Am Anfang stand das Wort
Reflexion zu "Harry Potter und
der Halbblutprinz"
von Lukas Bärwald
Am Anfang stand das Wort. Und dann das Bild und dann das Wort und dann wieder das Bild. Und es war vollbracht.
1.) Wie ein umsichtiger Magier, der sich vorsichtig einem Hippogreif nähert, um ihn nicht vorschnell zu erschrecken, offenbarte sich Stück für Stück der sechste Harry Potter-Band dem Sucher. Nach endlosen Diskussionen und Beratungen, die stets in der Ungewissheit dessen endeten, das noch nicht gesagt worden ist, entdeckte sich eines Tages der Schleier dreier Kapitelnamen: "Felix Felicis", "Dracos Detour", "Spinners End". Dem Einfall hungriger Gnome in Mrs. Weasleys Garten gleich, sprossen augenblicklich eine unüberblickbare Vielzahl an mehr oder weniger absurden Theorien aus dem Boden, doch wahre und wahrhaftige Informationen gab es nicht. So wurde es schon ein Stück weit konkreter, als gleich vier komplette Zeilen dem Sucher preisgegeben wurden - eine Beschreibung eines scheinbar löwenähnlichen Mannes. Wer die Geschichte Hogwarts intus hatte, konnte schnell Schlüsse auf die scheinbare Bedeutung dieses Herren schließen, aber sollte sich dies alles tatsächlich bewahrheiten?
2.) Einige Wochen vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin der britisch-amerikanischen Originalausgabe ließen die Verlage Bloomsbury (UK) und Scholastic (USA) durch die Offenlegung der jeweiligen Coverillustration den visuellen Assoziationen des Suchers freien Lauf. Besann er sich auf deren Gemeinsamkeiten, so fiel die zentrale Rolle des Schulleiters und seines Lieblingsschülers in mysteriös-abenteuerlicher Szenerie auf. Auf dem Rückseite des amerikanischen Umschlags fand sich zusätzlich ein untersetzter Mann im Trenchcoat - etwa dieser sein Ende findender Spinner oder der vieldiskutierte Löwenmann? Fragen über Fragen unter Fragen neben Fragen. Bilder wahren also doch nicht die besseren Worte, zumindest nicht als Informationsquelle. Zwar konnte hier nicht vom konkreten Sachverhalt des Textes abgewichen werden, aber es blieben immer noch eine derart große Vielfalt an möglichen Hintergründen der Szenerie, dass die Befriedigung über neues Wissen schnell verlosch und die Ungeduld schürte.
3.) 16. Juli 2005. Der Sucher hält den Atem an und schlägt den mittlerweile auf dem Bildschirm bis zur Unkenntlichkeit auswendig angestarrten realen Buchumschlag um...
...so hatte die geschickte Vermarktungsstrategie der Verlage und der Autorin selbst vollkommen eingeschlagen, in Portionen eines hohlen Backenzahns Fülle wert Pseudoinformationen den begierig mit den Synapsen knisternden Suchern zukommen zu lassen, auf dass diese das Wort von der bevorstehenden Niederkunft des Werkes verbreiten sollten. Viele hatten sich in der extremen Vagheit der erhaschten Informationen verloren, während einige wenige einiges etwas hatten bereits kommen sehen - aber auf solche Menschen wird grundsätzlich vorher nicht gehört.
4.) Das Wort war gekommen und hatte die Bilder mit sich gebracht, die das Geschehen vor dem inneren Auge des Suchers hatten Gestalt annehmen lassen. Doch ein letztes Mal sollte noch der Vorhang unter Fragen fallen, bevor dann in einigen Jahren tatsächlich alle - nicht alle, aber sie werden schreiben, es wären alle - Fragen beantworten und alle Unklarheiten vertilgt worden sind.
Nichtsdestoweniger steht zusätzlich noch der letzte vollendende Schritt in der Wiederkehr der Bilder bevor, die sich über die Bilder des Wortes schieben und die schwächeren unter jenen verdrängend ersetzen werden. Ob allerdings der Film zum Buch vor dem literarischen Abschluss der Septologie des "Jungen, der lebt" erscheinen wird, ist zumindest fragwürdig und eher nicht zu erwarten. Also schütze man seine eigene Vorstellungswelt solange diese noch von höheren Autoritäten unangetastet bleibt bis zum Ende des nächsten und letzten Bandes - bis es dann hoffentlich nicht länger heißt "Der Vorhang fällt und alle Fragen offen."
Lukas Bärwald ist Student der Germanistik und freier Mitarbeiter der STUBE