Kröte des Monats November
2013
Fischer 2013.
224 S., € 17,50.
Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop
Als Gestalterin zahlreicher humorvoll-kantiger Kinderbuch-Illustrationen (z.B. zu Büchern von Kirsten Boie) ist die Hamburger Illustratorin seit vielen Jahren breit bekannt. Nun jedoch lässt Regina Kehn sich auf ein ganz außergewöhnliches Buch-Projekt ein: auf die bildliche Transformation weltliterarischer Miniaturen. Von Daniil Charms bis Friederike Mayröcker, von Theodor Storm bis Rose Ausländer wählt sie sich Lyrik und Kürzestprosa und patchworkt ihre eigenen künstlerischen Wahrnehmungen dieser Texte zu einem literarischen Kaleidoskop. Mit jedem Drehen der Linse erprobt sie dabei ein ganz neuen Stil, wobei sie sich die Texte wortwörtlich aneignet und mit Pinsel oder Bleistift über die Seiten breitet, sie druckt oder stempelt, großzügig aquarelliert, verschoben oder exakt ausgerichtet, in Sprachblasen eines Comic oder verschwindend hell.
„Ach“, sagte die Maus (in Franz Kafkas kleiner Fabel), „die Welt wird enger mit jedem Tag“. Mag sein. Regina Kehns künstlerische Welt hingegen weitet sich zu einer Form der wortwörtlichen künstlerisch-experimentellen Auseinandersetzung mit Texten, die herrlich frischen Wind in die Welt- ebenso wie in die Jugendliteratur bringt und Leser*innen auf ganz neue Weise herausfordert.
Im Sinne eines Kaleidoskops haben die Mitarbeiter*innen der STUBE ihr je liebstes Stück des Buches einer genaueren Betrachtung unterzogen:
Die Platzierung des Gedichts von Georg Heym entbehrt nicht einer gewissen Tragik: Es folgt auf Christian Morgensterns „Der Seufzer“ und erinnert an den Tod des damals erst 25jährigen Dichters im Jänner 1912, der beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ertrank. Die verdichtete Kraft eines so kurzen Lebens zeigt sich folgerichtig auch im von Regina Kehn ausgewählten Gedicht des Expressionisten. Dem suggestiven Rhythmus von „Die gefangenen Tiere“ geht die Illustratorin in der Aufeinanderfolge der Bilder nach, wobei Dunkelheit, Gebrüll und Schrecken sich auch illustratorisch immer deutlicher verdichten. Einer Höhlenzeichnung gleich taucht auf der ersten Doppelseite das mit schweren Fellen behangene Tier mit den riesigen Hörnern auf – wobei der Text in dunklem Rot über die bedrückend schlammig wirkende Szenerie drübergestempelt wird. Die Unregelmäßigkeit der Buchstabenanordnung nimmt die drohende Auflösung bereits vorweg, wenn sich im Folgenden auch das Bild vor Gitterstäben aufzulösen scheint und letztlich durch eine Übermalung mit handschriftlichen Schrift-Versuchen ganz in den Hintergrund tritt. Das Gebrüll wird aus dem Schatten heraus spürbar – und hallt auch dann nach, wenn es heißt: „Es erstirbt und wird still.“ „Entsetzen und riesiger Schrecken“ bleiben präsent, wenn im letzten Doppelbild geisterhaft Reiher auftauchen. Als weiße Kreidezeichnungen auf gleichbleibend indifferent-bedrohlichen Hintergrund personifizieren sie förmlich das „Weinen im Sturm“ von dem Georg Heym spricht. Indem Bild und Schrift sich in Regina Kehns bildlicher Aneignung des Gedichtes so gespenstisch überlagen, entsteht im Zusammenspiel von Bild- und Textwirkung auch eine Überlagerung des Schreckens und des Begreifens. Die Klarheit über den Todeskampf, der hier inszeniert wird, wird ganz auf die Betrachter*innen zurückgeworfen, die wie die Reiher stehen „im Sturme allein“. Tief betroffen und fasziniert gleichermaßen.
Heidi Lexe
In der (Kinder-)literatur sind Fische und Wasser ja eher positiv besetzte Motive – umso überraschender ist es, wie sich das lyrische Ich in Günter Eichs spätem Gedicht „Wo ich wohne“ von dem paradoxerweise am Fenster vorbeiziehenden Heringsschwarm, viel mehr aber noch von den um Feuer für ihren schlechten Tabak bittenden Matrosen „unterschiedlicher Ränge“ genervt zeigt. Die Leitfarbe von Regina Kehns visueller Interpretation dieses kurzen, sehr skurrilen Textes ist, wie könnte es anders sein, ein wässriges Blau, in das knallrote bzw. lachsrosa Akzente gesetzt werden – ein rotweißrot-gestreifter Sessel (eine Anspielung an Eichs österreichische Ehefrau Ilse Aichinger?), ein Traktor, mit dem der erboste Kampf gegen die Fische aufgenommen wird und schließlich eine Zeitungsseite mit Marktforschungsdaten, von der das Ich aufschaut. Eichs Schlusssatz „Ich will ausziehen“ wird von Kehn energisch unterstrichen: So wird ein letztes Mal deutlich, dass Fische und Wasser hier nicht als Sinnbild von Fernweh und Sehnsucht, sondern als Ausdruck von Überdruß und Unzufriedenheit stehen. Eine Stimmung, die auch vor den Fischen selbst nicht Halt macht, die mitten im Wasser ihren schlechten Tabak rauchend auch nicht gerade glücklich dreinschauen…
Kathrin Wexberg
Regina Kehn beweist auch in der Illustration des deutschen Kindergedichtes „Der Garten des Herrn Ming“ von James Krüss einmal mehr ihre malerische Flexibilität. Getreu dem Zeichenstil der chinesischen Kunst rücken Atmosphäre und Wesen in den Vordergrund der Bilder; Realismus und Perspektive müssen in den rot geränderten, monochromen Illustrationen zurückstehen. Bewegungslinien z.B. im Teich und viel Mimik und Gestik sowohl bei Mensch als auch Fauna und Flora beleben die Kinderreime. Tuscheartige Embleme und dem westeuropäischen Auge bekannte Elemente, wie z.B. Maneki-neko (die winkende Katze), ein Kranich oder die Kirschblüte sorgen für eine schnelle stilistische Bildzuordnung. Und dem als ewig und unbefriedigend beschriebenen Kreislauf der Liebe bereitet Kehn – ganz im Stile chinesischer Kalenderblätter – auf der Bildebene kontrapunktisch augenzwinkernd und in Gestalt zweier sich küssender Würmer ein schönes Ende …
Elisabeth von Leon
Erzählungen, Alkohol und Zensur scheinen in Russlands Geschichte eng miteinander verbunden zu sein. Im Jahr 2012 wurde die sowjetische Trickfilmserie „Nu, pogodi!“ (dt. Titel „Hase und Wolf“, ins dt. übersetzt „Na warte!“) mit der Kennzeichnung „jugendgefährdender Inhalt“ versehen, da der Antagonist des Hasen ein kettenrauchender und dem Alkohol nicht abgeneigter Wolf laut staatlicher Medienaufsicht (nach 43 Jahren Sendezeit) doch besser ins Nachtprogramm passe.
In der Kurzgeschichte „Fuchs und Hase“ von Daniil Charms stellt Regina Kehn allerdings den Hasen in die Motivtradition der hochprozentigen Figurenzeichnung. Nachdem er von seiner Verlobten verlassen wird, heißt es: „Graublum (Nachname des Hasen), über Stein und Stoppeln, sieht man flugs zum Fuchsbau hoppeln.“ Auf der Bildebene wird der Hase in zwei Panels – Regina Kehn illustriert in Comicform und vielfärbig – mit insgesamt sieben Flaschen dunklem Destillat ins Bild gesetzt. Die Erzählung bzw. das Märchen, da mit „Es waren einmal 2 Freunde …“ beginnend, war die letzte Publikation des russischen Autors (1905 – 1942), da seitens der sowjetischen Rechtsmedizin konstatiert wurde: Charms „gibt absonderliche Vorstellungen von sich.“ Als abstrus empfindet es auch der Fuchs, als der befreundete Hase nächtens betrunken eingelassen werden möchte und quittiert dies mit: „Weisst du nicht wie spät es ist? Geh nach Hause, Terrorist!“
Das inszenierte Hin und Her zwischen Fuchs und Hase, Ausgrenzung und Eingrenzung, Innen- und Außenräumen, Handlungsbeschreibung und direkter Rede unterscheidet diese Erzählung im literarischen Kaleidoskop Regina Kehns von den anderen Texten (meist Lyrik), die in ihrer Erzählweise Text und Bild betreffend wesentlich offener realisiert werden. Schließlich bilden das erste und das letzte Bild den Rahmen der prekären Freundschaftsgeschichte. Während zu Beginn die Häuser der Figuren mit ihren Namen überschrieben werden, stehen am Ende je eine dunkle Wolke über den Dächern und der Satz: „Dicke Freunde warn die beiden! Konnten sich nun nicht mehr leiden.“
Peter Rinnerthaler
Oberflächlichen Konnotationen zum „Meeresstrand“ erteilt schon die textliche Vorlage von Theodor Storm eine Absage: Keinen lichtüberfluteten Sandstrand skizziert er mit wenigen Versen, sondern den „gärenden Schlamm“ des Wattenmeers: „An´s Haff nun fliegt die Möwe, Und Dämm´rung bricht herein, Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein.“ Storms Biografie und entsprechende Textsignale lassen eine Deutung des Schauplatzes als deutsche Nordseeküste zu und die Inseln, die im „Nebel auf dem Meer“ liegen, verweisen wohl auf die Haligen, die Storms Heimatstadt Husum vorgelagert sind. Regina Kehn – selbst Norddeutsche aus Hamburg – radikalisiert die Stimmung noch: Der Abendschein ist auf ein Fünkchen Gelb im Grau reduziert, zarte hellblaue und weiße Striche verschwinden zunehmend in der graubraun aquarellierten Ebbe. Die Zeitlosigkeit von Storms Naturbetrachtung bricht Regina Kehn, indem sie in die zurückgenommene Landschaftsdarstellung die für den Nordseestrand so typischen weißen Windräder stellt. Ein figuraler Akzent, dem sich die Bilder, ebenso wie allen Konturen aber zunehmend verweigern. Der Text ist mit wässriger Tusche und geschwungener Schrift in die halbnasse Farbe gepinselt und mit jeder Verszeile und jedem Umblättern wird auch die Küstenlinie blasser. Mit dem Verschwinden visueller Impulse hinein in ein wässriges Nichts greifen die Illustrationen die Verschiebungen des Textes auf: Vom Sehen, zum Hören, zum Ahnen des Meeresstrands. „Noch einmal schauert leise Und schweigt dann der Wind; vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.“
Christina Ulm