Flucht und Migration als Themen der KJL
Aus den Jahren 2019 bis 2021
Dirk Reinhard: Über die Berge und über das Meer
Zweiperspektivisch folgt der Leser / die Leserin in diesem Flucht-Roman zwei jugendlichen Figuren, deren Wege sich immer wieder kreuzen. Der Grund für ihre Flucht: die Taliban in Afghanistan. Soraya wurde als siebte Tochter in einem kleinen Dorf geboren, wurde als Junge großgezogen, der alle Privilegien des „richtigen“ Geschlechts genießen darf: Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum oder Schulbesuch anstelle der Gefangenschaft hinter den eigenen Hausmauern, was mit 14 Jahren abrupt endet. Tarek wächst als Sohn eines einfachen Schafhirten im Volk der Kuchi auf. Jeden Frühling zieht sein Volk an Sorayas Dorf vorbei, wo Tarek wundervolle Geschichten zum Besten gibt. Aufgrund der politischen Lage und der zunehmenden Bedrohung der Taliban soll in diesem Frühling alles anders kommen, und die beiden machen sich unabhängig voneinander auf in die Türkei bzw. nach Deutschland. Ein atomsphärischer Roman, der in eine womöglich noch immer völlig unbekannte Welt führt und eindrücklich zeigt, dass man die Natur lieben, sie einem zugleich aber auch das Leben nehmen kann. Dass Zivilisation, fließendes Wasser und Elektrizität keineswegs die Norm darstellen müssen und bereits starre, aus Beton gebaute Gebäude oder Straßen fremdartig erscheinen können. Eine Erzählung, die von den Herausforderungen fremder Sprachen sowie Kulturen ebenso berichtet, wie von der Überzeugung, an den eigenen Träumen festzuhalten, auch wenn man nicht mehr damit gerechnet hätte, dass sich man sich letztendlich in einem weit entfernten Gebiet namens Deutschland wiedersehen könnte.
Gerstenberg 2019.
272 S.
Alyssa Hollingsworth: 1x Pech und 11x Glück
Die Rubab, ein afghanisches Saiteninstrument, ist der einzige Gegenstand, der die Flucht aus Afghanistan nach Boston überlebt hat. Dabei ist sie nicht nur ein Stück Zuhause und Erinnerung, sondern zugleich auch Zukunft. Sie stellt die einzige Möglichkeit für Samis Großvater dar, etwas Geld zu verdienen, wenn er die Menschen in einer U-Bahnstation mit seiner Musik erfreut. Als dieses, für die beiden so kostbare Instrument gestohlen wird, setzt der 12-jährige Protagonist alle Hebel in Bewegung, um sie wieder zu bekommen und damit der immer düster werdenden Stimmung des Großvaters entgegen zu wirken. Sami lebt mit seinem Großvater, den er liebevoll Baba nennt allein; dass er den Rest seiner Familie bei einem Anschlag verloren hat, dem er selbst nur knapp entkommen ist, erschließt sich für die Leser*innen erst im Verlauf des Texts.Hier steht weniger die Flucht vor der Taliban an sich, als viel mehr das Ankommen und Zurechtfinden in einer neuen Umgebung im Vordergrund. Mithilfe von ausgeklügelten Tauschgeschäften und neugewonnenen Freund*innen entwirft Hollingsworth einen Text über die Kraft von Zusammenhalt, der integrativen Komponente von Sport und Vergangenheitsbewältigung in besonderem Stil. Dabei ist umso erfreulicher, dass der Islam als friedliche Religion umrissen wird.
Ill v. Cornelia Haas.
Loewe 2019.
352 S.
Alan Gratz: Vor uns das Meer
Drei Jugendliche im Alter zwischen 11 und 13 Jahren begeben sich in drei Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen auf ihre ganz persönliche Flucht aus ihren Heimatländern Deutschland, Kuba und Syrien. Der/die Leser*in folgt in drei voneinander entkoppelten Erzählsträngen: Josef 1938 auf der Flucht vor den Nazis, Isabel 1993 vor den Zuständen in Kuba unter Fidel Castro und Mahoumad 2015 vor dem IS und dem Assad-Regime aus Aleppo. Durch individuelle und der Kultur sowie Religion entsprechender Charakterzüge erhalten die Figuren Tiefe, wenn von sinkenden Schiffen, verwehrten Grenzübertritten, Gewalt und Tod erzählt wird, wobei das Erwachsen werden und das Gefühl von familiärer sowie sozialer Zugehörigkeit und dem Unverständnis für die jeweiligen Täter*innen ein breiter Raum einnehmen. Erfreulich unsentimental zeigt der US-Amerikanische Autor auf, dass Flucht immer schon Thema war und wahrscheinlich leider auch immer sein wird.
In einem ausführlichen Nachwort werden die politischen und historischen Gegebenheiten für junge Leser*innen aufgedröselt und mithilfe von Karten die Fluchtrouten nachgezeichnet. An dessen Seite werden ganz konkrete Dinge, die man selbst tun kann, um Flüchtlingen zu helfen, gestellt.
Aus d. Engl. v. Meritxell Janina Piel.
Hanser 2020.
304 S.
Issa Watanabe: Flucht
Dramatische Szenen über Flucht brauchen wenig Worte. In diesem Fall gar keine, wenn sich eine bunt zusammengewürfelte Schar von anthropomorphen Tierwesen auf die Flucht begibt: woher diese kommen und wieso sie auf der Flucht sind, spielt dabei keine Rolle. Die Willkür, warum jemanden ein solches Schicksal ereilen kann, zeigt sich in der Zusammensetzung der Gruppe: selbst die Stärksten (Elefant, Nashorn oder Löwe) sind gegen Entwurzelung und Vertreibung aus ihrer Heimat – wo auch immer diese gelegen haben mag – machtlos. Die aufgerufenen Bilder wirken dadurch umso eindrücklicher: Ein überfülltes Flüchtlingslager, ein Schlauchboot am Meer, das sinkt und schließlich das mit Müh und Not an den Strand retten, nur um zu begreifen, dass es nicht alle Bootsinsass*innen geschafft haben. Die begleitende Hoffnungslosigkeit oder der omnipräsente Tod wird durch ein Totenkopfmännchen dargestellt, dass mal ebenbürtig, mal über sie erhaben mit der Gruppe wandert. In der Reduziertheit des Hintergrunds und der Detailliertheit der gezeigten Szenen wirken die Bilder eindrücklich, bedrückend und zugleich hoffnungsfroh, wenn die Farbe (rosa-)rot als Kontrast zu dem vielen Schwarz zum Einsatz kommt und das Ende der Flucht markiert.
Hanser 2020.
o. S.
Hans-Christian Schmidt / Andreas Német: Eine Wiese für alle
Häufig wird in der Kinder- und Jugendliteratur die Perspektive von flüchtenden Figuren eingenommen. Dieses, von der UNO-Flüchtlingshilfe empfohlene Buch wählt einen anderen Weg: Eine Herde Schafe lebt in scheinbarer Idylle auf einer saftigen Wiese hoch über dem tosenden Meer. Für die Herde ist alles gut – bis aus dem Nichts ein fremdes Schaf in einem löchrigen Boot auftaucht, und die Herde um Hilfe bittet. Der/die Lesende wird dabei direkt angesprochen und eingeladen, sich in die Lage der Schafherde zu versetzen. Ein kollektives „Wir“, als das es im Text auch bezeichnet wird, übernimmt im Text also die Rolle der (Nicht-)Helfenden mit bekannten Ausreden: Hier ist kein Platz; das Gras reicht nicht aus für ein Schaf mehr.
Dieserart schafft das Autor-Illustrator-Duo eine in die Tierwelt versetzte Szenerie, die mitunter ein Abbild der Realität ist. Die Besonderheit ist nicht nur die Perspektivierung der Herde, sondern auch ein möglicher Ausgang der Geschichte: wenn die Schafe im Buch die Augen vor dem vermeintlichen Untergehen des fremden Schafes verschließen, werden auch die Doppelseiten schwarz und appellieren damit auf die Gefahr des „Wegschauens“, wenn Mitmenschen oder -schafe auf Hilfe angewiesen sind.
Klett Kinderbuch 2020.
40 S.
Steve Tasane: Junge ohne Name
Aus der Ich-Perspektive von I, einem 10-jährigen unbegleiteten Minderjährigen, werden einige Wochen in einem Auffanglager geschildert. Auf der Flucht selbst hat er sowohl seine Familie, als auch seine Papiere, sein sogenanntes Lebensbuch verloren. Dieser Umstand, den er mit vielen anderen Kindern im neuen “Zuhause” teilt, führt dazu, dass jene papierlosen Mädchen und Jungen auf den Buchstaben ihres Vornamens reduziert werden: keine Papiere - keine Namen.
Gemeinsam mit V, O, L und E versucht er das Leben zu meistern.
Die teils naive, teils nüchterne Erzählstimme berichtet auf einer kindlichen Wahrnehmungsebene über den Zeitvertreib vor Ort, der vor allem auch durch die Suche nach Essen und dem Erfinden von Spielen geprägt ist.
Der Text ist weder zeitlich, noch topographisch klar verortet. Im Nachwort schreibt der Autor, dass er seine eigenen Erfahrungen als Sohn eines Flüchtlings mit Elementen von Einzelschicksalen heutiger junger Flüchtlingskinder verknüpft. Dadurch liegt ein zeitloser Text vor, der nichts beschönigt und wie es scheint einen sehr ehrlichen Weg wählt, wie sich das Leben von unbegleiteten Minderjährigen in einem der zahllosen Flüchtlingslagern gestalten könnte. Dabei wird die z.T. erbärmliche Wohnsituation von Menschen geschildert, das Problem mit entstehenden Müll, fehlenden sanitären Einrichtungen und die Gewalt der Wachmänner thematisiert und unverblümt aufgezeigt, wie mithilfe von Tränengas und Bulldozern das Lager geräumt und die Flüchtlinge umgesiedelt werden sollen.
Aus dem Engl. v. Hennig Ahrens.
Fischer 2019.
144 S.
Elisabeth Steinkellner: Esther und Salomon
Der Text folgt zwei jugendlichen Figuren; mit einem Perspektivenbruch in der Mitte, aber zeitlich aufeinander aufbauend: Zum einen ist da Esther, die mit ihrer kleinen Schwester Flippa und den im Streit liegenden Eltern auf Urlaub ist. Dort trifft sie auf Salomon, der wiederum mit seiner Schwester am Strand ist, während seine Mutter in einem der Hotels arbeitet. Die kleinen Schwestern freunden sich an, wie auch Esther und Salomon, die ihre ganz persönliche Sommerzeit verbringen, von der am Ende wenig zu bleiben scheint: Wenn es jemanden gibt, / den man so sehr mag, / dass man denkt: / es zerreißt mich / wenn ich mich / trennen muss, / ist das dann Unglück / oder ... Wo in Esthers Teil der Fokus auf den familiären Problemen liegt, ist es bei Salomon die Flucht, die er erlebt hat und die Frage, wie man von Dingen erzählt, für dies es keine / Worte gibt. Unterstützt wird der Text mit Polaroids der Autorin und assoziativen Bildern von Michael Roher.
In stimmiger lyrischer Prosa treffen so Sommerliebe auf Fluchtgeschichte, und auf die Sehnsucht nach einer anderen, weit entfernten Figur. Die Komposition aus Text und Bild lässt viel Raum fürs Weiterdenken, -lesen und -fühlen und verknüpft zwei sehr unterschiedliche jugendliche Charaktere in einer ganz besonderen Atmosphäre, in der die Erfahrungen und Erlebnisse aus der Vergangenheit ebenso ihren Platz haben wir das vorsichtige in-die-Zukunft-schauen.
Mit Bildern v. Michael Roher.
Tyrolia 2021.
336 S.
Kathleen Vereecken: Alles wird gut, immer
Ypern ist eine Stadt in Westflandern. In beiden Weltkriegen lag Ypern mit Blick auf die so genannte Westfront an strategisch wichtiger Stelle. 1914 hegt der Vater der 12-jährigen Alice noch die Hoffnung, dass es sich hier „um das sicherste Eck Belgiens“ handelt. Wenig später jedoch reichen die Kriegshandlungen in all ihrer Heftigkeit bis hierher und die Familie von Alice befindet sich von da an im permanenten Ausnahmezustand: Raketenangriffe, Tod, Kälte, Heimatlosigkeit, Hunger, Angst und Ungewissheit werden zu ständigen Begleiter*innen. Die Flucht – zunächst aus ihrer Heimat, um dann wieder zurück zu kehren, um wieder aufbrechen zu müssen – wird in einem sehr poetischen Text nachgezeichnet und dennoch schafft es die niederländische Autorin, dass ihre Hauptfigur nicht unter der Last der Ereignisse zusammenbricht. Vielmehr wählt sie mit Hilfe einer konsequenten Ich-Perspektive einen kindlich-naiven Blick und schildert unaufgeregt das eigentlich Unvorstellbare. Sprachliche Genauigkeit und große Ehrlichkeit prägen den Erzählstil und zeigen, mit welcher Geschwindigkeit Alice angesichts der Grausamkeiten des Krieges erwachsen werden muss. Dabei aber trotz allem immer an ihrem positiven Blick auf die Welt festhält.
Mit Bildern von Julie Völk.
Aus d. Niederländ. v. Meike Blatnik
Gerstenberg 2021.
Onjali Q. Raúf: Der Junge aus der letzten Reihe
Ahmet ist neu in Alexas Klasse; er wirkt ruhig, traurig, niedergeschlagen und kann auch ihre Sprache nicht. Alexa und ihre drei Freunde freunden dennoch einen Weg, sich mit ihm anzufreunden. Nach und nach finden sie heraus, dass Ahmet aus Syrien fliehen musste, dass er seine Eltern auf der Flucht verloren hat und er nun bei einer Gastfamilie untergebracht wird. Seine Ängste und Hoffnungen werden aus einer Außenperspektive in den Blick genommen und erhalten dieserart einen Sensibilisierungscharakter.
Der Umstand, dass er von seiner Familie getrennt ist, muss aus Alexas Sicht tunlichst geändert werden: Die Kinder hecken einen Plan aus, der eine persönliche Audienz bei der Queen vorsieht. Abenteuerlich, rasant und zugleich warmherzig wird davon erzählt, was Freund*innen bewirken können. Neben diesem Haupterzählungsstrang finden gesellschaftspolitische Themen Einzug, die mit dem Thema Flucht einhergehen: Die Klärung des Flucht-Begriffs sowie die mediale Aufbereitung ist ebenso relevant wie rassistische Äußerungen, die altersadäquat in den Text eingewoben werden.
Der Erzähltext, der gänzlich einer kindlichen Wahrnehmung sowie Empfindung verpflichtet bleibt, wird immer wieder durch Zeichnungen unterbrochen, was verdeutlicht, dass auch wenn man nicht verbal (noch) nicht verständigen kann, es andere Wege gibt, um miteinander in Kontakt zu treten.
Aus d. Engl. v. Katharina Naumann.
Ill. v. Pippa Curnick
Atrium 2020.
286 S.
Vor 2019
Claude K. Dubois: Akim rennt
Still und zurückgenommen entfaltet die belgische Illustratorin Claude K. Dubois ein Szenario von Krieg: Ihr Blick richtet sich dabei auf die Krisenregion des Kaukasus – wobei dabei weniger eine konkrete zeitgeschichtliche Verortung, als vielmehr eine Lenkung des Blicks auf die Peripherien des Weltgeschehens vorgenommen wird. Wenn jeder Christ und jede Christin aufgefordert ist, den Mut zu haben, Randgebiete zu erreichen, wie Papst Franziskus es in Evangelii Gaudium formuliert hat, erfordert das auch das Bemühen, das Erleben jener zu begreifen, die aus dem geordneten Miteinander herausfallen. Die Künstlerin wählt das Mittel der Bildsprache, sie stellt jedes Bild auf eine Seite und ordnet sie dennoch sequenziell an. Kurzen Textpassagen schließen sich skizzenhafte Bildfolgen an, die wie das Storyboard einer Reflexion über das individuelle Schicksal eines Kindes im Krieg wirken. Man folgt in den grau-braun getönten Buntstiftzeichnungen Akim, seiner Verzweiflung, seiner Einsamkeit in der Konfrontation mit einem Bombenangriff auf sein Dorf. In der letzten Bildsequenz schließlich findet Akim seine Mutter wieder – und mit ihr jene Heimat, Geborgenheit und Zugehörigkeit, auf die jedes Kind ein Recht haben sollte. Ein politisches Bilderbuch, das seine Bedeutung gerade im Kontext europäischer Flüchtlings-und Asylpolitik entfaltet.
Aus dem Franz. v. Tobias Scheffel.
Moritz 2013.
48 S.
Francesca Sanna: Die Flucht
Das in der Tagespolitik und Kinderliteratur immer wieder sehr präsente Thema Flucht wird hier von einer jungen sardischen Künstlerin mit einem bemerkenswerten Fokus umgesetzt: Im Zentrum ihrer Bilder, für die sie mit verschiedensten Materialien haptisch und digital experimentierte, steht stets die Stärke jener Menschen, die diesen Schritt wagen. Wagen müssen. Der Krieg, der die kindliche Erzählstimme in der Ich-Perspektive und ihre Familie zur Flucht zwingt, wird in tiefem Schwarz dargestellt. In wenigen ausdrucksstarken Sätzen werden die Erlebnisse und Erfahrungen auf der Flucht umrissen. Die Bewegung der Flucht zieht sich gleichsam der Lesebewegung durch die längsformatigen Doppelseiten des Bilderbuchs von links nach rechts. Die Hoffnung auf ein Ankommen wird einen Lichtschimmer gleich in den dunkel gehaltenen Illustrationen integriert.
Dieses Debut, das mit der Goldmedaille der Society of Illustrators in New York, sozusagen dem Oscar der Illustration, ausgezeichnet wurde. „Auf Bilder kann man zeigen, Worte sind nur Stellvertreter” hat Francesca Sanna in einem Gespräch formuliert – Worte, die durch ihr Buch bestätigt wird, das den gekonnten Umgang mit Bildsprache und Farbigkeit zeigt.
Aus dem Engl. v. Thomas Bodmer.
NordSüd 2016.
41 S.
Irena Kobald: Zuhause kann überall sein
„Meine Tante nannte mich Wildfang. Dann kam der Krieg und meine Tante nannte mich nicht mehr Wildfang. Um in Sicherheit zu sein, kamen wir in dieses Land. Alles war fremd.“ So lapidar beginnt dieses australische Bilderbuch – die Fremdheitserfahrung, die die kindliche Protagonistin mit Worten benennt, wird in den Bildern stark über farbliche Kontraste markiert: Während das neue Land in kühlen, hellen Farben dargestellt wird, haben das Mädchen und ihre Tante dunkle Haut und tragen Kleidung in leuchtenden, warmen Farben. Für die langsame Annäherung und schließlich das sich Zuhause fühlen in der neuen Umgebung, der neuen Sprache, wird das auch für jüngere Kinder gut fassbare (Sprach-)bild einer warmen, Geborgenheit spendenden Decke gewählt – und am Schlussbild schließlich ist die gelungene Integration auch an der harmonischen Durchmischung der Farben zu sehen. Im Juni 2016 erschien das Buch in einer broschierten Ausgabe in deutscher und arabischer Sprache.
Ill. v. Freya Blackwood.
Aus dem Engl. v. Tatjana Kröll.
Knesebeck 2015.
17 S.
Andrea Karimé: Nuri und der Geschichtenteppich
Die Kraft des Erzählens steht in dieser einfühlsamen Geschichte rund um das titelgebende Mädchen Nuri im Zentrum des Geschehens. Gemeinsam mit ihren Eltern aus dem Irak ins, in mehrfacher Hinsicht kalte Deutschland geflohen, muss sich die Protagonistin gegen Vorurteile, Ausgrenzung und Berührungsängste ihrer neuen Mitschüler*innen kreativ zur Wehr setzen. Mit Hilfe von selbst erfundenen Geschichten rund um die Schwarzzahnmonster und Briefen an ihre verschollen geglaubte Tante Marwa gelingt schließlich eine erste Annäherung und der Umgang mit den sehr behutsam in den Text eingebundenen traumatischen Kriegserfahrungen des Mädchens. Andrea Karimé verknüpft die literarischen Traditionen von Briefroman und Scheherazade zu einer mitreißenden Einheit. Farbintensive, teils collagierte Illustrationen mit scharfen Konturen und orientalischem Flair unterstreichen die sensible Hommage an die Kraft des Erzählens und die Notwendigkeit des sozialen Miteinanders.
Ill. v. Annette von Bodecker-Büttner.
Picus 2006.
59 S.
Franz-Joseph Huainigg/Inge Fasan/Michaela Weiss: Wahid will bleiben
Wahid ist 14 Jahre alt und kommt aus Afghanistan – sein Alltag im überfüllten Flüchtlingsheim ist anstrengend, die Kommunikation mit ÖsterreicherInnen fällt ihm schwer, ist es doch gar nicht so einfach, den Hinweisen des Deutschlehrers zum deutlichen Sprechen zu folgen: „Aber wie soll man laut sprechen, wenn traurig ist? Wie, bitte schön, soll man deutlich sprechen und freundlich sein, wenn man sich am liebsten verkriechen möchte?“ Der langsam wachsende Kontakt zu seiner österreichischen Patenfamilie macht vieles leichter, auch weil im alltäglichen Miteinander manche kulturellen Unterschiede thematisiert und ausgedeutet werden können. Zur Sprache kommen auch Schwierigkeiten, etwa mit der Großmutter, die Wahid zuerst skeptisch gegenüber steht, bis sie in den Kriegserfahrungen, die beide machen mussten, einen Anknüpfungspunkt findet. Michaela Weiss wählt für ihre stimmungsvollen Illustrationen eine Mischung aus ganz gegenständlichen Sujets wie einem Fußball oder einem Teppich und symbolischen Darstellungen, vor allem Bäume. Die zurückgenommene Farbigkeit der Monotypien auf Japanpapier (teilweise mit Buntstift ergänzt), aber auch klug gewählte Bildausschnitte wie Wahids hinter dem Vorhang nur halb zu sehendes Gesicht, verdeutlichen seine Situation – im Anschluss an die Geschichte, deren Ende offen bleibt, wird das Projekt connecting people vorgestellt, dass Patenschaften für minderjährige Flüchtlinge vermittelt.
Ab 9 Jahren.
Bibliothek der Provinz 2014
46 S.
Anja Tuckermann: Nusret und die Kuh
Spätestens seit den Konflikten in Syrien und den damit verbundenen Migrationsbewegungen sind die Themen Krieg, Flucht und Migration auch im Bilderbuch nicht mehr wegzudenken. Unter den vielen unterschiedlichen Formen fällt jedoch Nusrets Erzählung aus der Reihe: es wird eine Idylle inszeniert, die sich in den farbkräftigen, von grün dominierten Bildern genauso wie in der Ich-Erzählung abbildet: „Ich heiße Nusret. Ich lebe mit Omi und Opi in einem Dorf in Kosovo.” Neben den Großeltern prägen „Hund, zehn Hühner, drei Gänse” und die Kuh das Leben des Kindes. Leicht und sorglos geht es später auch in Deutschland weiter: „Ich kann alles lesen und ich kann alles schreiben.” Doch trotz der Idylle dort und da oder gerade deswegen bleiben am Ende überwältigende Gefühle vorherrschend, die durch die experimentellen, dynamischen und abwechselnd illustrierten Bilder verstärkt werden: Zerrissenheit und die Sehnsucht in zwei Richtungen.
Ill. v. Mehrdad Zaeri u. Uli Krappen.
Tulipan 2016
42 S.
Kirsten Boie: Bestimmt wird alles gut
„aturidin an takuni sadiqati“ lautet die Frage „Willst du meine Freundin sein?“ in arabischer Sprache. Diese und rund sechzig weitere „Erste Wörter und Sätze zum Deutsch- und Arabischlernen“ findet man im Anhang des Bilderbuches, das von der Flucht einer syrischen Familie nach Deutschland erzählt. Rahaf ist zehn Jahre alt und hat in der Schule eine neue Freundin gefunden. Zu Hause in Homs beginnt die Erzählung und berichtet zuerst vom Familienleben in jener syrischen Stadt, die aufgrund der Verwüstung zum Sinnbild des Krieges geworden ist. Für die unbeschreibbare Zerstörung nimmt Kirsten Boie die Perspektive des verängstigten Kindes ein und wählt dafür eine klare Sprachform. Ihr deutscher Text wird von Mahmoud Hassaneins Übersetzung ins Arabische begleitet. Auch in Jan Bircks Illustrationen wird das Schöne rasch verdrängt, indem er die Farbpalette in ganzseitigen Bildern reduziert. Das kleinformatige Bilderbuch ist mehr als ein Buch, das von der Flucht einer syrischen Familie berichtet. Es ist ein Angebot an alle, die verstehen wollen, wie sich ein Kind fühlt, das sich auf einen menschenunwürdigen Weg machen muss und wohl auch ein Angebot für alle jene, die geflüchtet sind und erst Worte und Bilder für ihre traumatischen Erfahrungen finden müssen.
Ill. v. Jan Birck. Ins Arab. v. Mahmoud Hassanein.
Klett Kinderbuch 2016.
48 S.
Anja Tuckermann und Tine Schulz: Alle da! Unser kunterbuntes Leben
Die farbintensive Gestaltung des Bilderbuchs aus dem Klett Kinderbuch Verlag folgt ganz dem Gestus der thematisierten Multikulturalität. Einen treffenden Vorgeschmack gibt das limonengelbe Cover, auf dem sich Groß und Klein in allen möglichen Posen und Possen beim gemeinsamen Feiern versammelt haben. Vielleicht ist es ein vietnamesisches Tet-Fest, das indische Holi-Fest oder doch Chanukka? Ein grünhaariger Junge verkündet durch ein Megaphon, sodass es auch die Entferntesten hören: ,,Alle da!“ Ach ja, und wer? Na wir, die wir alle von den ersten Menschen abstammen und heute wie damals, hier wie dort lachen, streiten, neugierig sind oder uns gruseln. Was uns unterscheiden kann sind unsere Schicksale, wie das Samiras und ihrer Familie, die wie aktuell zehntausend andere Syrien und alles, was ihre Heimat bedeutet hinter sich lassen müssen. Das hitzig diskutierte und komplexe Thema wird mit ,,Menschlichkeit“ beantwortet.
Klett 2014
40 S.
Heinz Janisch / Birgitta Heiskel: Der rote Mantel. Die Geschichte vom heiligen Martin
Im Kontext von Flucht scheint die bekannte Geschichte des Heiligen Martin erst auf den zweiten Blick naheliegend. Bedenkt man aber seine Funktion als Schutzpatron der Flüchtlinge und sein überliefertes Engagement für die Armen ist das gesetzte Vorzeichen, das Heinz Janisch für seine Version der Geschichte wählt, nur folgerichtig.
Das Bilderbuch beginnt mit einer Rahmenerzählung: Wir begegnen dem jungen Amir, dem ein namenloser Mann eine rote Decke geschenkt hat. Genauer verortet wird das Umfeld von Amir nicht – zu lesen ist nur von einer Reise mit dem Lastwagen und einem großen Saal in einer fremden Stadt, in dem Kinder und Erwachsene auf Matratzen liegen. Beim Wunsch, seinem Helfer einen Namen zu geben, erzählt eine Frau Amir von einem, der es ähnlich gemacht hat … Heinz Janisch verwebt mehrere Überlieferungen aus dem Leben und Wirken von Martin von Tours in die Geborgenheit einer Erzählsituation. Im Gespräch zwischen dem zuhörenden Kind und der erzählenden Frau werden immer wieder Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen und gezeigt, dass sich Menschlichkeit auf immer gleiche Weise äußern kann. In den stimmigen Illustrationen zieht sich der rote Mantel wie ein roter Faden durchs Buch und bildet den einzigen farbigen Kontrast zu den filigranen Bleistiftzeichnungen. Sein Leuchten und seine Wärme werden verstärkt durch die bedachte Gestaltung des Bilderbuchs, die einzelne Textpassagen rot setzt und Martins Botschaft ins Heute holt.
Tyrolia 2015
26 S.
Frank Cottrell Boyce: Der unvergessene Mantel
Retrospektiv berichtet die inzwischen erwachsene Julie von einer Begegnung aus ihrer Volksschulzeit, als Dschingis und dessen kleiner Bruder Nergei neu in die Klasse kommen und sowohl Kinder als auch Lehrerin mit ihrem reichlich unkonventionellen Verhalten ebenso wie mit Geschichten vom fantastischen Leben in der Mongolei in Atem halten. Scheinbare Unglaubwürdigkeiten werden dabei mit Polaroidfotos aus der Welt geschafft – auch für die Leser*innen, denn der an das Erscheinungsbild eines Schulheftes angelehnte Text wird mit ebendiesen Fotos bebildert. Julie ist fasziniert von der fremden Welt. Erst als die erträumte Heimat sich als Patchwork aus Schulhofaufnahmen entpuppt, zeigt sich das wahre Schicksal einer Flüchtlingsfamilie. Denn eines Tages kommen die beiden Brüder nicht mehr in die Schule… Ein mit Sprachwitz und Situationskomik präsentierter Culture Clash, der am Symbol eines zotteligen Wintermantels unterschiedliche Erinnerungsebenen freilegt.
Aus dem Engl. von Salah Naoura.
Mit Fotografien von Carl Hunter und Clare Heney.
Carlsen 2012.
106 S.
Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar
Der renommierte Comic-Künstler Reinhard Kleist wählt in dieser Biographie ein konkretes, reales Schicksal aus, um den unzähligen vor Lampedusa ertrunkenen Flüchtlingen ein Gesicht zu geben: Die ungewöhnliche Geschichte der somalischen Leichtathletin Samia Yusuf Omar. Bei den Olympischen Spielen 2008 vertrat die damals erst 17-jährige Läuferin ihr Land in Peking. In Somalia von Extremisten bedroht, wagte sie die Flucht, mit dem ehrgeizigen Ziel, an den Olympischen Spielen in London 2012 teilzunehmen. Doch beim Versuch mit einem Flüchtlingsboot über das Mittelmeer zu gelangen, ertrank die Sportlerin. In Gesprächen mit Samia Yusuf Omars Schwester rekonstruierte Kleist die Etappen einer Odyssee, die er mit erzählerischen Mitteln wie fiktionalisierten Facebook-Einträgen darstellt. Die eindrücklichen, ausschließlich in Schwarz-Weiß gehaltenen Bilder zeigen die Entschlossenheit einer jungen Frau, die sich den widrigen Umständen ihres Lebens entgegensetzte – und ihren Traum, wie zu viele andere, mit dem Leben bezahlte.
Carlsen 2015.
145 S.
Edouard Torrents / Denis Lapière: Der Treck
Ein Mädchen an der Hand ihrer Mutter. Der Vater ist zwei Schritte voraus, in seinen Händen Reisekoffer, die er durch eine verschneite Berglandschaft trägt. Hinter der Familie sieht man den titelgebenden Treck, der am Cover der Graphic Novel jene Fluchtbewegung repräsentiert, die vor rund 80 Jahren fast 500 000 Menschen von Spanien nach Frankreich brachte. „Die meisten sprachen davon, aus der Stadt zu flüchten, Barcelona zu verlassen und Spanien zu vergessen.”, heißt es in der Figurenrede der Ich-Erzählerin, die rückblickend von der Flucht vor den Franco-Faschisten berichtet. Die Rahmenerzählung setzt 36 Jahre später ein, zeigt die nun erwachsene Angelita in Montpellier, die eines Morgens erfährt, dass ihre Mutter einen Herzinfarkt hatte und in ein Krankenhaus in Barcelona eingeliefert wurde. Bild wie Text behalten die Ich-Perspektive bei, wodurch die Leser*innen immer nur so viel wissen, wie die Figur selbst. In den klar angeordneten Panels wird der Erzählung eine sehr spezifische Darstellungsform gewählt, die der personalisierten Erfahrung ebenfalls gerecht wird: Filmtechnik. Oft kommen auf nur einer Seite mehrere Perspektiven zum Einsatz, die so zur Dramatisierung beitragen. Darin liegt die Stärke dieser Graphic Novel. Die ästhetischen Mittel führen dazu, dass durch das Schicksal einzelner, das Schicksal vieler Menschen nachvollziehbar und für junge als auch für ältere Betrachter*innen verständlich werden kann.
Aus dem Französ. v. Edmund Jacoby.
Jacoby & Stuart 2016.
124 S.
Julya Rabinowich: Dazwischen: Ich
„Wir sind noch nicht wirklich hier, aber ich arbeite daran“, schreibt Ich-Erzählerin Madina in ihr Tagebuch und formuliert dabei eine Richtung, ein Ziel. Mit „hier“ ist die deutschsprachige Provinz, das neue Leben, die Schule, die neue beste Freundin gemeint. „Hier“ ist aber auch die schäbige Pension, die Unsicherheit, die Bürokratie. Dennoch ist es die bessere Alternative zum Krieg, vor dem die Familie geflüchtet ist. Julya Rabinowich, die sich schon in ihren literarischen Texten für Erwachsene, aber auch als Übersetzerin viel mit dem Thema Flucht beschäftigt hat, ist in ihrem jugendliterarischen Debut eine bemerkenswerte Mädchenfigur gelungen, die mit starker Stimme von emotionalen und gesellschaftlichen Nöten erzählt, davon, was es heißt, sich „dazwischen“ zu fühlen: zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, zwischen Vater und Mutter, zwischen unbeschwerter Party und Kriegstraumata. Aussagekräftig ist die achtsame, aber dennoch kritische Art, auf die Madinas schwierige Beziehung zu ihrem Vater geschildert wird. Denn der Vater möchte zurück in den Krieg, um dort seinem Bruder beizustehen. Madina und die anderen Frauen in der Familie hingegen möchten bleiben – und müssen dafür einen Weg finden.
Hanser 2016.
254 S.
Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus
Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt von ihrer Flucht aus dem Iran nach Deutschland, die sie in den 1980er-Jahren mit ihrer Familie antreten musste. Dabei schafft sie es, sämtliche Höhen und Tiefen, die sie als Kind durchlebte so darzustellen, dass man als Leser*in mitleiden, jedoch auch die erfreulichen Momente mit ihr teilen kann. Im Vordergrund steht daher weniger der Fluchtverlauf an sich, sondern die persönlichen Erlebnisse samt kindlicher Logik: Der ausschlaggebende Fluchtgrund ist für die Ich-Erzählerin das Verstummen des sonst so glücklichen Bruders, das sie auf die politische Lage im Iran zurückführt. Einen Augenblick der Freude erfährt Mehrnousch dagegen beim Fund eines 2 DM-Stücks und sie endlich etwas im KaDeWe kaufen kann, anstatt die Waren immer nur ansehen zu müssen. Aber als sie stolz mit ihren ersten Sommerklamotten in die Schule kommt, wird sie von den anderen ausgelacht, da sie unwissentlich einen Schlafanzug trägt. Es sind diese und andere Erlebnisse, die für Mehrnousch Zaeri-Esfahani prägend waren und die einen äußerst individuellen Eindruck in Bezug auf die Themen Flucht und Migration hinterlassen.
Ill. v. Mehrdad Zaeri-Esfahani.
Peter Hammer 2016
145 S.
Que Du Luu: Im Jahr des Affen
Minh Thi lebt in Herford, einer Kleinstadt in Westfalen, geboren wurde sie jedoch in China. 1976 flüchtete ihre Familie über Vietnam mit dem Boot nach Deutschland, wo ihr Vater ein Restaurant betreibt und sie sich gut eingelebt hat. Zu gut vielleicht?! Der Koch des Vaters bezeichnet sie als Banane – „außen gelb und innen weiß“. Minh Thi ist tatsächlich innerlich zerrissen, sie ist keine „richtige“ Chinesin mehr, aber als eine Deutsche fühlt sie sich auch nicht. Die aus China stammende Autorin Que Du Luu erzählt in ihrem Debütroman von Minh This kultureller Entfremdung sowie von kulturellen Un- und Missverständnissen. Sie schickt ihre 16-jährige Protagonistin auf eine Spurensuche durch ihre Vergangenheit und lässt sie im Restaurant ihres Vaters als Kellnerin einspringen, wo sie auf unerwartete Antworten stößt. Eine vielschichtige, kluge Geschichte über das Heranwachsen zwischen den Kulturen.
Königskinder 2016.
286 S.
Ela Aslan: Plötzlich war ich im Schatten. Mein Leben als Illegale in Deutschland
Elas Vater ist als Kurde in der Türkei so starken Repressionen ausgesetzt, dass er sich entschließt, mit seiner Familie nach Deutschland zu fliehen. Diese Flucht jedoch ist nur für vier Personen möglich, respektive leistbar; also folgt die 10-jährige Ela ihrer Familie erst ein Jahr später nach. Die Erzählung setzt ein, als sie ins Land „geschmuggelt“ wird: Durch Ich-Perspektive und Präsens entsteht ein unmittelbares und dennoch weitgehend neutral gehaltenes Bild. Ohne je ins Kolportagenhafte zu verfallen schildert Ela das doppelte Moment der Fremdheit. Sie kommt „neu“ in die Familie, und neu in ein Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Als ihr Asylantrag abgelehnt wird, erfährt die Familie vom sogenannten Kirchenasyl: In Köln halten sich kurdische Familien unterstützt von einer Hilfsorganisation, solange in einer Kirche auf, bis sie nach und nach in einzelnen Pfarreien untergebracht werden. Platzangst und Selektionsverfahren stehen am Beginn eines langen Weges, der geprägt ist von räumlicher Begrenztheit und gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen. Der journalistisch-dokumentarische Charakter des Buches ermöglicht es, auch einen Außenblick auf ein jugendliches Leben einzunehmen. Ela hat HelferInnen an ihrer Seite (die auch zu Wort kommen), sodass es letztlich doch gelingt, aus dem titelgebenden Schatten der Illegalität herauszutreten.
In Zusammenarbeit mit Veronika Vattrodt.
Arena 2012.
174 S.
Robert Klement: 70 Meilen zum Paradies
Siad und seine 14-jährige Tochter Shara träumen von einem besseren Leben. Ihr Sehnen gilt einem Kontinent, dem sie sich nach vielen Entbehrungen und Schicksalsschlägen nun endlich nahe fühlen: Europa erscheint ihnen als ein Schlaraffenland. Aus Somalia durch die Sahara kommend warten sie in Tunesien auf den Schlepper, der sie nach Italien führen soll: nur noch 70 Meilen bis zum Paradies. Doch nun beginnen die Zweifel an der Standhaftigkeit ihrer Träume. Über den Mann, der den Schlepper organisiert, sagt man, er habe früher mit Waffen geschmuggelt. Später mit Haschisch. Heute schmuggelt er Menschen. Das ist weit weniger riskant und bringe obendrein mehr Geld. Die Überfahrt ist lange und fordert Menschenleben. Endlich in Italien angekommen, empfängt Europa die Hilfesuchenden in einem Flüchtlingslager, in dem sie mit schwierigen Lebensumständen konfrontiert sind. Robert Klement erzählt gerade heraus, er orientiert sich an den Fakten. Ohne dabei die afrikanischen Protagonist*innen aus den Augen zu verlieren, wird die Tragik des Themas sachlich und genau recherchiert geschildert. Für Siad und Shara wird der Kampf um das ersehnte bessere Leben nie aufhören, Mut und Entschlossenheit werden ihre Reise weiterlenken; einer neuen Hoffnung, einer neuen Heimat entgegen. Denn was bleibt, ist die Sehnsucht nach dem Paradies.
Jungbrunnen 2006.
143 S.
Jochen Oltmer / Nikolaus Barbian: Ein Blick in die deutsche Geschichte von Ein- und Auswandern
Von 1871 bis heute, Deutschland war und ist ein Einwanderungsland. Dies hat auch die Bundesregierung im Jahr 2000 anerkannt. In einzelnen Jahresabschnitten gegliedert, beschäftigt sich das Buch genau mit diesem Thema. Wie kam es zu dem jeweiligen demographischen Wandel und was bedeutete es für Deutschland. Die Bild-Text-Parallelität der Aquarellzeichnungen untermauern und versinnbildlichen diesen Wandel und zeigen den Leser*innen die Geschichte der Schwabenkinder, Ruhrpolen*innen, Gastarbeiter*innen oder der syrischen Flüchtlinge. Die Autoren wollen mit diesem Sachbuch untermauern, dass Deutschland zurzeit nicht „die“ Flüchtlingsbewegung erlebt, sondern „eine“ von vielen Bewegungen. Zudem verfolgen sie einen zentralen Aspekt: „Wer die Vorgeschichte kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“, was ihnen mit Objektivität und reinem Offenlegen von Fakten auch gelingt.
Ill. v. Christina Rösch.
Jacoby & Stuart 2016.
123 S.
Wolfgang Böhmer: Hesmats Flucht: Eine wahre Geschichte aus Afghanistan
Afghanistan-Tajikistan-Usbekistan-Kasachstan-Russland-Weißrussland-Ukraine-Ungarn-Slowakei-Österreich: Endstation Telfs. Der elfjährige Afghane Hesmat muss fliehen, vor der Geschichte seines eigenen Landes, vor dem Erbe seiner Familie. Er allein glaubt an seine Stärke, an seine Kraft den Hindukush zu überqueren, seinen Mut tagelang eingepfercht in Kisten am Leben zu bleiben. Hunger, Durst, Tod und Angst sind ständige Begleiter. Hesmats wahre Geschichte eröffnet eine Welt, in der das einzige Geschäft das Leid der Menschen ist, eine Welt der Flüchtlinge und der organisierten Schlepper. Authentisch, eindrücklich und schonungslos wird Hesmats Flucht geschildert, vorbei an Bergen von Toten und Seen von Blut. Atem-los, immer auf Hesmats Augenhöhe, nie einen Schritt voraus, sind die Leser*innen gezwungen, all diese Strapazen an Hesmats Seite zu durchleben. Vertraue niemandem, wurde er gewarnt, aber manchmal muss man sein Herz öffnen, um am Leben zu bleiben.
Cbj 2008.
284 S.
Anoush Elman/Edvard van de Vendel: Der Glücksfinder
Eine DVD-Reihe über das eigene Leben wünscht sich Ich-Erzähler Hamayun in dieser Flüchtlingserzählung, um die traumatisierenden letzten acht Jahre besser verstehen zu können. Er stellt sich vor, wie ihm die verfilmten Schauplätze der Flucht zwischen Afghanistan und den Niederlanden, Regie-Tricks und Filmmusik helfen würden, die ungerechte Behandlung seitens der Taliban, der Menschenschlepper und der holländischen Behörden zu verarbeiten. Diesen selbstreferentiellen Blick verwirklicht die afghanisch-niederländische Autorenzusammenarbeit, die eine reale Flucht in Erzählsträngen strukturiert: Kapitel wie "Comedy", "Roadmovie", "Drama" oder "Science Fiction" dokumentieren spannend die Lebensstationen einer Emigration.
Aus dem Niederländ. v. Rolf Erdorf.
Carlsen 2011.
460 S.
Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder
Der Ich-Erzähler Koumaïl erzählt retrospektiv von seiner Kindheit auf der Flucht: Jahre in denen die einzige Konstante Gloria ist, die ihm immer wieder erzählt, wie sie ihn als Baby zu sich genommen hat. Schließlich werden sie getrennt und Koumaïl kommt allein in Frankreich an. Jahre später gelingt es ihm, die schwerkranke Gloria in einem Spital in Tiflis wiederzufinden. Kurz vor ihrem Tod erzählt sie ihm ein weiteres Mal seine Geschichte: Eine neue Fassung, nämlich die Wahrheit. Im herzergreifenden Ende wird deutlich, dass Gloria ihr Leben nur mit dem Neu-Erfinden eine Lebensgeschichte bewältigen konnte, deren Wahrheit kaum erträglich ist. Geradlinig wird hier von furchtbaren Geschehnissen erzählt - aber auch von der Kraft, die Menschen aufbringen, um sie zu bewältigen: "Das einzig wirksame Heilmittel gegen die Verzweiflung ist die Hoffnung."
Aus dem Franz. v. Maja von Vogel.
Carlsen 2011.
188 S.
Jane Teller: Krieg. Stell dir vor, er wäre hier.
Das schmale, aber gewichtige Büchlein entwirft ein Was-wäre-wenn-Szenario, in dem die Auswirkungen eines möglichen Zusammenbruchs der Europäischen Union erörtert werden. Die aktuell diskutierte Flüchtlingssituation wird dabei verkehrt: Europäer*innen suchen in arabischen Ländern Asyl, um dem Krieg in ihrem Land zu entfliehen. Ergebnis sind zerrissene Familien, der Kampf um Arbeitsgenehmigungen und Verständigungsprobleme. Das Leben als „Mensch dritter Klasse“ wird mit hoher Authentizität geschildert und durch die intensiven, teils abstrakten Illustrationen noch verstärkt. Dieses Gedankenspiel eröffnet eine spannende neue Perspektive und bringt ein potentielles Schicksal vielleicht näher an Lesende heran, als es das tagespolitische Geschehen vermag. Flucht und deren Gründe werden sachlich nachvollziehbar gemacht, ohne auf Mitgefühl zu verzichten. Besonders bemerkenswert ist auch, dass die verschiedenen Übersetzungen des ursprünglich dänischen Textes an die jeweiligen geopolitischen Situationen angepasst wurden. Vom Verlag gibt es umfangreiche Unterrichtsmaterialien zum Buch.
dtv Reihe Hanser 2015.
64 S.
Uticha Marmon: Mein Freund Salim.
Am Spielplatz sehen Hannes und sein Schwester ihn zum ersten Mal – den „Vogeljungen“, wie Hannes ihn wegen der Jacke nennt. Rosafarbene Vögel sind darauf gestickt, ein Hinweis darauf, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Welcher Junge mit Selbstwertgefühl trägt so etwas freiwillig? Auch sonst ist Salim anders: Er spricht kaum und läuft immer wieder davon. Nur langsam fasst er Vertrauen zu Hannes und hilft ihm bei der Umgestaltung des Gruselkabinetts in der Schule: Er zeichnet – zunächst Vampire und Piraten, dann Bilder von endloser Wüste, von kleinen Booten im stürmischen Meer. Langsam erfahren die Kinder so von Salims Flucht aus Syrien in Richtung Schweden. Dort hofft er, seine Familie wiederzufinden. Ohne großes Psychologisieren und Lösungszwang erzählt Uticha Marmon von Toleranz und Vertrauen in Zeiten der allgemeinen Ratlosigkeit.
magellan 2015.
158 S.
Sepideh Sarihi / Julie Völk: Meine liebsten Dinge
Ein grauer Schleier liegt wie Krepppapier über den Häusern der Stadt mit bröckelnden Türmen und Fassaden. Einziger Farbtupfer – ein kleines Mädchen im gelben Streifenpullover mit besorgtem Gesichtsausdruck. Papa verkündet: ,,Wir fliegen in ein anderes Land...“ Mama freut sich sehr und das Mädchen steht vor der Herausforderung ihre liebsten Dinge für die Reise auszusuchen. Der Holzstuhl von Opa muss da natürlich mit! Ach ja, und der Birnbaum im Hof darf nicht fehlen. Aber was bedeutet das alles schon ohne die beste Freundin im Gepäck? Der Koffer wirkt immer kleiner. Da hat das Mädchen eine Idee – Wellen statt Koffer ...
Die kluge Kurzgeschichte der gebürtigen Iranerin und Dramaturgin Sepideh Sarihi, erschienen in der aktuellen 49. Ausgabe der Bilderbuchzeitschrift Gecko, überträgt große Gefühle wie Abschied und Hoffnung in federleichte Sprache für die Jüngsten. Was zählt, wenn man seinen Lebensmittelpunkt verlassen muss? Preisträgerin Julie Völk illustriert in zurückhaltender Manier und gekonnter Präzision die wichtigen Dinge des Lebens.
Beltz&Gelberg 2018.
30 S.
Annabel Wahba: Tausend Meilen über das Meer. Die Flucht des Karim Deeb
Es ist eine Geschichte, wie sie im vergangenen Jahr viel zu oft erzählt wurde – erzählt werden musste. Karim Deeb spricht von seiner Flucht aus Homs, von der gefährlichen Reise übers Meer, die er, anders als mehrere seiner Mitreisenden, überlebt hat. Jetzt ist er sicher in Deutschland, mit positivem Asylbescheid, einigermaßen in die Klassengemeinschaft integriert – ein versöhnliches Ende, könnte man meinen, wenn es denn das Ende wäre. Aber das ist es nicht. Denn einerseits beschuldigt ihn plötzlich eine Mitschülerin der sexuellen Belästigung, andererseits verfolgen Karim die Schrecken des Krieges und der Flucht. Immer wieder brechen in Rückblicken Erinnerungen von der Reise durch: von Homs nach Ägypten, vom Schlauch- aufs Schlepperboot, so war der Plan. Die Schlepper haben andere Pläne. Karim wird zum Ertrinken zurückgelassen, von Polizeispitzeln gerettet und ins Gefängnis gebracht. Der Tod vor ihm ist nur geringfügig weniger sicher als der hinter ihm. Karim wagt es trotzdem. Annabel Wahba hat für ihren Roman mehrere Gespräche mit Flüchtlingen geführt: die konzeptionelle Struktur ist bei der Lektüre spürbar, das beklemmende Gefühl beim Lesen mindert das allerdings nicht. Mittlerweile wissen wir, dass Fluchtnarrative genauso ablaufen können – oder schlimmer.
cbj 2016.
249 S.
Abdullah Al-Sayed: Geflüchtet. Zuhause in Deutschland, daheim in Syrien
Syrien verlassen, über Schleuser in die Türkei, immer wieder Rückschläge erleben, durchhalten müssen und dann weiter nach Mitteleuropa - und das alles ohne Familie oder Freund*innen. Der unbegleitete Minderjährige Abdullah nimmt mit seinen ganz persönlichen, auch traumatischen Erlebnissen die Leser*innen abwechselnd mit in seine Heimat, ein kleiner Ort in Syrien, der zunehmend von Gewalt und Terror durch die IS beherrscht wird, auf die Flucht über die Balkanroute sowie nach Deutschland. Dort angekommen versucht er mit allen, ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, sich wie Zuhause zu fühlen und sich in einem Jugendheim mit neu gewonnenen Freund*innen eine Zukunft zu schaffen und seinen Platz inmitten der neuen Kultur und Sprache zu finden. Das Ankommen gestaltet sich doch um einiges schwieriger als gedacht, sieht er sich mit Anfeindung, Ausgrenzung nicht zuletzt aufgrund der Sprache und Diskriminierung konfrontiert. Glücklicherweise trifft er aber auch auf freundlichen und hilfsbereiten Menschen: In meiner Klasse zum Beispiel behandeln sie mich fast alle ganz normal. Wie Abdullah. Nicht wie einen Flüchtling.
Durch Gespräche zwischen der Herausgeberin Kerstin Kropac und dem 16-jähirgen Abullah Al Sayed erhält dieses Fluchtbuch eine autobiographische Komponenete, die es so authentisch wie kaum ein anderes macht, wobei weniger die Gewalt und der Terror im Fokus stehen, sondern das Hauptaugenmerk auf die Gefühle und die Innenwelt des jungen Flüchtlings gelegt wird.
Arena 2018.
216 S.
Michael Roher: Zugvögel
Mitte April landen die Zugvögel. Im Bild werden sie als Menschen mit Schnabelmasken gezeigt – gekleidet in bunte Stoffe mit fremden Mustern, die gleichermaßen ihre Andersartigkeit, aber auch Ähnlichkeit zu den „Einheimischen“ markieren. Der Sommer bringt Annäherung, im Herbst aber steht fest, dass die neue Heimat keine Heimat bleiben kann: „Wir sind Zugvögel. Es ist uns nicht erlaubt zu bleiben.“ Doch die tatkräftige Frau Lorenz beherbergt in ihrem, optisch deutlich an das Motiv der Arche angelehnten, Nest unterschiedliche Menschen, die nicht wissen wohin. In mitunter gemaltem Collagen-Stil und gedeckten herbstlichen Farben erzählt der österreichische Bilderbuchkünstler Michael Roher in Bild und Text sehr zurückgenommen vom Leben in der Emigration. Das verfremdende Moment der Zugvögel vermeidet zu vordergründige Botschaften, aber auch die leidige Unterscheidung in „falsche Wirtschaftsflüchtlinge“ und „echte politische Flüchtlinge“: Sie sind fremd, und sie haben wohl gute Gründe, um in die Fremde zu ziehen. Das poetische Bilderbuch verweist deutlich auf entsprechende gesellschaftspolitische Debatten und besticht durch seine zarten Illustrationen und den umso klareren Aufruf zur Menschlichkeit.
Picus 2012
32 S.
Wie Flucht in Comics und Graphic Novels dargestellt werden kann, zeigt Peter Rinnerthaler in einem wissenschaftlichen Beitrag für das Jahrbuch der Jugendliteraturforschung 2017 unter dem Titel „Die Ästhetik der Vermittlung. Die Themen Flucht und Migration in Comics / Graphic Novels“. Zur Verfügung gestellt wird der Aufsatz gemeinsam mit anderen ausgewählten Fachbeiträgen im internen STUBE-Card-Bereich.
Wer noch keine STUBE-Card besitzt, findet >>> hier Information und Bestellformular.
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