Krötenarchiv
2010
Kröte des Monats Dezember 2010

Ravensburger 2010
128 S., € 15,40
Franz Kafka / Stefanie Harjes: Kafka
Kafka also. Es gibt wohl kaum einen Autor, zu dem nicht jede und jeder ein so festgelegtes Bild im Kopf hat (auch wenn dieses mehr von kursorischer Schullektüre als von intensiven Leseerfahrungen geprägt sein mag): Die Ausweglosigkeit des "Prozeß", die Verunsicherung der "Verwandlung", die Verzweiflung des "Briefs an den Vater". Dieser oft mit Kafka verbundenen Düsterkeit und Schwere wollte Stefanie Harjes mit ihren Illustrationen bewusst entgegensteuern, die weniger beachtete leidenschaftliche Seite an ihm zum Vorschein bringen, so berichtete sie im November bei einem Werkstattgespräch in der STUBE. Anders als bei den bisher von ihr illustrierten Stoffen der Weltliteratur hat sie die Textauswahl hier selbst vorgenommen – und sich dafür sehr genau mit Kafkas Werken auseinandergesetzt. Die Intensität dieser sehr persönlichen künstlerischen Begegnung ist auf jeder Seite spürbar: Die verstörenden, oft rätselhaften Texte werden von Bildern begleitet, die ebenfalls meist in der Nacht entstanden sind. Der eigene Arbeitsprozess wird dabei immer wieder unterbrochen, etwa wenn sich Harjes' alter ego Betty Protest zu Wort meldet – und damit Ausblicke aus der Geschlossenheit der Texte bietet. Gekritzelt, collagiert und gestempelt, in knalligem Pink genauso so wie in asketischem Schwarz-Weiß finden sich Bildkompositionen, die nicht der Versuchung erliegen, Franz Kafkas Texte ausdeuten zu wollen, sondern vielmehr ihrer Rätselhaftigkeit und Vielschichtigkeit visuell nachspüren. Die im Rahmen der Schullektüre oftmals strapazierte Leitfrage "Was wollte uns der Autor damit sagen?" wird hier bei der Interpretation konsequent verweigert: Harjes versucht niemals, den Texten eine Aussage abzuringen, sondern nähert sich ihnen in Form von stark durch das Figurale geprägten Momentaufnahmen, von möglichen Annäherungen. Dieser respektvollen Zurückhaltung entspricht auch der deutliche Versuchscharakter der Bilder: Handschriftliche Notizen, Durchstreichungen, sogar Übermalungen signalisieren, dass jede Kafka-Lektüre letztlich immer ein Versuch bleiben muss. Kafka also: Gewiss keine leichte Kost für den Advent – dafür aber ein umso schöneres Geschenkbuch für all jene literaturinteressierten Menschen, die Lust haben, ihr bisheriges Kafka-Bild gehörig ins Wanken zu bringen.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats November 2010
Hanser 2010
144 S., € 15,40
Monika Helfer / Michael Köhlmeier: Rosie und der Urgroßvater
Geschichten zu erzählen spielt eine große Rolle, wenn es darum geht, Traditionen weiterzugeben und lebendig zu erhalten. Und Geschichten haben eine besondere Faszination, wenn sie von einer Welt berichten, die in dieser Form unwiderruflich verloren ist: Wie jene der jüdischen Bevölkerung in "der kleinen Stadt Hohenems in Austria Europe", von der ihr Urgroßvater Rosie, einem New Yorker Mädchen, jeden Mittwochnachmittag erzählt. Es sind Geschichten voller Gewitztheit und Humor: Wie jene der folgenschweren Verwechslung zwischen dem christlichen Erlöser und dem jüdischen Messias oder des Milchig-Löffels, der den anderen Löffeln eine flammende Rede hält, denn der Löffel ist schließlich der Komiker unter den Bestecken. Von den ausgeschmückten Erlebnissen der anderen kommt der Urgroßvater irgendwann auch zu seiner eigenen (Lebens-)Geschichte – die geprägt ist von der endgültigen Vertreibung der jüdischen Menschen aus Hohenems:
"Dort war er selbst ein Kind gewesen und hat gern dort gewohnt, bis er nicht mehr gern dort gewohnt hat. Wenn er nämlich weiter dort gewohnt hätte, hätte er sich verstecken müssen, und wenn man ihn erwischt hätte, wäre er wie seine Mutter und sein wilder Bruder Eugen in ein Lager gekommen, und man hätte nichts mehr von ihm gehört, wie man bis auf den heutigen Tag nichts mehr von seiner Mutter und seinem wilden Bruder Eugen gehört hat."
Dennoch liegt der Schwerpunkt dieser literarischen Miniaturen nicht auf der Shoah, sondern auf der Vielfalt jüdischen Lebens und Brauchtums – ein Zugang, der auch jener des Jüdischen Museums in Hohenems ist, dem dieses Buch seine Entstehung verdankt: Monika Helfer und Barbara Steinitz, von der die beeindruckenden Bilder stammen, gestalteten die dortige Dauerausstellung für Kinder – die dafür verfassten Texte wurden von Monika Helfer und Michael Köhlmeier zu den Geschichten von Rosie und dem Urgroßvater weiterentwickelt, die wiederum oft jenen Geschichten ähneln, die Nachkommen von Hohenemser Juden zu erzählen wissen. Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, hat ein Glossar und ein Nachwort verfasst, sehr informative Texte, die die Geschichte mit ihrer Lust an Übertreibung und Ausschmückung in konkrete historische Kontexte einordnen. In jeder der kurzen Episoden spielt neben der Vergangenheit, die der Urgroßvater in seinen Geschichten so lebendig werden lässt, auch die Gegenwart der Familie eine Rolle: Die Unstimmigkeiten zwischen dem Urgroßvater und seiner Tochter, Rosies Großmutter, aber auch kleine Zwistigkeiten zwischen Rosie und dem Urgroßvater haben ihren Platz. Und wenn es um die Geschichte des Urgroßvaters und seiner großen Liebe geht, kommen schließlich die Geschichten der Vergangenheit und der Gegenwart zusammen…
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Oktober 2010
Hoffmann und Campe 2010
40 S., € 16,50
Wolf Haas / Teresa Präauer: Die Gans im Gegenteil
Der Frage nach der modischen Gewandung von Bilderbuchfiguren gehört seit langem zu einem Lieblingsthema der STUBE. Mit seinem Erstlingsbilderbuch "Fridolin Franse frisiert" hat Michael Roher im Frühjahr das Interessensfeld erweitert und den Bereich der modischen Haartracht mit eingebracht, für den bereits Nadia Budde in "Eins Zwei Drei Tier" die Grundlagen gelegt hat: "Glatt Lockig Kraus Maus" hieß es dort in den minimalistischen (und preisgekrönten) Reimen. Auch der österreichische Erfolgsautor Wolf Haas hat sich dem Reimschema nicht verwehrt, wenn er den Fuchs mit Entsetzen eine frisurtechnische Indisposition feststellen lässt: "Dieser Fuchs lief zu schnell. / Darum wuchs sein Fell / in die falsche Richtung."
Indignierter Blick und mit heftigen Buntstiftringeln vorgetragene Verlockungen geben Zeugnis davon, als der Fuchs sich im Teich spiegelt. Sein Vollkommenheitsdrang ist in Unordnung geraten und schon folgen ihm die Bildanordnungen: Die klar begrenzten Bilder verrutschen innerhalb der Doppelseiten, scheinen auf dem Kopf zu stehen, wenn der Fuchs verzweifelt zetert:
"Wie unsympathisch! Diese Schämfrisur / macht automatisch / eine Problemfigur!"
Doch als er schon sein wehleidig-männliches "Ich bin verloren!" in die Welt schreit, kommt das der Gans zu Ohren, die im Schnatterton ihre Hilfe anbietet:
"Ich kann's! / Ich bin die Gans! / Ich mach es wieder heil. / Ich bin die Gans im Gegenteil."
Ein simpler Umkehrschluss jedoch führt hier nicht zum Ziel. Das Wechseln der Windrichtung ("Er rennt los / arschvoran / und virtuos / so schnell er kann.") bringt nicht den erhofften Erfolg. Erst die Radikalkur des Wellenkamms (der in anderer Variante des Wortspiels auch bei Michael Roher zum Einsatz kam) zeigt, dass die Gans weder singen noch föhnen kann; doch wenn sie schnattert und "zum Rettungseinsatz flattert" darf man auf Erfolg hoffen. Außer natürlich, auch ihre Flugbahnen geraten durch Bilddrehungen außer Kontrolle …
Wolf Haas hat bereits als Werbetexter seine Lust daran unter Beweis gestellt, die Sprache auf den Punkt zu bringen. Und auch in den Brenner-Texten war ihm ein spezifisch österreichischer Versuch, die Sprache auf Klang und Wortbedeutungen hin zu befragen, eigen – mit dem er nun im kinderliterarischen Bereich die Tradition des Sprachspiels fortsetzt und die Freude am Sinnentleerten auf ebenso kluge wie witzige Weise zelebriert. Als Illustratorin gewinnt er die Salzburger Künstlerin Teresa Päauer, die – ebenfalls neu im Bilderbuchbereich – zeigt, dass die wilden Linien von Buntstiften allemal der braven Konturierung von Figuren vorzuziehen ist.
Obwohl auf dem Badeschiff in Wien präsentiert, ist Wolf Haas' erstes Bilderbuch mitnichten ein Schlag ins Wasser – schon allein deswegen, weil er es ohne den seinen Autorenkollegen aus der Allgemeinliteratur so gerne eigenen Gestus der Liebenswürdigkeit gegenüber einer intendierten Zielgruppe präsentiert.
Heidi Lexe
Kröte des Monats September 2010
Mit Bildern von Ulf K.
Aus dem Schwed. v.
Friederike Buchinger.
Gerstenberg 2010
168 S., € 13,40
Frida Nilsson: Ich, Gorilla und der Affenstern
Jonna verbringt ihre gesamte Kindheit in einem Waisenhaus, bis eines Tages ein klappriger Volvo die frisch geharkte Auffahrt hinauffährt und die darin sitzende Gorillafrau das Mädchen adoptiert. Von da an lebt sie mit ihrer neuen Mutter in einer heruntergekommenen Wohnung auf einem Schrottplatz und lernt ganz nebenbei noch Autofahren. – Der Teil mit dem Gorilla ging Ihnen ein wenig zu schnell und viel zu selbstverständlich erzählt über die Bühne? Dann haben Sie bereits eine der Essenzen dieses schwedischen Kinderromans nachempfunden. Wie in der literarischen Form einer Novelle könnte auch hier als unerhörte Begebenheit das menschliche Agieren eines Tieres im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Doch dient die Figur der Gorilla-Mutter nicht als Anlass für Pointeneskapaden über Bananenfixierung, auf Bäume klettern etc. Vielmehr steht sie als Symbol für Menschen, die auf Grund ihres Äußeren an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Und so müssen Gorilla (denn Bezeichnung und Eigenname sind hier ein und derselbe) und Jonna, das Mädchen, das als einziges sich dem strengen Ordnungs- und Sauberkeitsregiment der Heimleiterin widersetzt, schon fast zwangsläufig zueinander finden.
"Meine Haare wurden immer struppiger und meine Jeans dreckiger und dreckiger. Eigentlich konnte ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gab, die es anders lieber mochten. Wer hatte schon Zeit, sich zu waschen und Betttücher auszuschütteln […] oder auf Gorillas Schoß zu sitzen, Eierbrote zu essen und dem Regen zuzuhören […]."
Doch selbstverständlich verläuft die Annäherung zwischen den beiden nicht komplett reibungslos. Die Ich-Erzählerin muss sich selber erst durch gemachte Erfahrungen in die Lage versetzen, den humorvollen, unkomplizierten und warmherzigen Kern Gorillas jenseits des ungewaschenen und ungeordneten Äußeren zu erkennen. Aber nachdem dieser Zustand der immer stärkeren Annäherung und Zuneigung angebrochen ist, tritt plötzlich eine äußere Bedrohung auf den Plan: Der raffgierige Bürgermeister will unbedingt das Grundstück des Schrottplatzes aufkaufen, um dort "das größte Schwimmbad Nordeuropas" zu errichten. Und um sein Ziel zu erreichen, schreckt er auch vor Intrigen und Betrug nicht zurück, sodass nach einem ersten Happy End der Kinderroman noch einmal zu einem tempo- und spannungsreichen Schlussspurt ansetzt.
Nach "Ich, Dante und die Millionen" legt Frida Nilsson mit "Ich, Gorilla und der Affenstern" einen zweiten Text nach, der in seiner Skurrilität und dem enormen Ideenreichtum erneut zu überzeugen weiß. Die Autorin erzählt eine Geschichte, die auf verschiedenen Ebenen den Blick der Leser*innen unter die Oberfläche lenken möchte: Das, was auf den ersten Blick Aufsehen erregt, bildet nur die Hülle, unter welcher der eigentliche Kern zu finden ist. So geht es nicht um die Herz erwärmende Geschichte einer Lassie/Fury/Flipper-Freundschaft zwischen Mensch und Tier, sondern vielmehr um das tiefe Verständnis zweier Wesen füreinander, die sich beide nach einer Nähe sehnen, die Ihnen die Gesellschaft auf Grund ihrer oberflächlichen Beurteilung bewusst vorenthalten hat.
Lukas Bärwald
Kröte der Monate Juli und August 2010
Illustriert von Hannes Binder
Nagel & Kimche 2010
76 S., € 10,90
Dorothea Binder: Das Heidi-Kochbuch. Schweizer Rezepte
Wenn die sommerliche Hitze in den Niederungen drückend wird, lohnen ein paar Tage in den höheren, kühleren Gefilden der Alpen. Man erinnere sich darüber hinaus an die kräftigenden Bergkräuter und die nahrhafte Ziegenmilch, mit denen der Alm-Öhi aus seinem Enkelkind in kurzer Zeit ein gesundes, kräftiges Mädchen gemacht hat. Noch deutlich verheißungsvoller klingen die älpischen Geheimnisse gesunder Ernährung, wenn sie in schweizerdeutschen Outfit auf den Tisch gebracht werden: Allerlei Köstlichkeiten zum Zmittag und zum Znacht, zum Znüni und zum Zvieri werden hier dieserart präsentiert. Mit dabei sind Geduldszeltli – und dieserart gestärkt macht man sich freudig ans Entziffern jener Köstlichkeiten, die Heidi, der Großvater und ab und an auch der Geißenpeter zubereiten. Die würzigen Kräuter, die das von der Stadt geschwächte Heidi einst so rasch wieder zum kernig-gesunden Alpenkind gemacht haben, geben dabei den geschmacklichen Grundton an: Sie sind zum Beispiel in den Härdöpfel-Tätschli eingearbeitet – die übrigens auch Tütschli genannt werden können. Oder in der österreichischen Übersetzung Erdäpfeltascherl. Aber wen interessiert das schon, wenn es gilt, Chrüsimüsi auszuprobieren (über das als letzten Schritt übrigens Wienerli verteilt werden). Zu den nach Suppen, Hauptspeisen, Happen für Zwischendurch und Desserts gruppierten Rezepten werden jeweils die Zutaten genannt und leicht nachvollziehbare Anleitungen gegeben. Gemessen wird angenehm vereinfachend nach Esslöffeln, Teelöffeln und Dezilitern, gekocht mit überschaubarem zeitlichem Aufwand und mit nahrhaften, das "Ursprüngliche" betonenden Zutaten. Als roter Faden ziehen sich kurze Dialoge zwischen dem Großvater und Heidi als Kopf- oder Fußzeilen durch die ohne grafischen Schnickschnack und doch elegant gestalteten Seiten, in deren großzügigen Weißanteil Hannes Binder (der Illustrator der zuletzt erschienenen Neuerzählung von "Heidi" aus der Feder von Peter Stamm) kleine lukullische Alp-Vinetten streut. Wer also braucht Jamie Oliver, wenn er Älpler-Polenta serviert bekommen kann?
Heidi Lexe

Residenz 2010
128 S., € 19,90
Gerda Anger-Schmidt/Renate Habinger: Das Buch, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Kräuter und Gewürze von Augentrost bis Zimt
"SPITZWEG, Erich
Spitz weg, Erich!
Spitz weg? Er? Ich?
Spitzwegerich."
So lustvoll und kreativ wie dieses kurze Wortspiel zum Spitzwegerich (lateinisch Plantago lanceolata, aus der Familie der Wegerichgewächse) ist die gesamte Konzeption dieses ungewöhnlichen Kräuterbuches: Der Spitzwegerich beispielsweise findet sich logischerweise unter H, wo er mit Eibisch, Huflattich und Thymian unter dem Titel "Die Hustenbekämpfer" zusammengefasst ist. Andere Bereiche sind zum Beispiel die "Formensprache des Blattrandes" unter F oder "Eistee und andere Erfrischungen" unter E (ein Thema, dem sich die STUBE bei ihrem Sommerfest widmen wird – Näheres dazu siehe unten). Jede Pflanze ist von Renate Habinger kunstvoll naturgetreu abgebildet und wird von witzigen, detailreich gestalteten Figuren begleitet. Symbole geben an, welcher Teil jeweils für welches Anwendungsgebiet geeignet ist – von der äußerlichen Anwendung als Bad oder Umschlag bis hin zum Tee. Neben den entsprechenden Rezepten ist eine Fülle an unterschiedlichen Textsorten versammelt: Lieder, Rätsel, Gedichte und (wie in einer der kongenialen Kooperationen von Renate Habinger und Gerda Anger-Schmidt nicht anders zu erwarten) natürlich Bauernregeln mit ganz konkreten Hinweisen für die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Kräutern im Alltag, denn: "Ist dein Nervenkleid zerschlissen, ruh dich aus und schlürf Melissen." Bei der Beschäftigung mit Kräutern ist unter anderem der Geruchssinn ganz entscheidend – so ist über das gesamte Buch hinweg Wilhelm Hauffs Märchen vom Zwerg Nase, aufgeteilt in 12 Abschnitte, zu lesen. Die beigelegte Duftkarte macht Lust darauf, sich all die wunderbaren Düfte von Anis bis Zwiebel ganz natürlich im Original zu Gemüte zu führen – zum Beispiel beim Kräuter-Sinnes-Erlebnis von Sonnentor, zu dem auf der letzten Seite des Buches eingeladen wird, im nächstbesten Garten oder natürlich beim Sommerfest der STUBE – inklusive Kräuterbuffet.
Kathrin Wexberg

Hinstorff 2010
48 S., € 15,40
Ulrich Plenzdorf/Stefanie Harjes: Gutenachtgeschichte
Ein anthropomorphisiertes Schaf räkelt sich auf einem Papierteller, unter seinen (oder ihren?) hohen violetten Stiefeln blitzen Spitzenstrümpfe hervor. Schon am Cover wird also klar: Eine Gutenachtgeschichte im Sinne von beschaulichem Schäfchen zählen und anschließendem entspannten Einschlafen gibt es hier nicht. „Wisst ihr, was eine Gutenachtgeschichte ist? Ich auch nicht. Wisst ihr, wie eine Gutenachtgeschichte geschrieben wird? Ich auch nicht.“ Die Erzählstimme tritt also von Anfang an in Dialog mit den Leser*innen – und dekonstruiert von Anfang an die Textsorte, die sie vorgibt, schreiben zu wollen. Daraus entspinnt sich eine Fülle an Überlegungen über das Leben (von Kindern und Erwachsenen) und die Literatur: Von der etwas ungehaltenen Erklärung, was ein Pseudonym ist bis hin zur Erkenntnis, dass Kollegen sind schlimmer als Kinder. So vielschichtig und ungewöhnlich wie Ulrich Plenzdorfs Text (erstmals 1983, damals mit Illustrationen von Rolf Köhler, bei Suhrkamp erschienen) sind die Bilder, die Stefanie Harjes dafür findet: Ölkreidegekritzel wird mit elegant gekleideten Insekten, gestempelte Zahlen mit übermalten alten Fotografien kombiniert. Hier wird nicht der Text von Illustrationen begleitet (wie es so oft etwas abwertend heißt), auf manchen Seiten wirkt es eher so, als wäre der Text in die detailreich gestalteten Illustrationen hineingestellt. Der Text geht am Ende des Buches zu seiner Ausgangsfrage nach der Gutenachtgeschichte zurück – die Illustrationen laden ein, noch ein wenig zu sinnieren und sich im Zurückblättern weiter auf die Suche nach ihren möglichen Bedeutungsebenen zu machen.
Kathrin Wexberg

Aus dem Engl. v.
Klaus Fritz.
dtv 2010
200 S., € 13,30
Jenny Valentine: Kaputte Suppe
Der englische Originaltitel dieses Buches lautet "Broken Soup" – ein Oxymoron, das in seiner Widersprüchlichkeit noch deutlicher als die Übertragung ins Deutsche zum Ausdruck bringt, dass Einiges nicht so läuft, wie es eigentlich sollte. Seit ihr älterer Bruder Jack vor zwei Jahren tödlich verunglückt ist, ist für die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Rowan nichts mehr, wie es vorher war: Der Vater ist ausgezogen und kommt nur sporadisch vorbei, die Mutter nimmt schwere Psychopharmaka und ist vollkommen apathisch. Rowan übernimmt es, sich um ihre kleine Schwester zu kümmern, Einkauf und Haushalt zu erledigen – für Freund*innen und Freizeit bleibt ihr kaum noch Zeit. Doch dann reicht ihr ein attraktiver Bursche im Supermarkt ein Foto-Negativ, von dem er behauptet, es sei ihr aus der Tasche gefallen. Bee, ein Mädchen aus ihrer Schule, hat die Szene beobachtet und bietet ihr an, das Bild zu entwickeln – mit einem überraschenden Ergebnis. Daraus entspinnt sich eine Reihe an Verwicklungen, die neben einer hinreißend geschilderten ersten Liebe und der kathartischen Eskalation der familiären Situation auch die Erkenntnis bringen, dass zu ihrer Familie mehr Menschen gehören, als Rowan gedacht hat: Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Wie schon in ihrem ersten Roman "Wer ist Violet Park?" skizziert die britische Autorin Jenny Valentine (die unter anderem Goldschmiedin und Verkäuferin in einem Bioladen war) ihre Figuren mit einer gelungenen Mischung aus Komik und Tragik, flapsiger Teenagersprache und tief empfundener Verzweiflung. Die deutsche Band "Wir sind Helden" besingt in ihrem Lied "Kaputt" familiäre Verstrickungen, die denen in "Kaputte Suppe" durchaus ähneln – und kommen im Refrain zu einer Schlussfolgerung, die auch für Hauptfigur dieses Jugendromans gilt: "So viel kaputt/aber so vieles nicht/Jede der Scherben/spiegelt das Licht/So viel kaputt/aber zwischen der Glut/zwischen Asche und Trümmern/war irgendwas gut."
Kathrin Wexberg
KAUZ des Monats März 2010
Sauerländer 2010
32 S., € 15,40
"Ein komischer Totenvogel mit romantischer Tendenz" – so charakterisierte Autor Christoph Mauz in der aktuellen Nummer von 1001 Buch den Kauz und schlug vor, die STUBE könnte doch künftig den "Kauz des Monats" verleihen. Das lassen wir uns natürlich nicht zweimal sagen und haben Mauz eingeladen, im Monat März einen Kauz aus der aktuellen Buchproduktion zu vergeben – hier also ausnahmsweise nicht die gewohnte Kröte, sondern ein Kauz des Monats:
Saskia Hula/Ulrike Möltgen: Bei 3 auf den Bäumen
Man stelle sich folgendes vor: Es ist Gemeinderatswahlkampf in Wien. Ein Popanz, nennen wir ihn Heinz Christian, läuft aufs Doppelte aufgeplustert durch den Großstadtdschungel und brüllt: "Liebä Wänarännen, liebä Wäna, äch zählä jätzt bäs drei. Bei drei sänd allä auf dän Bäumän! Und wähe, wänn nicht!" Die angesprochenen Bewohner Wiens reagieren nach der Devise "Nua ka Verdruss net!", und schleppen sich auf sämtliche Alleebäume, derer sie habhaft werden können. Gern machen es die meisten ja nicht, aber wer am lautesten schreit, der hat unter Umständen ja auch ein bisserl recht. Ein paar Renitente denken sich zwar "Gusch, Depperter!", aber auch sie erklimmen mühevoll den einen oder anderen narrischen Kastanienbaum in der Hauptallee. Aus dieser sicheren Position spucken sie heimlich auf den brüllenden Heinz Christian, wenn er vorbeimarschiert. Freilich ohne ihn zu treffen.
Da kommt auf einmal ein ziemlich kleiner Mensch daher, mit kurzen stacheligen Haaren und von entspanntem Wesen. Dieser kleine Mensch sagt: "Is recht!", "Jaja!" oder "Super Stimme!" Sonst schert sich dieses prächtige Menschlein einen Dreck um den brüllenden Popanz. Der wird natürlich wütender und wütender: "Das gilt auch für so Sitzriesän wä däch!", schreit er, und seine Stimme überschlägt sich. Nützt natürlich überhaupt nichts. Das kleine Menschlein bleibt stur, denkt sich "Schmeck’s, Kropferter!", und stapft freundlich lächelnd weiter, als wenn nix wär. Da versagt dem Popanz die Stimme.
Und plötzlich, ganz plötzlich hat der Popanz seinen Schrecken verloren. Gelegentlich kann man ihn noch krächzen hören, aber es schert sich keiner mehr um ihn. Außer vielleicht ein paar Narbengesichtern in bierdampfigen Hinterzimmern …
In Saskia Hulas neuestem Buch, farbenprächtig illustriert von Ulrike Möltgen, spielt der Wiener Gemeinderatswahlkampf natürlich keine Rolle (die Bilder wären dann wohl nicht so schön anzuschauen), aber ich habe selten eine so virtuos erzählte Bilderbuchgeschichte gelesen, die sich augenzwinkernd mit Schreihälsen, Wichtigtuern und falschen Autoritäten auseinandersetzt. Es ist Saskia Hulas ganz besonderes Talent, wichtige Themen in witzige Geschichten zu verpacken, in knapper, kindgerechter Sprache flott und flockig zu erzählen, was Sache ist. Das gelingt ihr wohl deshalb, weil sie zum einen ihr Ohr direkt an der Zielgruppe hat, und zum anderen, weil ihr Radar sehr ausgeprägt ist für kleine und große Ärgernisse, Sehnsüchte und Probleme, die Kind oder Mann oder Frau eben hat.
Im vorliegenden Bilderbuch ist der Popanz kein Wiener Lokalpolitiker, sondern ein Tiger. Es scheint nach der Lektüre erstrebenswert, ein kleines, widerständiges Stachelschwein zu sein, das sich nicht von ihm beeindrucken lässt, sondern stur und freundlich seinen Weg geht. Auch das habe ich in Saskia Hulas Buch gelesen und gesehen, und mich sehr darüber gefreut.
Christoph Mauz
Kröte des Monats Februar 2010
Residenz 2009
128 S., € 12,90
Christoph Mauz: Motte Maroni. Angriff der Schrebergarten-zombies
"The Brain Eaters", "Die Nacht der lebenden Toten", "Dawn of the Dead", "Resident Evil" oder "28 Days Later". Die Tradition des Zombiefilms ist so lang wie grauslich. Auf Hunger und Instinkt reduzierte zum Leben erweckte Tote gieren schon seit den 1930er Jahren nach den Kehlen ihrer Opfer und entbehren trotz allen Schreckens nicht einer gewissen Komik. Eben jene hat sich auch die Kinderliteratur zu Nutze gemacht, um die publikumswirksamen Untoten einer Literarisierung zu unterziehen. Selten wurde dies so gekonnt gelöst wie von Vorleseakrobat Christoph Mauz, der die notwendige Selbstironie des Horrors mit einer neuen Kinderbuch-Reihe kongenial auf die Spitze treibt: Gar beschaulich beginnt der Serienauftakt um Motte Maroni, Sohn eines Meeresbiologen auf Forschungsreise, der in den Sommerferien zwecks Aufsichtspflicht zu seinem Onkel Schurli ins Stammersdorfer Schrebergartenidyll gebracht wird. Ordentlich Lokalkolorit, zwitschernde Vögel, surrende Rasenmäher und stramme Hartplastik-Rehe können jedoch nur schwerlich ablenken von den abstrusen Begebenheiten, die sich des Nächtens ereignen: Abscheuliche, mysteriöse Klänge, die aus der Kolonie "Zur fidelen Reblaus" erschallen und Onkel Schurlis ethnologischer Forschungsschwerpunkt - "Übersinnliches von Transsilvanien bis Texas" - verzerren das gärtnerische Eldorado zu einem Setting des Grauens, das vor Aberwitz und Originalität nur so strotzt.
Einnehmend sympathisch skizziert Mauz seinen Helden Motte, der nach online Rücksprache mit seinem Papa dem schrägen Übel auf den Grund gehen will. Vor allem Gärtnervereinsobmann Traugott Korschinak mit seinem buckelnden Sekretär scheinen ihm im absoluten Streben nach perfekt glänzenden Kugelgrillern und akkurat gestutztem Gras verdächtig. Dass sich deren perfider Plan mittels willenloser Zombies die Garten- und schließlich Weltherrschaft an sich zu reißen ("bestellt auf der geheimen Geheimseite des geheimen Maori-Voodoopriesters Brian 'Two Face' Hupfberger") vor der Kenntnis der Leser*innen nicht allzu lang verbirgt, trübt die Spannung keineswegs. Ist man Motte, seinem Partner und Cousin Vladimir und dessen Mistkäfer KHM im Wissen um die größenwahnsinnigen Absichten stets voraus, bleibt die nötige Zeit, um Situations- und Anspielungswitz bis zum finalen Frühschoppen gebührend zu genießen. Durch die Rückführung der Zombietradition auf den mittlerweile verdrängten Voodoohintergrund wird Leichenfledderei und allzu Grausliches gekonnt umgangen und auf die eingeblendete Geschichte in der Geschichte beschränkt, die Hard-Boiled Monsterjäger Slim Shredder als fulminanten Nebenhelden einführt. So mancher nomen est omen-Schmäh mit den mitlesenden Erwachsenen und die Skurrilität aller Protagonist*innen bereichern die geglückte Doppelpersiflage auf Gärtnertum und Horrorfilm, die sich vor allem aus Mauz' kombinatorischem Geschick speist, einer Heimorgel schamanische Musik des Bösen zu entlocken, schwarze Magie in die Hände eines beleibten Schrebergärnters zu legen und Zombies ausgerechnet in Wien wandeln zu lassen. Die Dekonstruktion der Idylle durch den Horror scheint Mauz zu liegen – ab März nämlich geht es mit der Fortsetzung "Motte Maroni – Flossen des Grauens" dem vertraut klingendem Badeseeort "Podersiedel" an den Kragen …
Christina Ulm
Kröte des Monats Jänner 2010
Moritz 2009
96 S., € 15,50
Antje Damm: Nichts und wieder nichts. Anlässe um miteinander über NICHTS nachzudenken
"Über vieles wissen wir nichts." Lässt das auch den Umkehrschluss zu, dass wir über Nichts vieles wissen? Antje Damm führt in einer assoziativen Aneinanderreihung von 44 Doppelseiten vor, wie vorschnell über das Nichts geurteilt wird und wie viel sich dahingegen oftmals hinter einem scheinbaren Nichts verbirgt.
Pfeile weisen auf das Innere eines rein weißen Kreises. "Was siehst du im weißen Kreis? Nichts?" Doch der Blick durch eine Lupe und ein Mikroskop auf den darauffolgenden Bildern offenbart, was dem Auge zuerst verborgen blieb: Eine Hausstaubmilbe von 0,03mm Größe. Mit diesem Beispiel ist das zu Grunde liegende Konzept dieses Buches umschrieben. Es geht darum, aufzuzeigen, dass es niemals Nichts gibt – selbst z.B. in einem Vakuum nicht –, sondern es eine Frage der mangelnden Sensibilität der eigenen Wahrnehmung ist, die zu solch einer Annahme führt. Die weiteren Beispiele, an denen die Autorin unterschiedlichen Facetten des "Nichts" in den Blick nimmt, lassen sich in drei Kategorien unterteilen. Zum einen die Kategorie des Alltags, in der zum Beispiel der Frage nachgegangen wird, ob man wirklich nichts hört, "wenn es mucksmäuschen still ist". Dazu führt Damm das berühmte Musikstück "4'33''" des amerikanischen Komponisten John Cage an, bei dem die beteiligten Musiker*innen ihre Instrumente schweigen lassen. Die zweite Kategorie enthält stärker theoretisch orientierte Herangehensweisen wie die Wiedergabe von Aussagen verschiedener Philosophen und Künstler zum Thema. In die letzte Kategorie fallen sprachphilophische Zugänge, bei denen der leichtfertigen Verwendung des "Nichts" in der täglichen Kommunikation auf den Mund geschaut wird. "Manche haben nichts oder stehen plötzlich vor dem Nichts." – Dazu ein Mann, der vor den Überresten seines eingestürzten Hauses steht.
So unterschiedlich die inhaltlichen Ansatzpunkte auf der Textebene sind, so unterschiedlich setzt Antje Damm die grafischen Gestaltungsmittel ein. Neben den in Graustufen gehaltenen Tuschezeichnungen kommen vollfarbige Illustrationen, Collagen und Fotoelemente zum Einsatz. Mit einer Mixtur aus Verspieltheit und Theorie, der Wiedergabe von Aussagen von Kindern wie auch Philosophen und dem kontinuierlich wechselnden Einsatz verschiedener Bildstile erschafft Antje Damm, ganz dem Untertitel Folge leistend "Anlässe um miteinander über NICHTS nachzudenken".
Lukas Bärwald