Kröte des Monats Oktober 2014
Aus dem Franz. v. Tobias Scheffel.
Moritz 2014.
48 S., € 18,50.
Chen Jianghong: Der kleine Fischer Tong
Ein Bilderbuch – Vier Lesarten
Der kleine Fischer Tong und ein Toter
von Heidi Lexe
In beinahe allen seinen Bilderbüchern lässt der aus China stammende, und seit vielen Jahren in Paris lebende Illustrator Chen Jianghong den Charakter alter Erzählungen mitschwingen, den Charakter von – wenn man so will – alten Mythen. So auch hier, wenn er den kleinen Fischer auf große Fahrt und damit in eine Welt jenseits des Realen schickt; oder sogar wortwörtlich ins Jenseits?
Aber der Reihe nach: Chen Jianghong führt vorerst bildlich in eine von Hochhäusern bestimmte Stadt und lässt nur an deren Peripherie eine Bambushütte erkennen. Hier, an der Schwelle zum Meer – und auch mit dem und durch das Meer – lebt der kleine Tong. Der eines Tages zum Fischen aufbricht, obwohl gewaltige Wolken sich am Horizont ballen.
Tong erinnerte sich, was sein Vater immer gesagt hatte.
„Man darf nie aufs Meer hinaus, wenn die Wolken schwarz wie Ruß sind und die Vögel ans Ufer flüchten.“
Es gehört zu den unausgesprochenen Grundsätzen des Erwachsenwerdens, sich nicht an den Ratschlägen der Väter zu orientieren. Auch dann nicht, wenn diese abwesend oder entschwunden sind, vielleicht gar nicht mehr leben, ja vielleicht sogar selbst draußen am Meer geblieben sind. Dieserart lässt sich erklären, dass Tong dennoch auf Fischfang geht, und naturgemäß in einen entsetzlichen Seesturm gerät; bis eine Riesenwelle über ihm zusammenbricht und Tong die Augen schließt.
Jenem Moment, in dem Tong die Augen wieder öffnet (und Chen Jianghong einen scheinbaren Genrewechsel hin zum Horror vornimmt), folgt mit dem Umblättern der dramaturgische Höhepunkt des Bilderbuches: Die Fratze eines Skeletts breitet sich über die gesamte Seite (und darüber) aus und zeigt an: Tong ist in einer Welt der Untoten gelandet. Der „andere“ Tote, der scheinbar schon länger in dieser Zwischenwelt weilt, krallt sich – wie auch Tong – an das kleine Boot und damit ans Leben. Nach dramatischen Szenen landen beide an Land: Tong ohnmächtig vor Entsetzen und das Skelett scheinbar in rasendem Furor.
Es bleibt unklar, ob man sich am ursprünglichen Strand oder in einer Art Parallelwelt befindet. Denn ab hier entwickelt Chen Jianghong eine Geschichte der gegenseitigen Erlösung und des heil Werdens: Vorerst übernimmt das Skelett, das seinen eigenen Anblick nicht ertragen kann, die Fürsorge für den ängstlichen, zitternden Tong; zu neuen Kräften gekommen nimmt der kleine Fischer sich des skelettösen Jammerbilds an und kümmert sich um den (die) an sich selbst Leidende(n). Dieserart gelangen beider zu neuer Kraft, ja sogar zu neuem Leben, denn durch reichlich gegrillten Fisch und Suppe – offeriert von jenem, der selbst kaum etwas hat – erlangt das Skelett sein menschliches (männliches) Äußeres zurück.
Kann das Leben der beiden, die nun wie Vater und Sohn, wie Schüler und Meister erscheinen, von dieser Welt sein? Viel eher scheint das fürsorgliche aneinander Handeln die Voraussetzung dafür zu sein, sich aus der Welt der Untoten zu befreien und in jene der Toten zu gelangen: Die beiden breiten ihre Biografien voreinander aus und durchsegeln miteinander eine schmale, dunkle Passage. Ganz ihrem eigenen Person Sein verpflichtet und in Beziehung zueinander stehend, finden sie dahinter die Fülle des (ewigen) Lebens: Ein Netz, in dem die farbenprächtigsten aller Fische sich verfangen haben; und das wohl niemand anderer ausgeworfen haben kann, als ein wahrer Menschenfischer.
Der kleine Fischer Tong und der Tod
von Simone Weiss
Der personifizierte Tod, der seine Opfer abholt, hat in Wien Tradition – man denke an das Musical „Elisabeth“ oder Ludwig Hirschs bekanntes Lied „Großer schwarzer Vogel“.
Fischer Tong ist zwar kein Wiener, aber auch er sucht die Begegnung mit dem dunklen Verführer: Trotz Warnung fährt er hinaus aufs Meer, und der Kampf mit den Fischen wird zum Kampf ums Überleben. Hilflos den Elementen ausgesetzt und am Ende seiner Kräfte, sieht der Fischer schließlich den Tod vor sich. Er will Tong in die Fluten ziehen, ins nasse Grab ungezählter Fischer, die ihn herausgefordert haben. Urangst verleiht Tong neue Kräfte: Er stößt das Skelett von Bord und flieht an den Strand. Der Tod begleitet ihn. Er weiß, dass er gewinnt – der Kampf gegen das Unwetter hat den kleinen Fischer zu sehr erschöpft. Dem Tod ins Auge sehen und davon berichten können heißt nicht, ihm entkommen zu sein. Ohnmächtig bricht der Junge zusammen, als er den Verfolger sieht. Auch er weiß jetzt um sein Schicksal. Das Skelett hat Mitleid – eine beliebte Eigenschaft des personifizierten Todes – und trägt Tong in sein Bett, zündet noch einmal die (Lebens-?)Kerze an. Wie viele Kinder hat er schon mitgenommen, Leben, die, das spürt er wohl, noch nicht hätten enden sollen?
Letzten Endes erlösen sie sich wohl gegenseitig: Tong akzeptiert das Ende und nimmt den Tod als Gast an. Das Skelett darf sich seiner Schreckensgestalt entledigen und zum Fischer werden, dem das Kind furchtlos ins Himmelsmeer folgt.
Der kleine Fischer Tong und sein Tod
von Christina Ulm
Einen großen Brocken hat der kleine Fischer Tong an der Angel, etwas einzigartig Großes – aber keinen Fisch. Denn erst nachdem Tong die Angel ausgeworfen und tatsächlich etwas gefangen hat, bricht der Sturm los und verfolgt man Tongs Angelschnur aufmerksam, zeigt sich, dass er sein Schicksal an der Angel hat. Das man auch als seinen ganz persönlichen Tod lesen kann: „Plötzlich brach eine Riesenwelle über ihm zusammen und Tong schloss die Augen. Als er sie wieder öffnen konnte, stieß er einen entsetzlichen Schrei aus.“ An dieser Bruchstelle (des Lebens) visualisiert Chen Jianghong das Skelett aus dem Meer über fast eine Seite gebreitet – in einem zweiten Panel zeigt sich eine feine (Angel-)Schnur zwischen ihm und Tong. Hat der kleine Fischer seinen eigenen Tod gesucht, als aufs Meer gefahren ist gegen die Warnung seines Vaters? Eine mögliche Lesart, die auch die Frage aufwirft: Wer verfolgt hier wen? Deutet man alles, was danach kommt als Jenseits, kann die Fischerhütte als jene Zwischenzeit verstanden werden, in der das eigene tote Dasein, das Chen Jianghong im Skelett konkretisiert, erst akzeptiert werden muss. Der Künstler wählt hier repetitive Momente: wie Tong erschrickt auch das Skelett vor sich selbst, als es sich im Spiegel erkennt, beide decken einander zu. Der Versöhnung schließlich ist eine ganze Doppelseite gewidmet und im Gegensatz zu den graublauen Meeresbildern in tiefes Rot getönt. Erst jetzt offenbart das Skelett sein Wesen als Fischer, als vollendete Zukunft von Tong. Im christlichen Glauben ist das Jenseits zeitlos, in ihm sind wir nicht nur das, was wir waren, sondern auch das, was wir werden können. Erst in Versöhnung zwischen diesen Möglichkeiten kann Himmel passieren. Die dortige Fülle des Lebens deutet sich hier als übervolles Fischernetz, der endlich friedlichen See und der Aussicht jemanden „immer an deiner Seite“ zu haben.
Der kleine Fischer Tong und kein Tod
von Kathrin Wexberg
Während in den bisherigen Beiträgen verschiedenste Lesarten des Bilderbuches rund um den Tod ausgelotet wurden (wie es ja in einem Buch, dessen zentrale Hauptfigur neben dem titelgebenden Kind ein Skelett ist, durchaus naheliegend ist…) soll abschließend eine ganz andere Interpretationsvariante zur Diskussion gestellt werden, die weniger an mythische Traditionen rund um die Figur des Todes und mehr an das märchenhafte Motiv der Erlösung anknüpft. Jemand, der tot war, wird durch einen Kuss wieder zum Leben erweckt – so kennen wir es aus Schneewittchen, ein von den Brüdern Grimm bekannt gemachtes Volksmärchen, das in den letzten Jahren in zahlreichen Bilderbuchvarianten inszeniert wurde. Jemand, der böse und hässlich ist, wird durch die Kraft der Liebe in seine menschliche Gestalt zurück verwandelt – so geschieht es in „Die Schöne und das Biest“, einem französischen Märchen, das in der Disneyversion ungemein populär ist und erst kürzlich in einer Verfilmung mit Vincent Cassel und Léa Seydoux im Kino zu sehen war. Und ganz in dieser märchenhaften Tradition könnte ja auch das Geschehen in der „Der kleine Fischer Tong“ gelesen werden: Das Skelett (denn ob es tatsächlich der Tod oder ein Toter ist, wird ja im Text nicht verraten) wird durch das Mitgefühl und die konkrete Hilfestellung des kleinen Tong in seine menschliche Gestalt zurück verwandelt – und dadurch erlöst. Die Ausfahrt, die die beiden anschließend machen, wäre dann in diesem Sinne keine Reise ins Jenseits oder in eine magische Zwischenwelt, sondern vielmehr in die Fülle des Lebens.
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