Aus dem Amerik. v. Jessika Komina und Sandra Knuffinke.
Dressler 2016. 256 Seiten. € 13,40.

Kenneth Oppel/Jon Klassen: Das Nest

Die Biene Maja ist eigentlich eine Wespe (schließlich ist sie, zumindest in der Zeichentrickserie, gelb-braun gestreift, was Bienen nicht sind) – genau genommen aber auch nicht (hat sie doch nur ein paar Flügel): Diese aufrüttelnde Klarstellung findet sich in der Enzyklopädie der populären Irrtümer auf Wikibooks. Abgesehen davon, dass hier wie so oft die literarische Vorlage, Waldemar Bonsels Buch aus dem Jahr 1912, völlig außen vor gelassen wird, wird eine deutliche Zuschreibung klar: Bienen sind irgendwie sympathisch, Wespen eher nicht.

Auch der Ich-Erzähler von Kenneth Oppels neuem Kinderroman hat vor Wespen Angst – und doch beginnt der Text mit dem Satz: „Als ich sie zum ersten Mal sah, hielt ich sie für Engel.“ Engels-gleich ist auch, was jene Gestalt, die ihm im Traum erscheint, zu ihm sagt: „,Wir sind wegen des Babys gekommen.´, sagte sie. ,Wir sind hier, um zu helfen.‘“ Und Hilfe hat diese Familie bitter nötig: Denn keiner der Ärzte weiß, was mit dem neugeborenen Geschwisterkind (vom Ich-Erzähler lange nur „das Baby“ genannt) eigentlich los ist, ob es Heilung gibt, ob es überhaupt überleben wird. Ich-Erzähler Steven wird von einer Wespe aus dem Nest im Garten der Familie gestochen, reagiert allergisch darauf – und erkennt schließlich, dass jenes geflügelte Wesen, das ihm im Traum Hilfe angeboten hat, niemand anderer ist als die Wespenkönigin selbst. Doch ihre Hilfe hat einen hohen Preis: Nach und nach stellt sich heraus, dass sie keineswegs Heilung für das kranke Baby versprochen hat, sondern vielmehr in ihrem Nest mit Stevens DNA, die sie sich durch den Stich besorgt hat, ein neues, gesundes, „normales“ Baby züchtet. In den Gesprächen, die sie mit Steven führt, klingen sehr substantielle Fragen an, die (ob intendiert oder nicht) große Nähe zu höchst aktuellen medizinethischen Fragestellungen rund um Pränataldiagnostik und Fertilitätsmedizin haben…

Der kanadische Autor, der sich bisher vor allem in den Bereichen von Phantastik und Science Fiction einen Namen gemacht hat, berichtet auf seinem Blog jedenfalls davon, dass er für dieses Buch viel Material aus seinen eigenen Alpträumen geschöpft hat: "I’d been writing notes and bits of scenes for THE NEST for ten years, without being able to figure out the characters and story properly. But it kept pulling me back, insistent as a recurring dream. And when it suddenly made sense to me, when it finally came, the novel poured out of me in just six weeks, scene after scene, with the intensity of the best nightmares.” (http://kennethoppel.blogspot.co.at/)

Sowohl der Handlungsverlauf als auch der Illustrationsstil erinnern an “Sieben Minuten nach Mitternacht” von Patrick Ness und Jim Kay – auch hier befindet sich eine Familie in einer existentiell bedrohlichen Situation, auch hier lässt das Chan-gieren zwischen real-fiktionaler und phantastischer Ebene in Bild und Text viel Raum für eigene Assoziationen. Sein Talent für das Spiel mit Hell und Dunkel hat Illustrator Jon Klassen schon mehrfach bewiesen – in seiner Darstellung von Details aus dem Familienalltag, aber auch der Wespen fügt er der Bedrohlichkeit des Textes noch andere Nuancen hinzu. Anschaulich spürbar wird dieser Horror auch im Buchtrailer des amerikanischen Verlags: Im Verlauf der Geschichte wird nach und nach offen gelegt, dass Steven es auch vor der Geburt des Babys nicht leicht hatte – und in der Konfrontation mit der Wespenkönigin, die eines Tages kommt um das neue, normale Baby gegen das „Mängelexemplar“ auszutauschen, muss er über sich und seine Ängste hinauswachsen.

Kathrin Wexberg

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