Kröte des Monats Juli
2008
Mit Bildern von Stefanie Harjes
Tulipan 2008
196 S.,
€ 15,40
Annette Mierswa / Stefanie Harjes: Lola auf der Erbse
„Es gab genug Gründe, sich über Lola lustig zu machen, denn sie war einfach anders als die anderen.“ Denn Lola hat rosarote Haare, ist deutlich zu klein für ihr Alter, hat bis auf den alten Fischer Somsen keine Freund*innen und wohnt mit ihrer Mutter auf der „Erbse“, einem mit Blumen übersäten Hausboot. Doch zu alledem prangt seit drei Jahren auf ihrem Hals ein dunkler Fleck. Denn dies ist ihre Erinnerung an den letzten Kuss ihres Vaters, bevor er die Familie plötzlich und für Lola unverständlich verließ.
Die Handlung des Debütromans der Dramaturgin Annette Mierswa bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Aufbruch, Reise und Erwartung der Rückkehr: Während Lola täglich in Gedanken mit ihrem Vater spricht und auf das Wiedersehen mit ihm wartet, blickt der alte Somsen gemeinsam mit ihr auf den Fluss und hält Ausschau nach seinem schon vor langer Zeit versunkenen Kutter. Beide müssen sich mit der Erfahrung des Verlusts eines wichtigen Teils ihres Lebens auseinandersetzen. Bildhaft ist dabei das am Flussufer vertäute Hausboot von Lola und ihrer Mutter: Indem die Tochter sich ständig die Präsenz ihres Vaters in Gedanken herstellt und an der Hoffnung seiner Rückkehr festhält, bleibt sie in ihrer persönlichen Entwicklung gehemmt – ist deutlich zu klein für ihr Alter. Als dann ihre Mutter einen neuen Lebensgefährten hat, setzt Lola alle Hebel in Bewegung, um die beiden auseinanderzubringen und die eigene aufkeimende Sympathie für den jungen Tierarzt durch Trotz und Sturheit zu unterdrücken.
Dem lange Zeit vergeblichen Bemühen um Akzeptanz und Freundschaft begegnet die 8-jährige Protagonistin selbst im Fall ihres stillen Schulkameraden Pelle. Nachdem die ersten Annäherungsversuche fehlgeschlagen sind, findet Lola den Grund für dessen Zurückgezogenheit heraus: Pelle, der eigentlich Rêbin heißt, ist kurdischer Abstammung und gemeinsam mit seiner Familie illegal eingereist. Die zuerst aus Vorsicht und Misstrauen abgeblockte Freundschaft wandelt sich in eine Annäherung zwischen den beiden Kindern, die von stückweise zunehmendem Vertrauen geprägt ist. Durch diese Erfahrung ist es Lola am Ende möglich, den neuen Lebensgefährten ihrer Mutter anzunehmen und sich gedanklich und emotional immer mehr von ihrem Vater zu lösen.
So schließt sich am Ende der metaphorische Kreis aus Aufbruch, Reise und Heimkehr: Zu Lolas neuntem Geburtstag besteigen alle Beteiligten ein Boot und brechen zu einer Schifftour über den Fluss auf. Es ist die erste Reise mit Wiederkehr im Text und damit für Lola die erste Erfahrung, dass ein Fortgehen und Weiterentwickeln nicht mit einem Verlust verbunden sein muss.
Der mit einer Portion schönem Anachronismus verfasste Text wird begleitet von den Illustrationen der ebenfalls in Hamburg lebenden Stefanie Harjes, die hier zum ersten Mal in einem Kinder- und Jugendbuch in Schwarz-Weiß zeichnet und collagiert. In ihren Bildern nimmt sie vor allem die Blumenbegeisterung der Mutter und das Motiv des Wassers auf und legt, aus ihren früheren Arbeiten bereits bekannt, besonderen Wert auf die Kleidung der Figuren. Besonders eindrucksvoll dabei die halbseitige Illustration Lolas, die sie – während ihrer Phase der nachhaltigen Abwehr des neuen Lebensgefährten der Mutter – in einem überdimensionalen Blumentopf stehend mit verschränkten Armen und scharfen Dornen an ihrem Kleid zeigt. Stefanie Harjes arbeitet assoziativ zum Inhalt des Textes und bietet somit in ihren Bildern eine Interpretationshilfe des Geschehens an.
Bild und Text verschränken sich zu einer Geschichte, die viel mehr beinhaltet als die Nachwirkungen einer elterlichen Trennung. Es geht um die kindliche Suche nach emotionalen und faktischen Sicherheiten im Leben und der Angst, einen Schritt aus dem gewohnten (Lebens-)Raum zu tun.
Lukas Bärwald
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