peter Rinnerthaler
>>> hier geht es zurück zu den Kröten 2017