Thema: Der Wolf kommt ...
Mario Ramos: Ich bin der Stärkste im ganzen Land!
Aus dem Französischen von Markus Weber. Moritz 2003.
Unerwartete Größenverhältnisse sorgen für ein effektvolles finales Erschrecken – zumindest beim Wolf, der noch soeben mit stolzgeschwellter Brust durch den Wald marschiert ist und einem Sammelsurium gnomenhaft wirkender Märchenwesen das Bekenntnis abverlangt hat, dass er, und nur er, der Allerstärkste und Allerschrecklichste im ganzen Land sei. Doch wer, wenn nicht er, sollte seinen Meister in jemandem so unscheinbaren wie einem kleinen grünen Kröterich finden? So zentral der Wildeste und Fürchterlichste auch erscheint, so unbekümmert zeigt sich ihm gegenüber jemand, der den Mama-Talon im Ärmel hat. Ein ebenso schlichte wie köstliches Bilderbuch, das auch noch der Erweiterung des kindlichen Schimpfwort-Repertoires dient: Denn wer rechnet schon damit, als misslungene Artischocke beflegelt zu werden?
Pija Lindenbaum: Franziska und die Wölfe. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. Moritz 2002.
Franziska ist schüchtern und traut sich fast gar nichts. Als sie bei einem Ausflug mit dem Kindergarten hinter den anderen zurückbleibt, findet sie sich plötzlich allein im dunklen Wald. Und da blinken auch schon gelbe Augen hinter den Bäumen hervor, mischt sich das Knirschen scharfer Zähne mit Blättergeraschel. Wölfe! Franziska sieht und hört sie. Und: Übernimmt mutig das Kommando über das struppige Rudel… Wald und Wölfe - symbolische Manifestationen kindlicher Ängste - werden, indem Franziska sie benennt, gleichsam spielend überwunden. Tag und Nacht werden aufgelöst; der Übergang von realer zu irrealer Ebene bleibt - der kindlichen Vorstellungswelt entsprechend - fließend und unkommentiert. Karikaturhafte Figurenzeichnung, vor allem aber die ausgezehrten Wölfe, die begeistert nach Franziskas Pfeife tanzen, erobern die Herzen der BetrachterInnen und passen wunderbar zum unbeschwerten Ton der Geschichte.
Neil Gaiman: Die Wölfe in den Wänden.
Lucy hört Geräusche in den Wänden ihres Hauses. Doch während der Rest ihrer Familie dahinter Harmloses wie Mäuse oder Ratten vermutet, weiß sie genau: Es sind Wölfe. Und wenn die Wölfe aus den Wänden kommen, so die apokalyptische Voraussage der anderen, dann ist alles vorbei. Und sie kommen tatsächlich, die Wölfe. Doch bevor das durch die furchterregende visuelle Umsetzung ausgelöste Grauen überhand nimmt, wird die Geschichte immer wieder ironisch gebrochen. Kinderzeichnungen, Fotografien, gerissenes Papier, Tuschezeichnungen – selten wurden so viele unterschiedliche Stilformen in einem Bilderbuch auf so aufregende und innovative Art kombiniert. Geprägt durch verschiedenste mediale Formen wie Videospiel, Comic und Film liegt hier ein Bilderbuchereignis der besonderen Art vor.
Illustriert von David McKean. Aus dem Englischen von Zoran Drvenkar. Carlsen 2005.

Maritgen Matter: Ein Schaf fürs Leben.
Wenn der Wolf in einer Geschichte auftaucht, kann das nichts Gutes heißen: So haben es uns die Märchen gelehrt. Das potentielle Opfer ist hier ein Schaf –in galanten Strick gewandet und mit kindlich-naiver Freude auf das Unbekannte ausgestattet. Den Wolf nimmt das leutselige Tier herzlich in Empfang und folgt ihm ohne Scheu zu einer winterlichen Schlittenfahrt nach Erfahrungen. Collagen mit starkem fotografischen Anteil setzen zwei Figuren in Szene, die reichlich konträre Erwartungen in den gemeinsamen Ausflug setzen und wie Freunde wirken. Oder können sogar wirklich Freunde aus den beiden werden? Genau im liebevoll-ehrlichen Umgang mit diesem Motiv liegt die Besonderheit dieser anrührenden Geschichte: Im Wissen um seine kulinarischen Vorlieben trifft der Wolf eine schmerzhafte Entscheidung…
Illustriert von Anke Faust. Oetinger 2003.
Cornelia Funke: Kleiner Werwolf. Dressler 2002.
Der Bub Motte wird auf dem Heimweg vom Kino von einer Art Hund gebissen – einem Hund mit seltsam gelben Augen. Die Wunde ist eigentlich nur ein Kratzer, aber Motte fühlt sich ganz seltsam danach: Beim Abendessen fallen ihm plötzlich Gerüche ganz intensiv auf, im dunklen Badezimmer kann er gut sehen und seine Hand wird irgendwie pelzig. Seine beste Freundin hat Verständnis für seine Lage und am nächsten Tag ist alles wieder normal, doch jede Nacht wieder verwandelt er sich – der Hund scheint also doch kein Hund, sondern ein Werwolf gewesen zu sein…Humorvoll erzählt die Autorin von den Nöten des „kleinen Werwolfs“, der plötzlich Appetit auf Meerschweinchen bekommt. Doch durch die tatkräftige Unterstützung von Lina und einer Lehrerin wird die Verwandlung schließlich rückgängig gemacht und Motte bewahrt sich gerade so viel Wölfisches, wie in seinen kindlichen Alltag gut integrierbar ist.
Dressler 2002.

Jack London: Wolfsblut.
1907 unter dem Titel „White Fang“ veröffentlich, zählt Jack Londons Roman bis heute zu den Klassikern der Abenteuerliteratur. Erhältlich in zahlreichen englisch- und deutschsprachigen Ausgaben wird vor dem Hintergrund des Goldrausches in Alaska vom Konflikt zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Tier, zwischen Gemeinschaft und Individuation erzählt. In der Reihe visuelle Weltliteratur werden dem Roman zahlreiche Informationen beigestellt: Bildmaterial und Erklärungen in Marginalspalten geben Einblick in den historischen und entstehungsgeschichtlichen Background des Buches und liefern darüber hinaus allerlei Interessantes über den Wolf selbst. Wer sich trotz allem ein wenig Lesefaulheit gönnt, dem sei an dieser Stelle Randal Kleisers Verfilmung mit Ethan Hawke und Klaus Maria Brandauer empfohlen, die die Geschichte so weit als möglich von ihrem Pathos befreit und von der faszinierenden Dynamik einer Mensch-Tier-Beziehung erzählt.
Illustrationen von Philippe Munch. Aus dem Amerikanischen von Rainer von Savigny. Gerstenbergs visuelle Weltliteratur 2002.
Käthe Recheis: Wolfsaga. dtv 1997.
„Molse Mawa“ wird Käthe Recheis von einem Indianerstamm genannt – Beschützerin des Wolfes. Immer wieder positioniert sie diese Tiere in ihrem Werk als Leitfiguren eines verantwortungsvollen Miteinander – doch in keinem Text widmet sie sich dem Wolf so umfangreich wie in dieser Saga, die ausschließlich unter Wölfen spielt: Gezeigt wird Schöpfungsverantwortung an einer Beispielgeschichte, die Käthe Recheus in einer mythischen Zeit ansiedelt, als noch alle Wesen Waka, dem Gesetz der Schöpfung, gehorchen; bis ein Riesenwolf aus dem Norden dieses Gesetz bricht und mit seinem Rudel Zahllos seine Rasse über alle anderen stellt. Seinem falschen Sendungsbewußtsein und dem Sog der Masse stellt sich ein einziges Rudel entgegen, dessen Stärke in seiner Sanftmut liegt. Mit höchster Konzentration und sprachlichem Niveau wird ungemein spannend vom Rudelverhalten der Wölfe erzählt – eingebettet in eine symbolträchtige archaische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse.
Michelle Paver: Wolfsbruder. Chronik der dunklen Wälder (Band 1 von 6). Aus dem Engl. von Katharina Orgaß und Gerald Jung. cbj 2005.
Die Erzählung bezieht ihre Handlung aus einer menschlichen Frühzeit von Jägern und Sammlern, in der nomadische Familien ihr Leben inmitten einer ungebändigten und übermächtigen Natur organisieren. Der 12-jährige Torak und sein schamanischer Vater leben in dieser Welt als Außenseiter. Als Torak mehr über die Hintergründe erfahren soll, ist es schon zu spät: Ein Bär, von dem ein mächtiger Dämon Besitz ergriffen hat, ermordet seinen Vater. Er selbst kommt knapp mit dem Leben davon. Und findet zu allem Überfluss einen jungen, kaum überlebensfähigen Wolf, der als einziger seines Rudels ein Hochwasser überlebt hat. Aus der Schicksalsgemeinschaft der beiden entwickelt sich eine über die natürlichen Grenzen hinausgehende Freundschaft, ja Bruderschaft zwischen Tier und Mensch. Der sprachlich reichen und bildstarken Erzählung gelingt in außerordentlicher Weise die Nachahmung der wölfischen Sichtweise und Sprache. Die Handlungsfolge bleibt im Schema eines Abenteuer- und Fantasy-Mixes mit einer geheimnisvollen Prophezeiung über Toraks besondere Beziehung zum Wolf und die Jagd auf den Bären. Ab 12 Jahren

