Thema: DDR und Nachwende in Kinder- und Jugendmedien
Mauerfall und Flucht
Dort Linke: Wir sehen uns im Westen
Im April bin ich jeden Tag auf meiner lila Krücke zur Krankengymnastik in die Skalitzer Straße gehumpelt und habe mit meinem Walkman nur diesen einen Song gehört. Alle Straßen endlos, Barrikaden gab‘s für uns doch nicht. [aus: „Horizont“ von Adoro]
Es ist der 9. November 1989. In Berlin beginnen erste Hinweise darauf zu kursieren, dass Grenzposten zwischen dem Osten und dem Westen offen wären. Aber: Kann man sich darauf verlassen? Prag und Peking sind nicht vergessen. Vielleicht gibt es also nur in dieser einen Nacht die Möglichkeit, auf die andere Seite zu gelangen. Nina und Lutz, aus deren Blickwinkel die Geschichte abwechselnd erzählt wird, machen sich (vonein-ander getrennt) auf den Weg. Denn das Liebespaar wurde wenige Monate zuvor durch Ninas Ausreise nach Westberlin getrennt. Entlang popmusikalischer Einschreibungen fokussiert das schmale Buch auf die zweiperspektivische Darstellung einer bedeutsamen Nacht, in der nicht nur politische Grenzen überwunden werden. Dorit Linkes klar und detailreich gestaltete Erzählung folgt in ihrem weiteren Verlauf den beiden gegen-läufigen Bewegungsrichtungen und bürstet dabei auch ent-sprechenden Vorstellungen ein wenig gegen den Strich. Dennoch mündet die transformative Nacht in ein ganz privates, aber eben auch zeitgeschichtliches Happy End.
Carlsen 2019.
112 S.
Holly-Jane Rahlens: Mauerblümchen
Ich habe noch nie die S-Bahn genommen. Fritz hat mir erzählt, dass die Westberliner sie jahrelang boykottierten, weil sie von den Ostdeutschen, den Kommunisten, betrieben wurde [...].Und ich dachte immer, die U-Bahn in New York sei kompliziert!
9. November 1989: Holly-Jane Rahlens lässt ihren Roman fast ausschließlich in den Berliner S- und U-Bahnen spielen. Die Ich-Erzählerin Molly ist ein schüchternes Mädchen, das am frühen Tod ihrer Mutter leidet. Eigentlich ist sie mit ihrem Vater nur für ein Jahr nach Deutschland gekommen und bald soll es auch wieder zurückgehen nach New York. Als jedoch die Mauer geöffnet wird, will Molly noch schnell das Geburtshaus ihrer Mutter in Ostberlin besuchen. Auf dem Weg dorthin in der S 3 lernt sie überraschenderweise Mick (wie Jagger!) kennen. Die Begegnung, die zunächst etwas unglücklich beginnt, entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit zu einer wunderbaren Romanze, in der allerlei Unterschiede zwischen dem Leben in Ost- und West-Berlin zur Sprache kommen. Die Geschichte, die nur an einem einzigen Tag spielt, erzählt nicht nur von der steinernen Mauer, die Berlin und ganz Deutschland teilt und den damit verbunden geschichtlichen Eckdaten, sondern auch vom Einreißen persönlicher Schutzmauern. Stilsicher entsteht so eine intensive Liebesgeschichte, die mit viel Sinnlichkeit und der nötigen Ruhe den Fahrplan vom Moment des Kennenlernens bis zum ersten Kuss abfährt – vor der turbulenten Kulisse einer neu angebrochenen Zeit.
Aus d. Engl. v. Sabine Ludwig.
Rowohlt 2009.
160 S.
Dorit Linke: Jenseits der blauen Grenze
Alles ist aus Wasser. Die Quallen, die Wolken, alles nur Wasser.
Wir schreiben August 1989. Zwei Jugendliche ergreifen eines Nachts die Gelegenheit, um sprichwörtlich abzutauchen. Die Ich-Erzählerin des historischen Jugendromans wagt, gemeinsam mit ihrem besten Freund, die Flucht aus der DDR über die Ostsee. 50 Kilometer sind es, die die beiden schwimmend hinter sich lassen müssen – mit einem Seil an den Handgelenken verbunden haben, um sich nicht zu verlieren. 50 Kilometer, die sie von ihrer Freiheit trennen … Diese Erzählebene wechselt sich in dem literarischen Debüt der in der DDR aufgewachsenen Autorin Dorit Linke, die den politischen Wandel Ende der 1980er-Jahre bewusst miterlebt und auch an den Montags-demonstrationen teilgenommen hat, mit einem zweiten Handlungsstrang ab. Dieser bezieht sich anschaulich auf die Schul- und Jugendzeit sowie das Familien- und Gesellschafts-leben in der DDR. Dorit Linkes Sprache ist prägnant und verdichtet. Die physischen wie psychischen Herausforderungen der fesselnden Flucht der jungen Leistungsschwimmerin und ihres Freundes beschreibt sie eindringlich und erzählt entlang ihrer differenzierten Figurenzeichnung von Angst, Selbstaufgabe und nicht mehr länger zu verdrängender Verzweiflung.
Magellan 2015.
304 S.
Kristen Fulton/Torben Kuhlmann: Mit dem Ballon in die Freiheit
Aber konnte dieses Bündel aus bunt zusammengetragenen Stoffen sie tatsächlich bis über die Grenze tragen?
1978: Deutschland ist geteilt, die Einreise von Ost nach West verboten – und trotzdem wagen viele Menschen das höchst risikoreiche Unterfangen. Nicht anders geht es den Familien Wetzel und Strelzyk. In einem Zeitungsartikel entdeckt Vater Wetzel Fotos von Heißluftballons – und eine Idee beginnt in ihm zu keimen: die Flucht über die Grenze mithilfe eines selbst gebauten Ballons. Ungefähr so viel hat auch Günthers Sohn Peter von der Sache mitbekommen, der das ominöse Verhalten seiner Familie beobachtet. Nach nächtelangem Nähmaschinen-Rattern und Schweißgerät-Leuchten ist es schließlich soweit: Mitten in einer Septembernacht macht sich die Familie auf den Weg. So unglaublich diese Geschichte auch klingt, es handelt sich dabei tatsächlich um ein reales Ereignis. Kristen Fulton behandelt in ihrem Buch den Kern der Geschehnisse, aufbereitet in der Perspektive eines der beteiligten Kinder. Begleitet wird die Erzählung von seitenfüllenden Illustrationen von Torben Kuhlmann, die die Ereignisse um eine lebendige und detailliert gestaltete bildliche Form ergänzen.
Aus d. Amerikan. v. Jakob Hein.
Ravensburger 2019.
56 S.
Leben zwischen Ost und West
Aline Sax: Grenzgänger
Solange man nicht über die Linien hinausmalte, durfte man Buntstifte in verschiedenen Farben benutzen.
1961 Julian | 1977 Märthe | 1989 Sybille: In drei Ich-Perspektiven aus drei verschiedenen Phasen der DDR berichtet Aline Sax von dem Leben zwischen Ost- und Westdeutschland: Ihren Ausgang nimmt die Geschichte im Jahr 1961, als die Grenze noch offen war und Menschen wie die erste Erzählstimme Julian als sogenannte „Grenzgänger“ arbeiten konnten, also im Osten lebten, aber zum Arbeiten in den Westen pendelten. Dann ist von einem auf den anderen Tag die Grenze zu, seine Arbeitsstelle ebenso wie seine Freundin plötzlich unerreichbar. Julian kann sich damit nicht abfinden und plant gemeinsam mit seinem Bruder die Flucht. Die zweite Perspektive gehört seiner Nichte Marthe, die 1977 gemeinsam mit ihrem Bruder heimlich subversive Aktivitäten gegen das Regime startet und sich dabei die Weiße Rose zum Vorbild nimmt. Die dritte Sicht wiederum erlebt 1989 die letzte Phase der DDR und gehört Marthes Cousine Sybille, die erst durch eine familiäre Krise beginnt, über ein mögliches Leben außerhalb der Mauer nachzudenken. Aline Sax versteht es, ihre Fülle an Quellen und Informationen sehr stimmig in ihren ungemein spannenden, fast 500 Seiten starken Roman einzuflechten.
Aus d. Niederländ. v. Eva Schweikart.
Urachhaus 2019.
493
S.
Helen Endemann: Todesstreifen
Mein Freund Andi meinte, es sei ein Wunder, dass sie die Ost-West-Jugendwettkämpfe nicht ganz abgesagt haben, aber sie wollten wohl nicht das Gesicht verlieren.
Berlin, 1985: Ben lebt in West-Berlin und hat wenig Ahnung von den Lebensbedingungen im Osten, wo er an einem Leichtathletik-Wettkampf teilnehmen soll. Marc lebt in Ost-Berlin und steht dort als Kind einer „Republikflüchtigen“ nicht nur unter Generalverdacht, sondern auch kurz davor, in einem der berüchtigten straflagerartigen Erziehungsheime zu landen: Er muss unbedingt in den Westen, um diesem Schicksal zu entgehen. Da Marc und Ben einander zum Verwechseln ähnlich sehen, entschließt sich Marc kurzerhand dazu, gemeinsam mit zwei Freunden seinen Doppelgänger zu entführen — welcher daraufhin an Marcs Stelle im Jugendwerkhof landet und mit brachialen Methoden zu einem „anständigen Bürger“ umerzogen werden soll. Marc hingegen kann mit Bens Pass in den ersehnten Westen einreisen, um dort seine Mutter zu suchen, die schon vor Jahren aus der DDR geflohen ist … Die zweiperspektivisch aufgerollte Erzählung besticht nicht nur durch ihren spannungsreichen, krimiähnlichen Plot, sondern auch durch ihre gut recherchierten, präzise eingeflochtenen historischen Komponenten, die Einblick in die gesellschaftlichen Unterschiede von DDR und BRD wenige Jahre vor dem Mauerfall gibt.
Rohwolt 2019.
256
S.
Das schweigende Klassenzimmer. Film v. Lars Kraume
„Ihr habt euch als Freidenker zu erkennen gegeben. Ihr seid jetzt Staatsfeinde.“
Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt), 1956: Nachdem sie in einem Kino in West-Berlin von der gewaltvollen Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes gegen die kommunistische Regierung erfahren haben, solidarisieren sich die Schüler*innen einer Abiturklasse in der DDR mit den Protestierenden und halten in der Geschichtsstunde eine Schweigeminute für die Opfer ab – die im offiziellen Jargon als „Konterrevolution“ gebrandmarkt wird. Mit allen Mitteln wollen die Behörden herausfinden, wer der Rädelsführer der Gruppe ist, was die Solidarität innerhalb der Klasse auf eine harte Probe stellt. Der auf dem gleichnamigen Sachbuch von Dietrich Garastka (2006) basierende Film von Lars Krause erzählt aber nicht nur davon, wie historische „Wahrheiten“ durch mediale Berichterstattung und politische Einflussnahme produziert und manipuliert werden. Er zeigt auch, wie adoleszenter Oppositions-geist und politischer Widerstand ineinander übergehen. Heimlich hören die Jugendlichen, darunter auch Theo (gespielt von Leonard Schleicher, zuletzt „Es war einmal Indianerland“), bei einem alten Einsiedler den westdeutschen Radiosender RIAS und lernen dadurch, die unterschiedlichen Narrative zwischen West und Ost kritisch zu hinterfragen.
Film von Lars Kraume.
D 2018.
111 min.


Klaus Kordon: Die Flaschenpost
Es war einmal eine große Stadt, in der lebten zwei Kinder.
Berlin, 1980er-Jahre: Sein Ziel, mit einem Kind am „anderen Ende der Welt“ zu korrespondieren, hat der elfjährige Matze aus Ost-Berlin gewissermaßen erreicht – auch wenn es Lika aus West-Berlin ist, die ihm auf seine Flaschenpost antwortet. Die Welten der beiden Kinder, die in derselben (geteilten) großen Stadt leben und sich fortan Briefe schreiben, könnten kaum unterschiedlicher sein. Erzählt wird im Folgenden nicht in Form eines Briefromans, sondern in einander abwechselnden narrativen Perspektiven aus Matzes und Likas Sicht, die den Vorurteilen, die beide voneinander haben, die jeweiligen Lebensrealitäten gegenüberstellen. Darin, dass es wohl keine gute Idee ist, ihren Eltern von ihrer grenzüberschreitenden Freundschaft zu erzählen, sind sich die Kinder jedenfalls einig. Doch lange hält die Geheimhaltung nicht stand und die Erwachsenen äußern immer mehr Bedenken. Trotzdem wollen Matze und Lika ihren Briefwechsel nicht aufgeben und entwickeln sogar einen gefinkelten Plan, um ein geheimes Treffen zu arrangieren … Auch wenn die Geschichte wie ein Märchen beginnt, bleibt sie auf dem Boden der (historischen) Tatsachen – und erlaubt es dennoch, zu einem kindlichen Happy End hinzuführen.
Gulliver 2000 [EA 1988].
179 S.
Norbert Zähringer: Zorro Vela. Ein Märchen aus dem Kalten Krieg
Der Anblick des ersten Aliens im Leben kann einen ganz schön aus den Socken hauen. Aber – irgendwann ist halt immer das erste Mal.
1989 zwischen Ost und West: René, der tollpatschige, einzelgängerische Sohn des DDR-Grenztruppenkommandeurs hat eine Vorliebe für verbotene West-Comics wie „Die Maske des Zorro“. Als ihm eines Tages jedoch plötzlich ein sprechender Rabe, ein freilaufendes Känguru und dann auch noch sein leibhaftiger Comic-Held selbst erscheinen, zweifelt er zunehmend an seinem Verstand. Dass hinter all dem „nur“ der gestaltlose Alien Zorro Vela vom Planeten Oneiros steckt, der sich in alles verwandeln kann, was lebendig ist, trägt nicht unbedingt zu Renés Beruhigung bei. Mithilfe von vier Kindern dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs will Zorro Vela die Erde – im Universum als unterentwickelter Lügenplanet bekannt – vor außerirdischen Invasoren retten. Mit Gadgets wie Intershop-Uhren und hässlich altmodischen Brillen können die jungen Protagonist*innen durch wurmlochartige Portale über die innerdeutsche Grenze hinweg zusammenarbeiten. Ironisch gebrochen erzählt Norbert Zähringer ein abgedrehtes Alienabenteuer vor geschichtsträchtigem Hintergrund, das ein Universum voller bizarrer Planeten und skurriler Bewohner*innen entwirft.
Thienemann 2019.
336 S.
Mawil: Kinderland
i cant understand / what makes a man … / help me understaaa-haaand … [aus: „People are People“ von Depeche Mode]Ost-Berlin, kurz vor dem Mauerfall: Seinen 300 Seiten starken, autobiografisch geprägten Comic-Roman rund um den Siebtklässler Mirco Watzke verortet Mawil (d. i. Markus Witzel) in der Wendezeit. Die politische Teilung der deutschen Hauptstadt steht jedoch nicht im Zentrum der flott getakteten Geschichte. Im Mittelpunkt von Mircos jugendlichen Lebenswelten zwischen Tischtennis, Fahnenappell, Tischtennis, Winnetou, FDJ und … Tischtennis! stehen hingegen nervige Bullies in der Schule, erste Liebeserfahrungen, nächtliche Abenteuer und anderes adoleszentes Ausprobieren. Und selbst am Ende, als die bedeutenden Zeitgeschehnisse an ihrem Höhepunkt angelangt sind, stellen die jugendlichen Blödsinnigkeiten die historischen Ereignisse – zumindest für Familie Watzke – gewissermaßen in den Schatten. Den Alltag in der DDR versteht der deutsche Comiczeichner mit frechem, buntem Strich zum Leben zu erwecken. Gemeinsam mit den pointierten Dialogen in Umgangssprache, den vielfältigen popmusikalischen Anleihen und der quirrligen Figurenzeichnung fügt sich die witzige, dynamische Bild-Text-Gestaltung zu einer ausgenommen amüsanten Erzählung.
Reprodukt 2014.
280 S.
Nadia Budde: Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln
Meine Großmutter-Land war Feldfrau, mein Großvater-Land war Traktorist.
Kindheitserinnerungen an die DDR: In Form draller Bildarrangements blickt Nadia Budde zurück in ihre Kindheit im Großeltern-Land, das – stärker als eine politische Verortung – eine Anbindung an die Großeltern jenes Mädchens erfährt, das als Ich vorgestellt wird. Relevant erscheint also weniger das Schild mit der Losung „Den Delegierten des X. Parteitages. Für Frieden und Sozialismus immer bereit!“, als dessen Mutation zu Eierlegeboxen im großelterlichen Hühnerstall. Wie die beiden Alten aus der Muppets-Show, denen das Schlusswort obliegt, nahelegen, werden in Bild und Text Nummern einer Retro-Revue präsentiert: Geschult an den Gestaltungselementen des Comic werden farbstark Rückerinnerungen gepatchworkt; die damit entstehenden Bruchstücke einer kindlichen Identität verlaufen ebenso a-chronologisch wie auch un-logisch im Sinne stringenter Deutungsmuster eines „Damals“ in Ostdeutschland. Plastikansteckblumen für den Frauentag, disfunktionale Wetterhäuschen, verwirrendes Fahrstuhlambiente und schrulliges Gegeneinander von Fuchsschwanz (Landtod) und braunem Haarteil (Stadttod) stellen Kindheit noch einmal auf den Kopf. Aber Achtung! Bei Nasenbluten eben diesen Kopf bitte in den Nacken legen.
Fischer 2010.
192 S.
Nachwendezeit
Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Wir waren gekommen, um zu vergessen.
Zehdenick (alias Havelstadt) nach der Wende: Die Ich-Erzählerin Mimi wächst mit ihrem Nachbar Oliver zwischen halb zerfallenen Häusern in einer tristen Provinzstadt auf; heimlich essen sie – während die Erwachsenen feiern – in Olivers Kinderzimmer Schnapskirschen. Nach der Wende brechen die gewohnten Strukturen jedoch auseinander. Ein vermeintliches Ventil finden aufgestaute Wut und Frust in gewaltsamen Übergriffen, Brandstiftung und Ausländer*innenhass – und Mimi muss mitansehen, wie ihr Kindheitsfreund sich radikalisiert und zum Anführer einer glatzköpfigen Schlägerbande avanciert, die rechtsradikale Parolen brüllt, Hakenkreuze schmiert und ihren Anführer „Hitler“ nennt. Seine Verwandlung stellt Manja Präkels in einer eindrücklichen Balkon-Szene dar, in der historische Bilder widerhallen. In ihrem Debüt greift die Journalistin auf autobiografische Erlebnisse (über die sie 2013 in einem >>> Artikel für „Jungle World“ berichtet hat) zurück, um mit schonungsloser Präzision von der Kontinuität von rechtsextremer Gewalt zu erzählen. Szenenhaft-fragmentarisch erkundet sie die emotionalen und psychischen Folgen für die Betroffenen ebenso wie das Nicht-Darüber-Sprechen und Wegschauen der Erwachsenen.
Verbrecher Verlag 2017.
240 S.
Johannes Herwig: Scherbenhelden
Vielleicht ist es das Gefühl, nirgendwo so richtig dazuzugehören […]. Draußen zu stehen. Das vielleicht auch so zu wollen. Aber irgendwie auch Wut darauf zu haben.
Leipzig, 1995: Zufällig stolpert Nino in jene Gruppe Punks, die im weiteren Verlauf zur Triebfeder seiner Suche nach Zugehörigkeit, Sinn und Normalität in der Nachwendezeit in Ostdeutschland wird. Gewaltvolle Zusammenstöße mit Passant*innen und Neonazis gehören dabei ebenso zum Alltag wie Drogen- und Partyexzesse, eskalierende Demonstrationen und das Austesten von Grenzen. Seinen (Scherben-)Held*innen – die aus benachteiligten und/oder dysfunktionalen Familienverhältnissen stammen – legt Johannes Herwig eine flüssige, ungekünstelte Szenesprache in den Mund. Die Präsenz rechtsradikaler Ideologien während und nach der DDR wird dabei ebenso problematisiert wie das ambivalente Verhältnis zu einer Zeit, auf die man trotz aller Einschränkungen mit etwas Wehmut zurückblickt. Denn nicht für alle birgt die Wende vielversprechende Zukunftsaussichten. Adoleszente Sinnsuche werden dabei auf vielschichtige Weise mit (gesellschafts-)politischen Umbrüchen verschränkt und zeitgeschichtliche Ereignisse subtil in eine überzeugende jugendliche Ich-Perspektive eingeschrieben, die der Autor mit stimmigen pop- und subkulturellen Bezügen durchsetzt.
Gerstenberg 2020.
272 S.
Susan Kreller: Elektrische Fische
Ihr habt da übrigens irgendwas falsch verstanden. Man zieht nicht in diese Gegend, niemand macht das. Wenn überhaupt, zieht man hier weg.
Velgow, ein fiktiver Ort irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, irgendwann im 21. Jahrhundert: Der Umzug von Irland, wo sie als Tochter eines deutsch-irischen Ehepaares aufgewachsen ist, in das trostlose Heimatdorf der Mutter trifft Ich-Erzählerin Emma zwar nicht so hart wie ihre kleine Schwester Aoife, die gänzlich zu sprechen aufhört, aber wohl fühlt sie sich nicht. Als von außen kommend erlebt Emma die Trostlosigkeit und Verlassenheit dieser Gegend besonders drastisch. Susan Kreller, selbst in der DDR geboren, gestaltet einen angenehm unaufgeregten und ganz der Perspektive ihrer jugendlichen Hauptfigur geschuldeten Blick auf den Alltag in einem „neuen Bundesland“. Emma hat eigentlich immer geglaubt, gut Deutsch zu sprechen, stößt aber nun auf zahlreiche Worte und Redensarten, die sie nicht einzuordnen weiß. Sprache ist für sie nicht nur ein Werkzeug zur Kommunikation, sondern wesentlich für ihre Identität. Selbst das Meer kann Emma nicht trösten, denn die Ostsee ist nun mal nicht der Atlantik. Bis ihr Levin, der es selbst nicht leicht hat, Hilfe beim Schmieden eines Planes für eine Rückkehr auf eigene Faust anbietet ...
Carlsen 2019.
192 S.
Die DDR war auch Gegenstand eines STUBE-Freitags im November 2019. Dorit Linke sprach in einem Werkstattgespräch über ihr Schreiben und das Leben in der DDR sowie danach. Den Tagebuchbericht finden Sie >>> hier. Alle STUBE-Freitage werden auch im internen STUBE-Card-Bereich temporär als exklusives Video on demand zur Verfügung gestellt. Wer noch keine STUBE-Card besitzt, findet >>> hier Information und Bestellformular.