Krötenarchiv
2012
Kröte des Monats Dezember 2012

Jacoby & Stuart 2012.
64 S., € 36,00.
Benjamin Lacombe / Sebastien Perez:
Das Elfen-Bestimmungsbuch
Die Weihnachtseinkäufe in der Wiener City können heuer nicht nur unter den gewohnt prunkvollen Lustern am Graben stattfinden, sondern diesmal auch mit besonderer kinderliterarischer Relevanz: Als erster Künstler gestaltete der französische Illustrator Benjamin Lacombe für das neu renovierte Kaufhaus Steffl in der Kärtnerstraße Schaufenster und Innendekoration. Wer beim Betrachten der gleichermaßen niedlichen wie unheimlichen Tiere in einer Winterlandschaft auf den Geschmack kommt, dem sei Benjamin Lacombes jüngstes auf Deutsch erschienenes Buch ans Herz gelegt. Die erneute Zusammenarbeit mit Autor Sébastien Perez ist wie bereits bei "Lisbeth und das Erbe der Hexen" an der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation angesiedelt und mit enormem Aufwand in der Buchgestaltung umgesetzt. Handschriftliche Tagebucheinträge, Briefe, Forschungsnotizen und Zeichnungen bilden ein fiktionales Album rund um den russischen Naturwissenschaftler Alexander Bogdanowitsch, der 1914 von Rasputin persönlich nach Frankreich entsandt wird, um ein Unsterblichkeitselixier zu entwickeln.
Was er in den Wäldern von Brocéliande in der Bretagne findet, ist jedoch von noch viel größerem Wert: Denn nach und nach zeigt sich, dass jede Pflanze des Waldes von einer unbekannten Art bewohnt ist. Diese Wesen versteht der überwältigte Bogdanowitsch erst nach und nach zu kategorisieren: "Pilularia animans", kleine amphibische Wesen, die in Pillenfarn leben, "Aruma animans", lebende Beeren oder "Hellebora", die anmutig zwischen Grünem Nieswurz tanzen. Diese Wesen sind ganz typisch für Lacombe "grenzwertig" angelegt: Während es ja in der Biologie eine ganz klare Unterscheidung zwischen Pflanze, Tier, Mensch gibt, wird diese hier auf faszinierende Weise aufgehoben, weil ihre Existenz stets zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Elfe changiert. Das akribische Zeichnen der Botanik und exakte Abbilden von Pflanzen und Lebewesen steht dabei in interessantem Kontrast zu den überbordenden Bildwelten, die die scheuen Wesen porträtieren. Während Bogdanowitsch diese zunächst skrupellos zerstört, um sie zu erforschen, erhöht er sie schließlich als zu schützende Lebewesen und weigert sich, weiterhin Berichte über seine Forschungen an Rasputin zu liefern.
So lässt sich das Buch auch als Parabel auf die Frage nach der Ethik in der Wissenschaft lesen. Gleichzeitig ist es eine Geschichte des zunehmenden Wahnsinns: Schließlich wird uns die magische Welt der Wälder von Brocéliande nur aus der Perspektive von Bogdanowitsch geschildert. Ganz im Sinne des Konzepts des "unzuverlässigen Erzählers" bleibt letztlich offen, ob die in Bild und Text dargestellten Wesen nun "real" sind oder lediglich seiner übersteigerten Phantasie entspringen. Das Verwischen der Grenzen zeigt sich schließlich auch im Verbleib des auf der Bildebene zunehmend zurücktretenden Wissenschaftlers, der schließlich zum Teil der magischen Welt wird und nicht mehr in die Zivilisation zurückkehrt.
Das französische Original "L'Herbier des Fées" ist übrigens auch als E-Book mit aufwändigen Animationen erschienen. Einen Trailer dazu finden Sie hier.
Christina Ulm/Kathrin Wexberg
Kröte des Monats November 2012
Wiener Dom Verlag 2012.
16 S., € 12,90.
Reinhard Ehgartner/Helga Bansch:
Das kleine Farben-Einmaleins
Rund um das Erfolgsprojekt "Buchstart" wurden vom österreichischen Bibliothekswerk in engem Austausch mit Fachstellen, Partnereinrichtungen und Bibliotheken bereits zahlreiche Materialien und Angebote erarbeitet. Nun ist mit "Das kleine Farben-Einmaleins" das erste Buchstart-Bilderbuch erschienen, das sich in seiner Themenvielfalt ganz der Projektidee entsprechend als langjähriger Begleiter im Kinder-Lese-Leben eignet. Dafür sorgt zunächst einmal die vielschichtig verwendete Sprache: Der fließende Sprachrhythmus regt gemeinsam mit den zugänglichen Reimen und fremden wie vertrauten Wörtern zum Mitsprechen, Nachfragen und zum eigenständigen Spiel mit der Sprache an. Das im Mittelpunkt stehende Kind bleibt fast geschlechtslos, "1 mal Weiß" und lässt vielleicht gerade dadurch ein hohes Identifikationspotential für Mädchen und Buben zu; es beginnt das Buch mit seinem ersten Schritt aus dem Bett. Es ist früh am Morgen, überall liegen Bücher verstreut und wer genau hinsieht, erkennt bereits erste Verweise auf die nachfolgenden Seiten… Gemeinsam mit der Maus Mio erkundet das Kind, mal versteckt, mal offensichtlich im Vordergrund, auf den nachfolgenden Seiten immer wieder neue Lebensräume: zwei Löwen, drei Frösche, vier Flamingos, fünf Katzen und sechs Hühner präsentieren in einschlägigen Farbkonzepten ihre Heimat und zentralen tierischen Eigenschaften – so "schreitet dann" beispielsweise der Löwe "voran, wie es nur ein König kann." Am Ende treffen alle unterwegs – im wahrsten Sinne des Wortes – aufgelesenen Tiere gemeinsam mit dem Kind wieder im Kinderzimmer ein und machen sich auf eine neue (imaginierte) Reise: Fliegend auf Geschichtenseiten durch die luftige Nacht zu reiten. Das Buch lebt aber nicht nur vom sprachlich vielschichtig eingesetzten Reiz, sondern auch von den komplexen Illustrationen Helga Banschs. In wunderschönen leicht zugänglichen, aber dennoch tiefgründigen Bildern entfaltet sich von Seite zu Seite der vielfältige Zauber des Lebens. Dabei wird jede Doppelseite von spezifischen Farbtönen dominiert und präsentiert sich als eigenständiges kleines Kunstwerk. Es kommen darin die unterschiedlichsten Techniken passend zu den individuellen Tier(welten) zum Einsatz: Neben Kartoffeldruck für die Federn der Hühner und Aquarell bzw. Spritztechnik für die Flamingos, spielt die Collagentechnik mit unterschiedlichen Papiermaterialien auch immer wieder eine Rolle. Die originellen Umsetzungen der tierischen Lebensräume lassen in ihren Kompositionen viel Platz für kleine Details und Andeutungen und spielen dabei immer wieder mit der Zahlensymbolik – es gibt eben viel zu entdecken in dieser beinahe synästhetischen Version des altbewährten Einmaleins! Für die praktische Arbeit in Bibliothek, Familie und anderen Kontexten sind auf www.buchstart.at bereits Bilderbuchkino und Kamishibai zum Buch und nicht zuletzt die Vorlage für Mio Maus als Fingerpuppe erhältlich.
Elisabeth von Leon
Kröte des Monats Oktober 2012
Das Wilde Dutzend 2012.
224 S., € 18,90.
Wer kann für böse Träume. The Secret Grimm Files
Die künstlerische Task Force Grimm legt ihre – natürlich streng geheime – Ermittlungsakte vor. Eingeflossen in das investigative Dossier sind verschiedenste X-Files, mit deren Hilfe die Mythenwelt Grimm erschlossen werden kann. Vergilbte Papiere aus dem Archiv jener Geheimloge, als die sich das Verlagskollektiv "Das Wilde Dutzend" gerne inszeniert, werden dabei neben Textvarianten gestellt, die einmal mehr den Versuch wagen, die Geheimnisse der Literatur- und Kulturgeschichte in die moderne Welt zu bringen. Kernstück der Zusammenstellung sind 15 Märchen, für die jeweils eines der von 200 Jahren erstmals erschienen Kinder- und Hausmärchen die Textreferenz bildet.
Die Leser*innen werden damit auf detektivische Spuren geführt; denn nicht immer ist gleich offensichtlich, welches der 200 Volksmärchen den erzählerischen Anlassfall darstellt, paraphrasiert, neu gestaltet, motivisch umgedeutet oder gattungspoetisch modelliert wird.
Waren es in den 1970er und 1980er Jahren vor allem Parodien, sprachliche Überformungen und der Transfer der Märchen in den zeitgenössischen Alltag (samt politischer Implikation), die eine damals moderne Märchenbearbeitungstradition bestimmt haben (man denke zum Beispiel an die von Hans-Jochen Gelberg herausgegebene Anthologie "Neues vom Rumpelstilzchen"), so sind es nun zuallererst Motive und Figuren, die literarisch neu befragt werden.
Dabei spielt implizit auch die poetologische Ebene des Märchens eine entscheidende Rolle, denn: Was muss an Markierungen erhalten bleiben, um von einem Märchen sprechen zu können? Doch was wäre die detektivische Herausforderung einer (literaturwissenschaftlichen) Investigation ohne all jene kleinen Indizien, die hier in der Form eingestreuter Aktennotizen und Beiblätter zur Vielfalt des Figuren- und Motivarsenals der Grimm-Märchen ebenso wie zu deren Entstehungsgeschichte, die eine Vielfalt an Querverbindungen zwischen den Märchen und deren gehaltlicher Neugestaltung ermöglichen.
Der dieserart entstehende Ateliercharakter des Buches wird verstärkt durch dessen illustratorische Gestaltung: Den Autor*innen, die "Erfahrungen mit Einöden und den Träumen von Feen" haben oder zumindest "verdammt gute Buletten" machen können, werden jeweils ein Illustrator oder eine Illustratorin zur Seite gestellt, die deren literarische Um- und Ausdeutungen nochmals grafisch und zeichnerisch interpretieren. Weiß wie Schnee (na gut, vergilbt wie sehr altes Papier), rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz bleibt dabei die Farbgebung, sodass der historisierend-bibliophile Charakter der "Aktensammlung" durch eine Vielzahl an künstlerischen Techniken gebrochen wird, die die Grenzen der Buchillustration zu Werbegrafik, Karikatur oder Comic ausloten.
Im Sinne einer Anthologie sind nicht alle Texte gleichermaßen zugänglich und der eine oder andere macht das Geheimnis um sich selbst durchaus zum Erzählprinzip. Doch wenn zum Beispiel Tamara Bach das Märchen vom Fundevogel dazu nutzt, eine stets an der Kippe zwischen dem Realen und der Imagination stehende Kindwelt erzählerisch nachzuzeichnen und damit einen handfesten Kriminalfall schafft, oder Anja Schneider das Spiegelmotiv nutzt, um Schneewittchen aus der Sicht der Stiefmutter auf eine ganz falsche Fährte zu führen, dann haben diese Grimm-Akten alle (guten) Wünsche und (bösen) Träume passionierter Märchenermittler*innen erfüllt.
Heidi Lexe
Kröte des Monats September 2012
Atlantis 2012.
32 S., € 20,50.
Einar Turkowski: Der Rauhe Berg
Eine Professorin oder ein Professor der Germanistik, über das Recherchieren im Allgemeinen sinnierend, hielt einmal fest, dass das interessantere Buch immer neben dem eigentlich gesuchten Buch zu finden sei. Ähnliches lässt sich auch über die Arbeit mit Sachwörterbücher behaupten. Dem Ratschlag folgend, empfiehlt es sich bei der Vergewisserung der Bedeutung des Begriffes "Parabel" im Unterschied zu "Fabel" und "Gleichnis" beispielsweise in Gero von Wilperts "Sachwörterbuch der Literatur" einen Blick auf die Definition von "Parabelstück" zu werfen: Bertolt Brecht als beispielgebender Autor und begrifflich umstritten bei "weniger ausschließlicher Lehrhaftigkeit." Zwei Begriffe zurück, dem nachgeschlagenen Wort vorangestellt, wird der Begriff "Parabase" erklärt. Aus dem griechischen übersetzt, bedeutet es "Danebentreten" bzw. "Abschweifung" und wird als Epilog eines Theaterstücks verstanden, der die dramatische Illusion zerstören soll. Eine Demaskierung also, im Sinne der Abschweifung, die die Methode von Rezensent*innen offenlegen kann oder im Sinne des Danebentretens, wie im Fall des Klappentextes von Einar Turkowskis Neuerscheinung, der die Gestaltungsform des Bilderbuches entlarvt: "Die Künstlerparabel eines Buchkünstlers".
"Der Rauhe Berg" scheint sich bereits in der hochformatigen Gestalt (20x35 cm) des Bilderbuches widerzuspiegeln, die Turkowski auf den ersten Seiten allerdings noch nicht vollständig auskostet. Die zunächst mehr in Schwarz als in Weiß gehaltenen Illustrationen werden samt Text in das obere Drittel der hohen weißen Seiten positioniert und lassen viel Platz für Vorstellungen über "einen Berg mit einem unheilvollen Namen" und die mehrdeutigen Geschichten, die man sich über den Rauhen Berg erzählte. Ein querformatiges Bild pro Seite und geheimnisvolle Warnungen führen so die Betrachtenden an die Flanken des Berges heran, bevor zum ersten Mal zwei ganze Doppelseiten dazu verwendet werden, um 36 vorstellbare Bergminiaturen aneinander zu reihen. Während die vielen Rauhe-Berg-Variationen, die sich mehr als exzentrische Felsblöcke gebärden, dazu verleiten mit dem Bleistift selbst einen eigenen Brocken in die Reihe einzufügen, kann der "tatsächliche" Fuß des Berges, nun komplett im Hochformat realisiert, durchaus einschüchternde Wirkung haben.
An dieser Stelle betreten ein scheinbar furchtloser Abenteurer und der Leitspruch der Parabel die Erzählung: „Ein merkwürdiges kleines Schild empfing ihn: »Sieh, wenn Du kannst«" Die personale Erzählung folgt dem Mann mit kurzen, aber durchaus poetischen Sätzen durch steile Felsformationen, die mehr und mehr mit rätselhafter Symbolik aufgeladen werden: "Steil war der Weg, mühsam und beschwerlich." Parallel zur verunsicherten Gefühlslage des Bergsteigers kehren distanzierte, querformatige Illustrationen zurück, die einen schwarz kolorierten Hintergrund abbilden, keinen Horizont erkennen lassen und somit den Fokus ausschließlich auf den Rauhen Berg legen. Hinter verwinkelten Felsen, fast undurchdringlichen Wäldern und langgezogenen Wegbiegungen, die oft mehr verhüllen als sie zeigen können, verbergen sich Dinge und Gestalten, vor denen die Menschen seit jeher warnten. Als es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, der Mann den warnenden Geschichten verfällt und glaubt Dinge bereits anders wahrzunehmen, bekämpft er den Berg mit dessen eigener Waffe: Fiktion.
Der Aufforderung "Sieh, wenn Du kannst" wird kurz vor dem Ziel die Frage: "Siehst Du?" entgegengestellt und trägt die Antworten für die/den bergsteigende/n als auch für die/den kunstschaffende/n AbenteurerIn in sich. Die Parabel unterscheidet sich definitorisch übrigens von der Fabel durch die Konzentration auf einen einzigen Analogieschluss und zum Gleichnis durch den Verzicht auf die Verknüpfung zu einem ausgewiesenen Sachverhalt.
Peter Rinnerthaler
Kröte des Monats Juli/August 2012
Ravensburger 2012.
576 S., € 18,50.
Hörbuch gelesen von Simon Jäger.
6 CDs.
Silberfisch 2012
Nina Blazon: Wolfszeit
4 Gründe warum Sie dieses Buch im Sommer lesen oder hören sollten - von einem dem Buch verfallenen STUBE-Team.
1. Die kriminologische Spannung
C.S.I. Gévaudan. Erst an die hundert Jahre nach der Zeit, in die Nina Blazon die Handlung ihres historischen Romans stellt, verortet man den ersten Pionier der Forensik. Dennoch wendet der junge Thomas Auvray durchaus forensische Mittel an, wenn es darum geht, jener Bestie auf die Spur zu kommen, die im Jahr 1765 in der französischen Auvergne zuallererst Frauen und Kinder tötet. Als Mitarbeiter des für Versailles tätigen Naturforschers Monsieur de Buffon verfügt Thomas über die biologischen Kenntnisse – als Schüler der königlichen Zeichenakademie über die Mittel, seine exakten Beobachtungen forensisch genau festzuhalten. Trickreich vermag er sich den Jägern anzuschließen, die ins Gévaudan aufbrechen, um die Bestie zu jagen. Nina Blazon gelingt es, die eigene Lust an der Recherche auf ihre Zentralfigur zu übertragen: Es sind Thomas‘ in zahlreichen Skizzen festgehaltenen Beobachtungen der Tatorte, der Opfer und Spuren, die letztlich zu einer gültigen Theorie über das Wesen der Bestie führen – und damit die wunderbar komponierten Irrungen und Wirrungen des Plots erst ermöglichen. Denn Thomas‘ Freude daran, das Erschaute zeichnerisch festzuhalten, geht weit über den eigentlichen Kriminalfall hinaus und löst die an zahlreichen Stellen geknüpften Handlungsfäden – zum Beispiel dann, wenn sich zeigt, dass eine geheime Verbindung zwischen einer Adelsfamilie und einer Wirtshausfamilie besteht …
Heidi Lexe
2. Der historische Kontext
"Nur wer gefehlt hat, muss leiden. Dieser Grundsatz lässt euch keinen Zweifel: Euer Unglück kann nur aus euren Sünden kommen." Mit solchen Auszügen aus dem historischen Hirtenbrief des Bischofs von Mende, die sie dem ersten Kapitel voranstellt, verweist Nina Blazon bereits deutlich auf den sozialhistorischen Kontext, in dem sie ihre Geschichte detailreich verortet: So wird das Schicksal der Figuren ganz zentral durch ihre gesellschaftliche Position geprägt. Während der Bischof also der Meinung ist, die Untaten der Bestie seien die gerechte Strafe für die Sünden der Menschen, geht es dem König vor allem darum, sein Ansehen zu bewahren – und ob sich die Bauern bewaffnen dürfen, um sich gegen die Bestie zu verteidigen, liegt nicht in ihrer Entscheidungsmacht. Auch die sympathische Hauptfigur Thomas Auvray hat zunächst wenig Spielraum in einer höfischen Welt, in der Wohlwollen oder Ablehnung des Königs alles entscheiden können. Doch die rauhe Landschaft des Gévaudan und das Leben der einfachen Leute dort zeigt ihm, wie Leben auch sein könnte – und das man die Entscheidung, mit wem man dieses Leben verbringen möchte, vielleicht doch nicht unbedingt dem Willen anderer überlassen sollte …
Kathrin Wexberg
3. Die Liebe
"Die Liebe hemmet nichts; / sie kennt nicht Tür noch Riegel / Und dringt durch alles sich" – die von Matthias Claudius so berühmt beschriebene Liebe findet sich auch in Nina Blazons "Wolfszeit", wenn der junge Thomas Auvray auf einem romantischen Schloss mitten in der Nacht einer jungen, beinahe geisterhaft wirkenden Frau begegnet. Die unbekannte Schöne, so findet der begabte Beinahe-Profiler schnell heraus, ist eigentlich die Schlossdame und wird hinter der Bibliothek in einem Turm eingesperrt. Doch die Liebe kennt nicht Tür noch Riegel und auch nicht Thomas, der in das Versteck der Adligen und langsam auch in ihr Herz vordringt und ihr Vertrauen gewinnt. Als sich Isabelle d`Apcher Thomas endlich anvertraut, wird schnell klar: Auch sie ist ein Opfer der mysteriösen wolfsähnlichen Bestie, die im Gévaudan ihr Unwesen treibt. Isabelle hat als Überlebende Erinnerungen an ihren brutalen Überfall, die neue spannende Fragen eröffnen: Wer verbirgt sich etwa hinter dem ominösen Namen "Cauchemar", der Isabelle seit jener Nacht nicht mehr aus dem Kopf will? Und warum reagiert die Wirtshausfamilie im nahegelegenen Dorf so verschreckt auf Isabelle d`Apcher und ihren Clan?
Elisabeth von Leon
4. Die Bestie
So schön Landschaft und Liebe in "Wolfszeit" geschildert werden, so grausam beschreibt Nina Blazon das Wüten ihrer "Bestie". Deren tatsächliche Manifestation wird an dieser Stelle natürlich nicht enthüllt*, aber es darf verraten werden, dass diese gleichsam tierisch wie menschlich ist – wenn auch ganz anders geartet, als es an Fantasy gewöhnte Leser*innen wohl erwarten würden. Die historischen (bis heute ungeklärten) Tatsachen rund um die Morde im Gévaudan eröffnen eine reizvolle Leerstelle, die Nina Blazon mit erzählerischer Raffinesse ausgestaltet. Diese Leerstelle wiederum als Leserin mit den unterschiedlichsten Theorien zu füllen, erweist sich als ungemein spannend. Schließlich etabliert Nina Blazon ein großes Figurenrepertoire, das viele Verdächtige birgt und die Aufdeckung der Mordserie gleichzeitig zur Entdeckung des Bösen macht. Denn so schmal der erzählerische Grat zwischen üppiger idyllischer Schönheit und menschlichen Abgründen in diesem Roman angelegt ist, so schmal ist auch der Grat zwischen Zivilisation und Verrohung. Getreu dem Motto: homo homini lupus.
Christina Ulm
* wer sich ein bisschen spoilern lassen will, der google "cú faoil"

Ill. v. Susann Opel-Götz.
Oetinger 2012.
320 S.,
€ 14,40.
Susann Opel-Götz: Außerirdisch ist woanders
Wenn man einen dicken Sprüche-Kalender voller Lebensweisheiten vor sich hat, woran kann man dann erkennen, welche davon die richtigen und welche die idiotischen sind? Warum sind manche Fragen und Themen TABU? Und überhaupt, woher kommt das Wort TABU eigentlich – und wenn es einen Geruch hätte, würde es dann riechen wie in Henris Treppenhaus in der Wasenfeldsiedlung?
So viele Fragen können nicht einfach offen bleiben. Und wenn sie von den Erwachsenen nicht beantwortet werden, dann muss man sich eben so seine Vorstellungen dazu machen. Der zehnjährige Jona ist ein Meister darin, sich in seinem inneren Geheim-Kino im Kopf Bilder zusammenzubasteln und sie
"vor" seine Realität zu "stellen". Als durch den neuen Schüler Henri seine größte Überzeugung, nämlich einmal einen Außerirdischen zu treffen, scheinbar wahr wird, fängt der Kopf-Kino-Film erst richtig an.
Jona hat es als Sandwich-Kind zwischen dem in der "Rotzphase" steckenden Wolle und der "aus Pubertätsgründen in der Motzphase" befindlichen Lollo nicht leicht, da kommt ihm ein Alien als Bestätigung seiner jahrelangen Vermutung zur Stärkung seines Selbstwertgefühls ganz recht. Seine neue Freundschaft mit Henri und ihr gemeinsames Geheimnis seiner extraterrestrischen Identität stellen Jona aber bald auf eine harte Probe, in der er Mut und Solidarität beweisen muss. Denn die wenigen Informationen, die der schüchterne Henri über sich preisgibt lassen bald vermuten, dass er vielleicht doch nicht aus einer entfernten Galaxie kommt, sondern vielmehr aus einem sozialen Randgebiet und Brennpunkt…
In der Erzählung seiner und Henris Geschichte schweift Jona immer wieder ab und zeigt seinem Publikum, wie er sich seine Welt erklärt und welche Vorstellungen er sich vom Leben seines Freundes macht. Aber "wenn man sich etwas vorstellt, kann man sich täuschen." Und dieser Tausch der imaginierten Bilder mit denen der Wirklichkeit ist gut oder eben nicht – und manchmal spielt das auch gar keine Rolle.
Susann Opel-Götz erzählt mit Wortwitz und viel Fingerspitzengefühl eine Geschichte der Freundschaft mit einem Alien, also einem Fremden, und es ist "völlig in Ordnung, wenn man jemanden, über den man überhaupt nichts weiß, erst einmal fremd findet." Man muss sich nur die Mühe machen, die Brücke zu finden, denn: "Es gibt im Leben immer eine Brücke. Wenn nicht drüber, dann untendurch."
Rosemarie Merl

Bloomsbury 2012.
32 S.,
€ 14,40.
Heinz Janisch / Ingrid Godon: Rita
Mut. Für viele ein schwieriges Wort und eine noch viel schwierigere Tat: Mut zu beweisen. Wie wird Mut aber definiert und wer kann mutig sein? Diese Frage stellt Heinz Janisch von der ersten Seite an seinen Leser*innen. Trotz des Titels "Rita. Das Mädchen mit der roten Badekappe" ist in den Illustrationen von Ingrid Godon aber seitenweise kein Mädchen sichtbar – geschweige denn eines mit einer roten Badekappe. Stattdessen trifft man auf einen Matrosen an einem Kai, zwei Zeppeline am dunkelgrauen Himmel, ein Labyrinth, einen Seiltänzer und eine Achterbahn. Dann erst kommt Rita. Vorher aber stellt sich die Frage, was die ersten fünf Motive miteinander verbindet: Mut.
So scheint der blau-grau schattierte Matrose voller Furchtlosigkeit und Hoffnung, wenn er einsam am Pier steht und aufs Meer hinausblickt – ungeachtet der dort möglichweise lauernden Gefahren. Die angedeuteten Wellen und die Bewegungslinien an der Figur selbst sorgen dabei für die nötige Unruhe und Aufbruchsstimmung. Dieser entgegen gesetzt werden auf der folgenden Doppelseite zwei riesige Zeppeline über der (Groß-) Stadt. Obwohl im Text nur von einem Luftschiff die Rede ist, verdoppelt es sich auf der Bildebene. Und so schweben zwei Luftschiffe ruhig und dominant durch das Bild, warnen vor der Gefahr der Höhe und der Angst zu fallen. Wer dort oben mitfliegt, der braucht Mut. Den braucht man(n) bzw. auch das kleine Mädchen im roten Kleid, wenn es sich in das große Labyrinth auf der nächsten Seite aufmacht. Das Ganze erinnert dabei ein bisschen an Alices Abenteuer im Wunderland, wenn mitten im Irrgarten ein Loch im Boden mit einer Leiter darin (auf sie?) wartet. Eine Leiter, die die Bildgrenzen sprengt und auf die nächste Seite drängt, um dort quasi fortgesetzt zu werden. Fortgesetzt von zwei Leitern, die das Seil des Seiltänzers spannen. Dieser balanciert wagemutig und dank der erneut gekonnt gesetzten Bewegungslinien offensichtlich schwankend vor einem zirkusartig gestreiften Hintergrund. Die Farben, anfangs noch verhalten und gräulich vernebelt, beginnen stärker zu werden. Und so leuchtet auch das Gerüst der Achterbahn auf den nächsten Seiten in dunkelrot und pink. Die einzelnen Fahrspuren der Jahrmarktsattraktion wirken wie ein einziges Strich- Kuddelmuddel. Eine einsame Bahn führt aus dem Bildrahmen hinaus und transportiert einen Jungen in seinem Waggon über die Abgründe. Wer sich so etwas traut, muss mutig sein!
Warum aber Rita, das Mädchen mit der roten Badekappe, das man nach erneutem Umblättern kennenlernt, in dieses Schema passt, ist nicht gleich klar. Dabei sagt der auktorial-personale Erzähler sogar, dass nichts von all den bisherigen Dingen ihn so beeindruckt, wie eben diese Rita, die er gerade beobachtet.
Rita, die vom gewagten Drei-Meter-Brett aufs Ein-Meter-Brett und schließlich auf den Beckenrand herunter klettert, vom dem aus sie ins Wasser gleitet. Die aufs Wesentliche reduzierte Geschichte erzählt mit wenigen Worten worin Ritas Tapferkeit letztendlich besteht. Unterstützt wird der Erzählgestus von demenentsprechenden Illustrationen: Collagenhaft und mit einfachen Strichen breitet sich die grün-türkisfarbene Welt, in der Ritas rote Badekappe komplementär-farben und geradezu neckisch hervorblitzt, vor einem aus.
Feige, springt die nicht mal vom Ein-Meter-Brett, denkt sich der Junge in der grünen Badehose, der die ganze Szenerie neben dem Erzähler beobachtet hat und ruft: "Feigling!" Rita aber sieht ihn bloß kurz an und meint: "Fische springen nicht von Türmen" – und dafür braucht es gleich doppelt Mut.
Elisabeth von Leon
Kröte des Monats April 2012
Carlsen 2012.
144 S.,
€ 13,30.
Tamara Bach: was vom sommer übrig ist
"Glanzbilder haben keinen Grund. Man kann sie aufkleben oder in eine Schublade legen. Sie glänzen. Es sind Glanzbilder."
Glanzbilder scheinen einer Welt des Wünschens zu entstammen – und haben gerade dadurch ihre Funktion im Miteinander von Jana und Louise. Denn dort, wo Worte nicht mehr erfassen können, was einem selbst widerfährt, muss auf andere Formen der Kommunikation zurückgegriffen werden: Die junge, deutsche Autorin Tamara Bach ist eine Meisterin, wenn es darum geht, ihre Figuren über sich selbst und miteinander kommunizieren zu lassen und sich dabei doch im ausgesprochenen Minimalismus zu üben. Da wurden in ihren drei bisherigen Romanen Kekse über den Tisch geschoben, Songs angespielt, Kaffee gekocht, Schallplattensammlungen in Unordnung gebracht, Vampirfilme herbeizitiert, CDs gebrannt. Hier sind es Glanzbilder und Postkarten aus einer utopierten Abenteuerwelt mit deren Hilfe dort Kontakt aufgenommen und Beziehung hergestellt wird, wo scheinbar gar nichts mehr geht.
"Es geht weiter. Wir stehen auf. Und gehen los. Und irgendwann wird unser Gehen eine Richtung bekommen." So heißt es am Ende von „Busfahrt mit Kuhn“ – und auch in Tamara Bachs neuem Buch geraten Bewegung und Stillstand aneinander. "Und bis hierhin sind wir schon gekommen", heißt es an dessen Ende, an dem vom Sommer kaum noch etwas übrig ist und die beiden Protagonistinnen einander doch Carepakte ganz unterschiedlicher Art geschnürt haben, um auf jene Tour zu gehen, die man Leben nennt.
Am Beginn dieses Sommers steht ein durchdachter Plan, den die 17jährige Louise gefasst hat: Zwei Ferienjobs sollen bewältigt, der Hund der Oma betreut und der Führerschein geschafft werden. Theorie und Praxis klaffen schon am ersten Morgen auseinander, wenn der so träge anlaufende Sommer erstmals seine stilistische Beschleunigung erfährt. Und dann taucht da wie ein wortwörtliches Mahn-Mal auch noch die 13jährige, pampige Jana auf. Sie blockiert Louises Weg – und weist doch auf ganz neue Richtungen, die man einschlagen könnte.
Unvermittelt, und für die Leser*innen erst im Verlauf der jeweiligen Texteinheiten erkennbar, wechselt Tamara Bach zwischen den Perspektiven ihrer beiden Figuren und gestaltet doch deren jeweilige Weltwahrnehmung sprachlich prägnant und unverwechselbar. Beide Mädchen – so zeigt sich – leben im Schatten des Krankenhauses, einem Un-Ort, der das Leben der beiden bestimmt und doch nicht zu deren Aktionsraum wird: Louises Eltern arbeiten im Krankenhaus und versuchen sich ihre Dienste so einzuteilen, dass immer einer der beiden zu Hause bei der Tochter ist. Die Dienstzeiten und die daraus resultierende Erschöpfung jedoch führen dazu, dass Louise dennoch allein mit Schlafenden lebt; die konsequent jugendliche Erzählhaltung hat zur Folge, dass diese Eltern nie zu Wort kommen. Janas Eltern hingegen sprechen sehr wohl mit ihr – und dabei immer an ihr vorbei, denn der Fluchtpunkt allen familiären Handelns ist Tom, Janas Bruder, der in diesem Krankenhaus im Koma liegt, nach jener Sache … Auf literarisch virtuose Weise erfährt man, was damit gemeint ist, wenn Jana erzählt, wie mühsam mittlerweile ein Supermarktbesuch mit all den verhaltenen Fragen und getuschelten Vermutungen hinter den Regalreihen ist.
Wie zwei Himmelskörper, die aus ihrer Umlaufbahn geraten sind, stoßen die beiden Mädchen aufeinander; der Aufprall setzt einen Sternenregen aus Wünschen frei, als sie sich einen Tag Sommer gönnen und dabei ein umfassendes gedankliches „als ob“ inszenieren.
"Und dann wünsche ich mir, dass das nie wieder anders wird. Am liebsten soll die Zeit stehenbleiben, und wenn sie dann doch weitergeht, dann soll alles wieder gut sein, dann soll Tom leben und wach sein und auch wollen."
Den spezifischen Rhythmus ihres literarischen Sprechens, den Wechsel zwischen Satzschleifen und knappen Dialogen, Ellipsen, Einwortsätzen und sichtbar gemachten Gedankensprüngen nutzend, komprimiert Tamara Bach das Erleben von Louise und Jana auf wenige Situationen während eines Sommers, in dem das Wünschen nicht hilft und doch zum zentralen Thema wird. Selten wurde in einem Jugendroman so befreit von allem thematischen und stilistischen Rundherum von der Sehnsucht danach erzählt, dass die Bewegung stoppt und doch alles in Fluss kommt. "Und jetzt gehen wir, bis uns was anderes einfällt. Aber erst mal gehen wir."
Heidi Lexe
Kröte des Monats März 2012
aracari 2012.
40 S.,
€ 14,30.
Adolfo Serra: Rotkäppchen
Die Gattung der Volksmärchen wird durch ihre lange mündliche Überlieferungstradition bestimmt – Geschichten also, die immer wieder in unterschiedlichen Varianten weitererzählt wurden, um dann schließlich in der schriftlich festgehaltenen Fassung durch formelhafte, immer gleich bleibende Formulierungen geprägt zu werden: Von "Es war einmal" bis zu "Dann leben sie noch heute". Welche Textfassung den lesenden Kindern und Erwachsenen präsentiert wird, unterliegt ebenfalls einer langen – und durchaus wechselhaften – Tradition: Für ihre 1812 erstmals erschienene Märchensammlung nahmen beispielsweise Jakob und Wilhelm Grimm Elemente, die ihnen zu grausam erschienen, aus den Texten heraus. Billig produzierte Kaufhausbücher verfremden den Stoff oft bis zur Unkenntlichkeit, anspruchsvolle Märchenausgaben rühmen sich wiederum mit der Tatsache, dass sie "den Originaltext" verwenden – welche Fassung aber ist in diesem Fall die originale?
Diesen Komplikationen entzieht sich der spanische Illustrator Adolfo Serra in seiner Rotkäppchen-Variante (im spanischen Original wohlklingend "Caperucita Roja"), für die er 2011 bereits den Dragón Ilustrado erhielt – und die gänzlich textlos erzählt. Farbakzente, in einer vor allem in Schwarz-Weiß gezeichneten Märchenwelt sind neben den (wenig überraschenden) roten Elementen vor allem die leuchtendgelben Augen des Wolfes. Dieser ist hier nicht nur eine Figur, sondern wird vielmehr zum Schauplatz der Handlung: Ein winziges kleines Rotkäppchen irrt nicht durch den Wald, sondern durch das struppige Fell des Wolfes selbst – das allerdings in Nahaufnahmen durchaus einem Wald ähnelt. In Rotkäppchens wehendem Haar wiederum ist bei genauem Hinsehen die Silhouette des Wolfes zu erkennen. Im temporeichen Wechsel verschiedener Perspektiven wird so die bekannte Geschichte neu erzählt – und, wohl einmalig in der Überlieferungstradition, erstmals im Bild gezeigt, wie es eigentlich im Bauch des Wolfes ausschaut.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Februar 2012
Aus dem Franz.
v. Tobias Scheffel und Sabine Grebing
Gerstenberg 2011.
400 S.
Timothée de Fombelle: Vango. Zwischen Himmel und Erde
Eine Verstrebung des Eiffelturmes, auf dem in zweihundertfünfundzwanzig Metern Höhe ein dreizehnjähriges Mädchen sitzt. Eine Höhle auf einer kleinen Insel vor Sizilien, in der ein griesgrämiger Mann eine sonderbare Beziehung zu seinem Esel hat. Ein Strand am Ufer des Schwarzen Meeres, an dem ein Mädchen namens Setanka noch nichts von dem Schrecken weiß, den ihr Vater im ganzen Land verbreitet. Dies sind nur einige der Schauplätze, an denen Timothée de Fombelle die verzweigten Handlungsverläufe seines Romans ansiedelt. Schlaglichtartig wechselt die Perspektive zwischen der Hauptfigur Vango und zahlreichen weiteren Figuren, deren Relevanz für die Geschichte sich erst nach und nach erschließt. Auf unterschiedlichen Zeitebenen entfaltet sich sowohl ein breites zeit- und kulturgeschichtliches Panorama als auch die Geschichte einer Identitätssuche: Denn Vango, der einst mit seiner Amme Mademoiselle vor einer italienischen Insel gestrandet ist, weiß nichts über seine Herkunft, weiß nicht, warum ihm ein Mord angelastet wird und warum er verfolgt wird. Wie Vango auf seiner Flucht von Ort zu Ort, von Frage zu Frage getrieben wird, verlaufen auch die komplexen Erzählstränge: Kaum scheint sich eine Querverbindung erschlossen zu haben, wird eine nächste angedeutet, kaum scheint einer Figur die Flucht gelungen zu sein, wird klar, dass eigentlich jemand ganz anderer gesucht wurde. Timothée de Fombelle hat seine künstlerischen Wurzeln im Theater (mit siebzehn Jahren gründete er eine Theatertruppe), die Lust am Inszenieren merkt man dem Text an: So rasant die Handlung in ihrer Fülle verläuft, so genau werden Details platziert. Auch am Ende der fast 400 Seiten weiß Vango nicht, wer er ist und wer ihn töten will – die Auflösung aller Geheimnisse verspricht Band 2, im französischen Original bereits erschienen.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Jänner 2012
Vom Leben in Janusz Korczaks Waisenhaus.
Gimpel Verlag 2011
64 S., € 30,80.
Iwona Chmielewska: Blumkas Tagebuch
Vergissmeinnicht fallen auf die letzte Seite und wachsen auf dem Nachsatz weiter. Noch deutlicher könnte die Lektüre dieses historischen Bilderbuchs nicht abgeschlossen werden: Es gilt zu erinnern an die pädagogischen Wunder von Janusz Korczak, dem polnischen Arzt und Autor kinderliterarischer und pädagogischer Schriften, der die jüdischen Kinder seines Waisenhauses ins Vernichtungslager Treblinka und damit in den Tod begleitete. Doch schon vor diesem Ereignis, das ihn zur Legende machte, fiel Janusz Korczak mit seiner liebevollen Erziehung auf:
"Der Herr Doktor lässt uns genügend Zeit, damit wir uns erholen. Das Wachsen sei, so sagt er, schließlich keine leichte Arbeit. Das Herz müsse mit den Knochen Schritt halten, wenn diese wachsen."
"Wie man ein Kind lieben soll" lautet Korczaks wohl wichtigstes pädagogisches Werk, und aus der Sicht eines dieser geliebten Kinder wird hier von den Grundgedanken seiner "fröhlichen Pädagogik" erzählt. Blumka ist die zentrale fiktive Figur, deren Tagebuch das Buch im Buch bildet. Zu sehen ist es in der oberen Bildhälfte jeder Seite. Es eröffnet mit jedem Umblättern kleine Einzelszenen, Bildideen und Motive, die aus dem Tagebuch in den Bildraum des Bilderbuchs wachsen. Mit collagierten Tonpapieren und blauer Tusche schafft Iwona Chmielewska ein sepiagetöntes Album, das zwölf Kinder des Waisenhauses in Warschau porträtiert: Pola, die zwei Tage lang eine Erbse in ihrem Ohr wachsen ließ, bevor sie der Herr Doktor rausholen konnte oder Szymek, der den Wettbewerb im Zwiebelschälen gewann, aus denen Frau Stefa Hustensirup für alle Kinder machte.
Während Janusz Korczak in dieser ersten Hälfte des Buches über seine Wohltaten und Wirkungen sichtbar wird, widmet sich die zweite Hälfte konkret seiner Person: "Das ist unser Herr Doktor" – Janusz Korczak, der die weißen Hemdchen der Kinder behutsam aufhängt; Janusz Korczak, der anklopft, bevor er sein Zimmer betritt, um die Spatzen auf dem Fensterbrett nicht zu erschrecken.
Die warmen Bilder und in der Sprache des Kindes gestalteten Texte zeigen ihn als gerechten, liebenden Vater. "Der Herr Doktor ist für uns am wichtigsten, und wir sind am wichtigsten für ihn."
In der Bildgestaltung zentral ist die Verwendung von liniertem Papier aus einem Schulheft, das zerschnitten und in neue Bildkontexte gestellt wird. So wird die Linierung dekonstruiert – analog zur Korczaks Reformpädagogik, die die starren Regeln und Vorgaben der damaligen autoritären Erziehung gebrochen hat. Blumkas bibliophiles Tagebuch gibt berührende Impressionen seiner Biografie wieder und der Biografien, auf die er so bewundernswert gewirkt hat – "Lange könnte ich noch über ihn schreiben. Doch er löscht gerade das Licht."
Christina Ulm