Ulf Stark und Charlotte Ramel: Meine kleine Schwester

Ein Baby-Geschwisterchen kommt – ein im Bilderbuchbereich für die Jüngeren zahllos behandeltes Thema, oft mit einer Sichtweise, die eher die problematischen Aspekte wie Eifersucht etc. behandelt und mit einem entsprechenden pädagogischen Impetus aufzulösen versucht. Der schwedische Autor Ulf Stark hingegen legt hier eine erfrischend entspannte Perspektive auf das Thema an: Der kindliche Ich-Erzähler, gezeichnet mit Himmelfahrtsnase und Fußballdress, schildert in einfachen und klaren Sätzen seine Sicht. Zuerst war sie nichts. Dann war sie ein Ball in Mamas Bauch. Jetzt ist sie meine kleine Schwester. Statt sich mit den typischen Ängsten und Problemen zu befassen, liegt der Fokus auf der Kontaktaufnahme zwischen Kleinkind und Baby. Die Mutter lässt die schlafende Schwester in der Obhut des großen Bruders kurz im Zimmer zurück, um die Wäsche zu holen. Natürlich kann er nicht anders, als sie aufzuwecken. Danach bemüht er sich hinreißend und mit allen Mitteln darum, sie zum Weiterschlafen zu bewegen. Mit einem überraschenden Ergebnis … Ein mit wenigen Strichen witzig illustriertes Plädoyer für Geschwisterliebe.
Klett Kinderbuchverlag 2018.
32 S
.

Lauren Child: Bleibt der jetzt für immer?

Solange Elmore Green sein selbstbestimmtes Kinderleben im eigenen Kinderzimmer mit den eigenen, geliebten Spielsachen und den eigenen Jelly Beans leben konnte, war alles perfekt. Doch das neue Geschwisterchen setzt diesem Traum ein jähes Ende. Es läuft ihm überall hinterher, schmeißt Elmores Spielzeug um und schleckt sogar an seinen liebsten Jelly Beans! Anfangs ist Elmore einfach nur entsetzt. Erst mit der Zeit erkennt er, dass es gemeinsam doch schöner sein kann als alleine. In reduzierten, farbenfrohen Bildern und humorvoller, pointierter Sprache versteht es die britische Bilderbuchkünstlerin eine bekannte Geschichte über das Akzeptieren-Lernen eines neuen Familienmitglieds und die Freude am Teilen in eine entzückende, originelle Erzählung zu verpacken. Besonders erfrischend ist die sprachliche Neutralität, dank der Elmores Hautfarbe im Text nicht als fremdmarkierendes Zeichen herausgestellt wird, sondern mit Selbstverständlichkeit in Lauren Childs Illustrationen eingeschrieben ist.
Aus dem Engl. v. Saskia Heintz.
Hanser 2016.
32 S.



Anne Maar und Manuela Olten: Neles kleine Schwester

So ein Kinderalltag kann auch ohne Piratenschiff reichlich aufregend sein. Dann zum Beispiel, wenn das neue Geschwisterchen sich nachts in Mamas Bauch durch Fußballspiel oder Tanz – je nach Interpretationsgeschmack – ankündigt, Nele aber ein ganz anderes Großereignis im Blick hat: Sie soll beim Schulkonzert ganz alleine auf der Flöte spielen. In ihrem gekonnt unaufgeregten Sprachrhythmus, der sich perfekt in den Leselernprozess einfügt, schildert Anne Maar das Aufeinandertreffen dieser beiden Ereignisse, die jedes für sich genug Aufmerksamkeit beansprucht hätten. Mit Gespür für die Fallhöhe zwischen den Wichtigkeiten im Leben von Erwachsenen und im Leben von Kindern wird von Neles Gefühl der Zurücksetzung erzählt. Zugegeben, man ist froh, dass ein Buch keine Tonspur hat, wenn Nele ihre Blockflöte zückt; dennoch kann es natürlich nichts Schöneres geben, als ein innerfamiliäres Kammerkonzert, mit dem für alle weiteren Nele-Bände eine Erweiterung der Figurenkonstellation eingeläutet (respektive eingeflötet) wird.
Tulipan 2015.
48 S.


Neun Uhr, zehn Uhr, ein Uhr, zwei Uhr. Als der namenlose Ich-Erzähler mit seinen ersten vagen Uhrkenntnissen nach dem Kindergarten zum falschen drei Uhr vor der Tür seines Hauses steht und niemand da ist, zieht er den Schluss: Bestimmt waren meine Eltern tot. [...] Vielleicht hatte ein Laster sie überfahren. Es sind irreale und voreilige Ängste, die den Jungen berühren und trotzdem lassen die reduzierte Sprache und die Ambivalenz der kalten und warmen Farben der illustrierten Herbstlandschaft intensiv nachfühlen, wie es sein mag, sich so allein zu wähnen. Seinen kleinen Bruder möchte er vor der bitteren „Wahrheit“ schützen: Ich durfte ihm nicht zeigen, wie furchtbar alles war. In ihrer Gemeinsamkeit versuchen sie, das Fehlen der Eltern zu kompensieren. Im Versuch sich ein Heim zurückzugeben, bauen die beiden einen Unterschlupf aus Ästen: Ein kleines hübsches Haus, in dem wir wohnen könnten, bis wir alt wären und das Abitur machten. In der Miniatur der familiären Geborgenheit geben sie sich dem kindlichen Bedürfnis nach Vertrautem hin und imitieren bestrebt das Leben mit Mama und Papa, bis diese endlich an die Tür klopfen.
Aus dem Schwed. v. Ole Könnecke.
Moritz 2009.
40 S.




Sebastian Meschenmoser: Die verflixten sieben Geißlein

In „Hänsel und Gretel“ ist es ein Geschwisterpaar, das von den Eltern im Wald ausgesetzt wird. In „Der kleine Däumling“ von Charles Perrault sind es sogar sieben Geschwister, derer sich die Eltern entledigen wollen, weil kein Geld mehr für Essen da ist. Als potentieller Festtagsschmaus hingegen wird bei den Brüdern Grimm ein anderes Geschwisterkollektiv eingeführt: die sieben Geißlein, an denen sich (wieder einmal) der böse Wolf vergreifen will. In seiner aberwitzigen Neu-Inszenierung dieses Märchens lässt Sebastian Meschenmoser den Wolf in beinahe transvestiter Maskerade auftreten. Vor dem Fressen aber kommt hier … nein, nicht die Moral, sondern die Ordnungslust. Denn der Wolf ist entsetzt darüber, in welchen Zustand die Geschwister – verflixt nochmal! – die Geißen-Wohnung versetzt haben. Der von freigestellten Zeichnungen begleitete, auch auditiv inszenierte Erzähltext wird an drei Stellen von textlosen Doppelseiten unterbrochen, über die sich schlicht das Chaos ergießt. Wohnzimmer, Küche und Kinderzimmer sind derart zugemüllt, dass die sieben Geißlein in dem Suchbild erst gefunden werden müssen. Doch der Wolf weiß mit diesem Saustall aufzuräumen: Alles eine Frage der Erziehung … 
Thienemann 2017. 
32 S.

Sarah Michaela Orlovský und Nadine Kappacher:
Neue Geschichten von Jana

Die Hauptfigur Jana geht in diesem zweiten Band mit Geschichten, die sowohl zum Vorlesen als auch zum Selberlesen wunderbar geeignet sind, schon in die zweite Klasse. Mitten in ihren Kinderalltag platzen die Eltern mit einer großen Neuigkeit: Sie bekommen noch ein Baby. Jana versucht mit aller Kraft, sich zu freuen, dabei quälen sie viele Sorgen: Dass das Baby viel süßer wird, als Jana je in ihrem Leben sein kann. Dass sich alle so über das Baby freuen, dass sie ganz darauf vergessen, Jana auch lieb zu haben. Die Mutter beruhigt sie, und so fasst Jana, tatkräftig und energisch, wie sie ist, sofort einen Plan, was nun zu tun ist: Ab jetzt übe ich schwestern. Mit Witz und Charme, aber auch viel Gespür für die innersten Nöte einer Kinderseele erzählt Sarah Michaela Orlovský von den Monaten des Wartens auf das neue Familienmitglied. Bis sich nach einer aufregenden Vollmondnacht das neue Lebensgefühl ganz von selbst und auf ganz wunderbare Weise einstellt: Schwester sein, das ist ein un-be-schreib-lich-es Gefühl!
Tyrolia 2016.
125 S
.



Anja Hitz: Fünf sind sechs zu viel

Rose ist ein Einzelkind. Bisher hat sie abwechselnd eine Woche bei ihrem Papa und eine Woche bei ihrer Mama gewohnt und kam damit ganz gut klar. In ihrer neuen Familie findet sie sich allerdings nur schwer zurecht: Ihre Mutter hat jetzt einen neuen Freund – und der bringt gleich fünf Kinder mit! Den Trubel einer Großfamilie nicht gewohnt, stößt sie sich bald an der lauten, ungestümen, frechen Art ihrer neuen Familienmitglieder. Besonders die Aufmerksamkeit ihrer Mutter mit den neuen Geschwistern teilen zu müssen, die sie bis vor ein paar Wochen gar nicht kannte, fällt der 10-Jährigen schwer. Mit der Zeit jedoch gewöhnt sie sich an das Chaos, und lernt es sogar lieben. Wenn da nur nicht das schlechte Gewissen gegenüber ihrem Vater wäre, der ja jetzt ganz alleine ist, wenn sie ihn nicht besucht. Der dänischen Autorin Anja Hitz gelingt es mit ihrer natürlichen Sprache, die kindliche Perspektive und die mit einer Patchwork-Familie einhergehenden Dynamiken und Schwierigkeiten leicht zugänglich zu thematisieren.
Ill. v. Claudia Weikert.
Aus dem Dän. v. Friederike Buchinger.
Carlsen 2019.
144 S.

Anke Kuhl: Manno! Alles genau so in echt passiert

Geschwister sind wohl neben den Eltern jene Menschen, die die Zeit der Kindheit am meisten prägen. So ist die ältere Schwester Eva, der das Buch auch gewidmet ist, eine wichtige Figur in den Kindheitserinnerungen der Illustratorin Anke Kuhl, die sie hier in kurzen Comic-Episoden erzählt. Dabei kommen ganz unterschiedliche Themen zur Sprache: Kindliche Sorgen wie die Angst vor den Nachbarshunden oder der Streit der Eltern, aber auch heitere Momente wie Mutproben oder Streiche. Ihren besonderen Reiz erhalten die Geschichten dabei durch zahlreiche Elemente aus Alltags- und Populärkultur der geschilderten Zeit der 1970er Jahre, von der bemerkenswert stabilen Frisur des Papas bis zu den Musik-Hits, die von den Kindern mit viel Begeisterung nachgesungen werden: GIMMI GIMMI GIMMI ä Mänafa Mitleid. Mit dabei ist jedenfalls die große Schwester, die sowohl Reibebaum als auch wichtigste Spielgefährtin ist. In den schwesterlichen Auseinandersetzungen wird schon mal zu ungewöhnlichen Waffen gegriffen und sich elegant mit der Klobürste duelliert ...
Klett Kinderbuchverlag 2020.
136 S.



Linde Hagerup: Ein Bruder zu viel

Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Emilie lebt Sara in einem Familiengefüge, in dem das stille Glück der Gemeinsamkeit auf Liebe gleichermaßen wie auf kleinen Ritualen im Miteinander basiert. Der Rhythmus dieser Familie jedoch gerät aus dem Takt, als Steinar zu ihnen kommt – der fünfjährige Sohn einer soeben verstorbenen Freundin der Mutter. Steinar kann sich nicht einfügen, kennt die Codes nicht und muss darüber hinaus mit seinem Verlust zurechtkommen, ohne ihn so recht zu begreifen. Sara jedoch ist stinkig. In kurzen, assoziativen Passagen schildert sie die neue Situation; wobei der besondere Sprachrhythmus der knappen Sätze Gleichgewicht und Ungleichgewicht auch stilistisch auf bemerkenswerte Weise ins Verhältnis zueinander bringt. Sie selbst kann Sara in dieser Situation nicht sein; sie selbst kann sie daher auch nicht bleiben. Sie wagt einen Rollenwechsel, um sich aus neuem Selbstverständnis heraus mit der neuen Familiensituation zu arrangieren. Und siehe da: Durch Crossdressing zum Bruder geworden, ändert sich nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre Perspektive. 
Ill. v. Felicitas Horstschäfer.
Aus dem Norweg. v. Gabriele Haefs. 
Gerstenberg 2019.
140 S.

Anna Woltz: Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte

Felicia, genannt Fitz, hat einen Gips, obwohl sie gar nicht verletzt ist, und ihre kleine Schwester Bente kurzzeitig nur neun Fingerkuppen. Nach einem winterlichen Fahrradunfall mit Papa muss die Familie ins Spital und Fitz muss mit. Es ist aber nicht die Sorge um die Schwester, die Fitzs Innenleben dominiert, sondern vielmehr die elterliche Scheidung. Um mit ihrem Kummer und ihrer Enttäuschung, mit ihrer Ratlosigkeit und Wut über die familiäre Situation für sich zu sein, begibt sie sich auf einen Streifzug durch das Krankenhaus. Dabei trifft sie auf Adam, ihren ersten Schwarm, der wenig begeistert davon ist, dass er seinen zu früh geborenen Bruder gezwungenermaßen „känguruen“ soll, weil die Eltern im Schnee feststecken. Seinen Vorbehalten zum Trotz entsteht dabei aber dennoch eine Bindung zu diesem kleinen Menschen. Mit Fitz skizziert die niederländische Autorin eine liebenswürdige, durch und durch pessimistische Figur, die durch neue Freund*innen und den ersten Schnee mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus umgepolt werden kann und ganz nebenbei den Vorteil einer Schwester entdeckt.
Aus dem Niederl. v. Andrea Kluitmann.
Carlsen 2016.
176 S.



Will Gmehling: Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel

Das Meer. Der See. Oder doch nur das Freibad? An welchem sommerlichen Wasser-Ort dem Müßiggang gefrönt wird, ist nicht nur eine Frage persönlicher Präferenzen, sondern auch ökonomischer Rahmenbedingungen. Will Gmehling erzählt von einer Familie, die soziologisch betrachtet zu den „working poor“ gezählt werden kann: Obwohl beide Eltern hart arbeiten, Papa als Taxifahrer und Mama als Verkäuferin in der Bahnhofsbäckerei, reicht in der Familie Bukowski das Geld hinten und vorne nicht, schon gar nicht für Urlaub. Doch als der zehnjährige Ich-Erzähler Alf und seine beiden etwas jüngeren Geschwister Katinka und Robbie im Hallenbad ein Kleinkind vor dem Ertrinken retten, dessen Mutter gerade mit ihrem Handy beschäftigt war, bekommen sie als Dank eine Saisonkarte fürs Freibad geschenkt und verbringen anschließend jeden einzelnen Sommertag dort. Jedes der Kinder setzt sich für diesen langen Zeitraum ein sehr konkretes Ziel, vom Sprung vom 10 Meter Brett bis zu 20 Bahnen Kraulen am Stück. Als Geschwister-Kollektiv hingegen möchten sie zumindest einmal ein richtiges, regelwidriges Abenteuer erleben und heimlich im Bad übernachten …
Peter Hammer Verlag 2019.
155 S.

Mette Eike Neerlin: Pferd, Pferd, Tiger, Tiger

Honey zu heißen muss noch kein honigsüßes Leben versprechen. Vielmehr kämpft die eloquente Ich-Erzählerin mit den Ecken und Kanten ihrer eigenen körperlichen Deformation ebenso wie mit der tragikomischen Familiensituation, die sie umgibt. Dazu gehört auch die Verantwortlichkeit für ihre jüngere Schwester Mikala, ein aus jeder Norm fallendes Mädchen mit geistiger Behinderung, deren Aktionen immer peinlich und dennoch liebenswert sind. Dann zum Beispiel, wenn sie in den unmöglichsten Situationen die Farbe ihrer Unterhose öffentlich zur Diskussion stellt. Doch Honeys positive Grundstimmung gerät selten ins Wanken. Situativ reiht sie kurze Passagen aneinander und wechselt dabei – ihren eigenen liebenswerten Fehlleistungen folgend – zwischen Handlungsorten und skurrilen Begegnungen. Letztlich aber zeigt sich, dass Honey selbst das verbindende Moment des Erzählten ist: Durch ihre Beobachtungsgabe formt sie aus den einzelnen Szenen ein schlüssiges Ganzes und sorgt dafür, dass sich die Lebenslinien ganz unterschiedlicher Menschen nicht zu verfilzten Knäueln verdichten. 
Ill. v. Felicitas Horstschäfer.
Aus dem Dän. v. Friederike Buchinger.
Dressler Verlag 2017.
160 S
.



Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Orden des Phönix

Während Harry und Hermine ihr Leben als Einzelkinder fristen, ist Ron gleich mit einer ganzen Schar von Geschwistern gesegnet, was nicht immer nur von Vorteil ist: In der Schule wird er wegen seiner abgetragenen Zaubererumhänge aufgezogen und auch die einstige Hausratte Krätze bekommt er aus zweiter Hand von Percy. Während die im fünften Band in Hogwarts verweilenden Zwillinge Fred und George, Ron und Nesthäkchen Ginny gut miteinander auskommen, spitzt sich die Situation zwischen Ron und Percy, der mittlerweile im Zaubereiministerium arbeitet und Harry daher ebenfalls zunehmend als Bedrohung betrachtet, immer mehr zu. Als wären die Ereignisse in Hogwarts rund um Oberinquisitorin Dolores Umbridge, durch die der Schulalltag und die geheimen Treffen von Dumbledores Armee zunehmend mühsamer werden, nicht schon genug, fordert Percy Ron in einem Brief auf, dass er die Bande zu seinem besten Freund kappen soll, da dieser unausgeglichen und, wie man hört, auch gewalttätig sein kann und schärft ihm ein, ja nicht den „Fred-und-George“-Weg einzuschlagen, sondern stattdessen in seine Fußstapfen zu treten, denn schließlich war er ja Schulsprecher. Wenig verwunderlich ist, dass Ron nicht auf seinen großen Bruder, der der größte Mistkerl ist, hört, sondern an Harrys Seite bleibt – bei vier anderen Geschwistern kann scheinbar ruhig auf einen verzichtet werden.
Aus dem Engl. v. Klaus Fritz.
Carlsen 2003.
960 S.

Kenneth Oppel und Jon Klassen: Das Nest

Mit dem Baby stimmte etwas nicht, … ist ein einfach wie extrem gruseliger Satz am Anfang eines Romans, der locker mit Jetzt ist schon wieder was passiert! mithalten kann. Wahrscheinlich sind es die riesigen Leerstellen, von denen der Thrill ausgeht und die im Falle dieses nervenaufreibenden Romans ein großes Fragezeichen über die im Mittelpunkt stehende Geschwister-Beziehung stellen. Steve hat soeben einen Bruder bekommen, doch Freude kommt aufgrund einer undefinierbaren Krankheit erst gar nicht auf; lediglich ein wenig Hoffnung, als ihm von engels-gleichen Wespen-Wesen ein zunächst unfassbares Angebot unterbreitet wird. Was mit den verheißungsvollen Sätzen Wir sind wegen des Babys gekommen. […] Wir sind hier um zu helfen. beginnt, lässt der kanadische Autor zum psychologischen Horror, mit ebenso düsteren wie genial zurückhaltenden Illustrationen aus der Feder Jon Klassens, anwachsen. Denn aus dem verlockenden Angebot der völligen Heilung wird ein Dilemma par excellence, das die Frage aufwirft: Wofür entscheidest du dich? Für deinen eigenen Bruder mit einer lebenslangen, unheilbaren Krankheit oder für den Tausch gegen ein künstlich gezüchtetes Baby ohne Makel und Seele?
Aus dem Kanad. v. Jessika Komina.
Dressler Verlag 2016.
224 S.




Jason Reynolds: Brüder

Die Sommerferien sollen die zwei afroamerikanischen Brüder Genie (11) und Ernie (13) am Hof der Großeltern im ruralen Virginia verbringen, während die Eltern auf Jamaika ihre Ehe eine letzte Chance geben wollen. Eine Herausforderung für die beiden Großstadtjungs aus Brooklyn – nicht einmal Internet gibt es dort, dafür aber jede Menge zu tun: Zwischen Hofkehren und Erbsenpflücken lernen sie nicht nur das Leben im ländlichen Süden der USA besser kennen, sondern auch ihren blinden, starrsinnigen Opa und ihre tatkräftige, strenge Oma, die sie aufgrund eines tiefgehenden Zerwürfnisses zwischen Vater und Großvater bisher kaum gesehen hatten. Sie entdecken ein geheimnisvolles Haus im Wald, besuchen das resolute Nachbarsmädchen Tess und füttern die Vögel in Opas besonderem, ganz persönlichem Rückzugsort. Erzählt wird die atmosphärische Familiengeschichte aus der Ich-Perspektive des wissbegierigen Genie, der eine nummerierte Liste mit (bereits über 400!) Fragen führt, die er nachgoogeln möchte. Und letztlich wird deutlich, dass Mut nicht immer Tapferkeit, sondern vor allem Ehrlichkeit und das Eingestehen von Fehlern bedeutet – selbst, oder gerade dann, wenn diese bereits weit in der Vergangenheit zurückliegen.
Aus dem Amerikan. v. Klaus Fritz.
dtv 2020.
384 S.

Jason Reynolds: Long Way Down

Es ist der gewaltsame Tod des großen Bruders, der am Beginn dieses Versromans steht. Nachdem Shawn auf der Straße von Bandenmitgliedern erschossen wurde, muss Will entscheiden, ob er jenen Regeln folgt, nach denen auch sein Bruder gehandelt hatte: 1. Nicht weinen. 2. Niemanden verpfeifen. 3. Rache nehmen. Genau eine Minute hat er dafür Zeit – so lange, wie die Fahrt mit dem Fahrstuhl dauert. Seinen zeitlich radikal verdichteten Text rhythmisiert der afroamerikanische Autor in Zeilen-, Wort- und Buchstabeneinheiten und experimentiert dabei nicht nur mit Klang, Tempo, Form und Layout, sondern auch mit dem Verhältnis von Realität und Imagination. In jedem Stock steigt ein Toter zu Will in den Fahrstuhl: Sein Onkel, sein Vater, der Mörder des Onkels, die Kindheitsfreundin, sein Bruder. Sie alle wurden zu Opfern (und teilweise auch Tätern) innerhalb jener sozialen Mechanismen, die Wills Alltag bestimmen. Eingängig und ausdrucksstark erzählt Jason Reynolds aus Wills Innenperspektive von der Dringlichkeit, den Kreislauf, in dem sich Gang-Gewalt ständig selbst reproduziert, zu durchbrechen.
Aus dem Amerikan. v. Petra Bös.
dtv 2019.
320 S.


 

Jens Raschke und Jens Rassmus: Schlafen Fische?

Menschen sterben auf vielfältige, manchmal absurde Weise, wie etwa, wenn sie mit der Gabel im Toaster herumstochern. Anders verhält es sich mit Jettes kleinem Bruder Emil, der nur sechs Jahre alt geworden und nach einer langen Zeit im Krankenhaus gestorben ist. Zurück bleiben ihre Eltern, ein großes Loch in der Familie und Jette. Eine Jette, die ratlos, traurig und wütend zugleich ist. Die eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder war, weil Mama sich nur mit ihm beschäftigt hat. Eine Jette, die nicht versteht, wie man den Tod eines Kanarienvogels mit dem eines Bruders vergleichen kann. Und die auch nicht versteht, warum man eigentlich sterben muss. Der Text, der den Tod nicht schön redet, einfach und direkt ist, setzt ein Jahr nach dem Tod des Bruders ein und arbeitet sich mit absteigender Kapitelnummerierung durch die verschiedenen Phasen der Trauerbewältigung, die Herausforderung für die Familie und die letzten und schönsten Erinnerungen, als Jettes Welt noch fast in Ordnung war. Mit jeder Menge Fragen von Jette und auch Emil nähert sich Jens Raschke auf sehr sensible, altersadäquate Weise dem Tod und allem, was damit zusammenhängt, an.
Mixtvision 2017.
64 S.

Marie-Aude Murail: Simpel

Aufeinander aufzupassen ist wohl Thema der meisten Geschwisterbeziehungen. Aber wer auf wen aufpasst, verschiebt sich, wenn einer der beiden etwas anders ist: Wie der 22-jährige Barnabé, genannt Simpel, der durch seine geistige Behinderung auf dem Entwicklungsstand eines etwa Dreijährigen ist. Sein erst 17-jähriger, also eigentlich jüngerer Bruder Colbert erträgt es nicht, dass Simpel in einem Heim leben muss und beschließt daher, die Verantwortung für ihn zu übernehmen. Die beiden ziehen in eine Student*innen-WG. Ihr spezielles Lebens- und Liebesmilieu bringt Simpel mit seiner Art ganz gehörig durcheinander: Mit Situationskomik und Witz werden die daraus entstehenden Komplikationen geschildert. Mit Simpel und Colbert ist der französischen Autorin ein ganz besonderes jugendliterarisches Brüderpaar gelungen. Ihr Zusammenleben ist zwar alles andere als „simpel“, aber bei allen Schwierigkeiten doch auch von Momenten besonderer Wärme und Zuneigung geprägt. 2017 wurde der Roman von Markus Goller als Roadmovie verfilmt, auch dort wird die Beziehung der beiden Brüder ins Zentrum gestellt.
Aus dem Franz. v. Tobias Scheffel.
Fischer Verlag 2012.
304 S.




Sarah Crossan: Eins

Ein Schwesternpaar im Teenageralter ist oft eine nicht unheikle Angelegenheit. In diesem thematisch wie formal höchst ungewöhnlichen Jugendroman hat diese Konstellation jedoch noch einmal eine andere Brisanz: Die 16-jährige Ich-Erzählerin Grace und ihre Schwester Tippi sind an der Hüfte zusammengewachsen und teilen einige Organe. Die beiden haben sich mit der Situation, die ja schon ihr Leben lang ihre Normalität ist, gut arrangiert, wissen aber, dass eines nicht passieren darf: Sich verlieben. Sarah Crossan erzählt in freien Versen im Flattersatz, die dem Text eine enorme Dichte verleihen, über die Situation der Familie, das ständige Angestarrt- und Bemitleidet-Werden, aber auch über die innige Beziehung der Schwestern. Die riskante operative Trennung ist für beide keine Option – bis die Verschlechterung ihres körperlichen Zustands sie unumgänglich macht… Das besondere Thema dieses Jugendromans wurde vom Verlag auch in besonderer Buchgestaltung umgesetzt: Erst der transparente Schutzumschlag und der bedruckte Umschlag ergeben eins, die Silhouette beider Schwestern.
Aus dem Engl. v. Cordula Setsman.
Mixtvision 2016.
400 S.

Lauren Oliver: Als ich dich suchte

Nick (schüchtern und strebsam) und ihre Zwillingsschwester Dara (extrovertiert und rebellisch) könnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch sind sie unzertrennlich. Zumindest bis zu jenem folgenschweren Autounfall, der sich wie eine Wand zwischen die beiden Mädchen drängt. Nick ist so gut wie unverletzt davongekommen, aber Daras Gesicht ist seither entstellt. In pessimistisch-patzigem Tonfall erzählen die beiden, deren Ich-Perspektiven durch eine Collage unterschiedlicher Textsorten wie Zeitungsartikel, Online-Kommentare und Tagebucheinträge ergänzt werden, von körperlicher und innerlicher Versehrtheit. Von (adoleszentem) Suchen und Finden; von falschen und echten, vergessenen und verdrängten Erinnerungen; von gelegten, gefolgten und verwischten Spuren. Gekonnt platziert die sprachgewandte US-amerikanische Autorin in ihrem atmosphärischen, bis zum Ende spannenden Jugendroman – der im Original den passenden Titel „Vanishing Girls“ trägt – jene Leerstellen, die schließlich offenbaren, warum Dara von allen mit Samthandschuhen angefasst wird und was bei dem Autounfall wirklich passiert ist.
Aus dem Amerikan. v. Katharina Diestelmeier. 
Carlsen 2017.
368 S.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit einer spezifischen Geschwister-Beziehung kann unter dem Titel „Bin ich der Hüter meines Bruders“ in einem Fachbeitrag von Simone Weiss in der STUBE-Schriftenreihe fokus nachgelesen werden.