Krötenarchiv
2011
Kröte des Monats Dezember 2011

Luftschacht 2011
24 S., € 19,00.
ISBN
Michael Roher: ... 6, 7, 8, Gute Nacht
"Nachts sind alle Katzen grau", so eine gängige Redensart. Umgekehrt jedoch können Katzen durch ihre schlitzförmigen Augen, anders als Menschen, auch in der Dämmerung Farben scharf sehen (so eine Studie eines schwedisch-deutschen Forscherteams). Dieser Eigenheit des menschlichen Sehens in der Dunkelheit entspricht Michael Roher in seinem neuesten Bilderbuch, erschienen im Luftschacht-Verlag, der sich damit einmal mehr als Verlag zeigt, der ungewöhnlichen Bilderbuchprojekten einen Platz gibt. Ganz in verhaltenen grau-braun Schattierungen gestaltet, zeigt sich etwa eine zwar nicht graue, sondern pechschwarze Katze auf einem fein-getuschten Dach an einem ungewöhnlichen Ort: "In Bibione, wo ich wohne, kocht Maestro Minestrone oben ohne eine Bohne. Warum der gute Mann das macht? Na wegen Ute – Gute Nacht."
Wie in seinen bisherigen Werken werden Illustrationstechniken stets neu arrangiert und variiert, hier erstmals mit einem stärkeren Collage-Akzent. Positioniert werden die Figuren dabei stets in Schwebezuständen, die wiederum mit dem Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachen, Bewusstsein und Träumen korrespondieren. Ob sie nun in Bäumen sitzen, auf Stelzen gehen oder ein Elefant mit zarten Schmetterlingsflügeln gezeigt wird, meist sind sie dem Irdischen, dem Boden enthoben oder nur durch zarte Striche mit diesem verbunden. In gereimten Texten wird nicht dem gängigen, wiederholenden Verlauf von Einschlafreimen gefolgt, sondern auf jeder Doppelseite eine völlig neue Geschichte erzählt. Diese in sich geschlossenen Bilduniversen laden dazu ein, die jeweils eigene Lieblingsseite beim abendlichen Ritual des Vorlesens immer neu zu Entdecken. Das einzig verbindende Element auf der Textebene ist das abschließende "Gute Nacht": Lediglich die letzte Doppelseite verheißt schon einen Ausblick auf das, was am nächsten Tag kommt – wann auch immer der beginnen mag.
Kathrin Wexberg/Christina Ulm
Kröte des Monats November 2011
Der Grüffelo. Animierter Kurzfilm
von Max Lang und Jakob Schuh.
Nach einem Bilderbuch von Julia Donaldson und Axel Scheffler.
27 min. Oetinger Media 2011.
Max Lang/Jakob Schuh: Der Grüffelo. Kurzfilm
"Wie dumm von dem Fuchs! Er fürchtet sich so. Dabei gibt’s ihn doch gar nicht, den Grüffelo!" Der leichtgläubige und schnell ganz kleinlaute Fuchs – der eben noch die Maus verspeisen wollte und sich jetzt vor deren (imaginiertem?) Freund, dem monströsen Grüffelo fürchtet – amüsiert durch das perfekte Arrangement von drei Talenten: Gereimt ist er von Julia Donaldson, illustriert von Axel Scheffler und neu – gesprochen von Gert Voss!
Das seit seiner Erstveröffentlichung 1999 zum modernen Klassiker avancierte Bilderbuch "Der Grüffelo" ist Grundlage für den gleichnamigen animierten Kurzfilm, der der Gestaltung des Buches treu bleibt, es aber um zahlreiche reizvolle Elemente, wie eben die Synchronstimme des Burgschauspielers, erweitert. Der Stimmeneinsatz (auch der anderen "Raubtiere" Otto Sander und Edgar Selge) ist durch den unveränderten kurzen Text der Vorlage minimalistisch – und dadurch prägnant auf den Punkt gebracht.
Nicht nur die von Monika Osberghaus übersetzten, vielfältig intonierten Zeilen, auch die Filmmusik bietet akustischen Genuss: Wenige, akzentuiert eingesetzte Instrumente geben jedem Tier ein Leitmotiv und rhythmisieren die Geschichte zusätzlich zu den wiederkehrenden Reimen, die von List und Lüge der Maus erzählen. Zwischen den Zeilen bleibt viel Zeit für visuelle Details: Bei den Wanderungen durch den lebendig inszenierten Wald ergeben sich an den Bildrändern zahlreiche hinzugefügte Szenen, die kurz und thematisch zur Haupthandlung passend vom Fressen und Gefressen-Werden erzählen.
In der Filmadaption neu ist auch die Rahmengeschichte: Wenn Heike Makatsch (in der englischen Fassung Helena Bonham Carter) als Eichhörnchenmutter ihren Kindern vom tatsächlich Auftauchen des scheinbar erfundenen Grüffelo erzählt, werden Momente der (kindlichen) Rezeption nachvollzogen: Eingeschobene Ausrufe – mal ungläubig, mal überrascht, mal schadenfroh – verstärken den seriellen Charakter und spiegeln die eigenen Emotionen beim Zusehen.
Der Transfer der Geschichte in ein anderes Medium fächert das Stimmungsspektrum also auf. Nicht nur durch die Vertonung sowie die Gestik und Mimik der Figuren, sondern auch durch die Sorgfalt bei der Animation der Szenerie: Lichtungen, durchflutet von Löwenzahnblütensamen, von Nadelbäumen beschattete Moosbeete und sumpfige Kleinteiche als Schauplätze variieren ebenso wie verschwommene und scharfe Bildbereiche.
Angesichts dieses bedachten und nie übertriebenen Einsatzes der Stärken des Tonfilms verwundert es nicht, dass "Der Grüffelo" 2011 für den Oscar als bester animierter Kurzfilm nominiert wurde. Auch wenn er sich gegen Shaun Tans "Die Fundsache" nicht behaupten konnte – die Kröte des Monats zumindest hat der kurzweilige und dabei doch so raffinierte Animationsfilm "gewonnen".
Christina Ulm
Kröte des Monats Oktober 2011
Residenz 2011
40 S., € 19,90
Willy Puchner: Willy Puchners Welt der Farben
"Gewidmet allen Flaneuren, Spaziergängern und Reisenden."
Obwohl Willy Puchners neues Bilderalbum schon vor dem Schmutztitel das Moment der Bewegung ins Spiel bringt, ist es doch "in einer starken Phase der Sesshaftigkeit entstanden" – so der Illustrator, Autor und Fotograf in einem Interview (Anzeiger 9/2011. S. 11-12). Dieses statische Flanieren mag wohl mit der Schwerpunktsetzung dieser Sammlung zusammenhängen: Nach der Natur und den Tieren widmet sich der Künstler hier den Farben und ihrem Potential zur Imagination und damit zur Gedankenreise: Die Wahrnehmung einer Farbe löst verschiedenste Erinnerungen, Assoziationen und Stimmungen aus, die wiederrum an verschiedene Orte gebunden sind – einerseits konkret benannte wie New York oder Indien, andererseits solche, die universaleren Charakter haben wie Wüsten oder Eis. In Anlehnung an Goethes Farbenlehre reiht Willy Puchner Farben, Schattierungen und Kolorierungen, die er an diesen Orten gesammelt hat, aneinander und ergänzt sie um handschriftliche Passagen, kleine Figuren oder aquarellierte Hintergründe. Für jede dieserart verortete Seite bzw. Tafel entwirft er ein ganz eigenes Farbspektrum: Gletscherblau, Himmelblau, Blauwalblau und Eisblau sind etwa Farben der Antarktis.
"Ich habe immer gerne Farben gehabt, die in einem Farbkreis oder auf Farbkarten abgebildet sind. Das gibt mir, sozusagen im buchhalterischen Sinn, das Gefühl, eine abstrakte Auflistung der Welt zu sehen." Dieser im Buch sichtbare Prozess scheint fast wie umgekehrte Malerei: Willy Puchner malt kein Bild mit einer Farbpalette, sondern eine Farbpalette aus einem Bild; er dekonstruiert das gedankliche – gemäß dem Titel persönliche – Bild eines Ortes in seine einzelnen Kolorierungen. Diese immateriellen Mitbringsel sammelt und verknüpft er nicht nur mit sprachlichen Elementen wie Anekdoten oder Zitaten, sondern lädt auch sie selbst sprachlich auf, indem er alle Farben – und das bezeichnet der Künstler als schwierigsten Teil – benennt: "Ich in meinem Fall versuche, Farben zu erfinden. Ich erfinde aber natürlich nicht konkrete Farben, sondern nur die Namen."
Und diese werden ideenreich von Dingen, Zuständen, Personen, Tieren oder Pflanzen entlehnt: Deneuve-Blau als Farbe von Paris, Popocatépetl-Orange als Farbe des Vulkans, Lebkuchen-Braun als Farbe von Christmas-Island, Isis-Gold als Farbe von Ägypten oder Pfifferlinggelb als Farbe des Waldes.
In der Kombination des ordnenden, systematischen Zugangs mit einer solch ungezwungenen, behutsamen und sukzessiven Füllung seiner Seiten erschafft Willy Puchner einen kunstvollen Setzkasten aus Farben und Ideen. Ein tiefgründiges Bilderbuch, das seiner persönlichen Wahrnehmungswelt entstammt und einlädt, diese zu erforschen.
Christina Ulm
Kröte des Monats September 2011
Aus dem Niederländ. v.
Rolf Erdorf.
Boje 2011
64 S., € 10,30
Edward van de Vendel / Fleur van der Weel: Lieb sein, Superguppy!
Abendessen. Pieps. Medizin. Dunkel. Turnen. Mit jeweils einem einzelnen Wort überschreibt Edward van de Vendel die Gedichte seines zweiten Superguppy-Bandes, der in der Reihe "Gedichte für neugierige Kinder" des Boje Verlags erschienen ist. Übersetzer Rolf Erdorf versteht es, diese lakonischen Sprachkunstwerke aus dem niederländischen Original stimmig ins Deutsche zu übertragen: In wenigen Zeilen werden anhand ganz alltäglicher Begebenheiten verschiedenste Aspekte der kindlichen Wahrnehmung thematisiert. Gleich im ersten Gedicht kommt der Tod zur Sprache – anhand eines ungewöhnlichen Opfers, eines roten Wackelpuddings, dem vom lyrischen Ich sein nahendes Ende prophezeit wird: "Einmal schlucken: wackelst leise, Puddingspeise, und bist tot." Nicht nur der Pudding, auch tatsächliche Personen werden eindringlicher Reflexion unterzogen, wenn es etwa zum Thema "Abendessen" heißt: " Überleg dir: Was für Leute sind wohl deine Eltern heute?" Ob das Schwesterchen zur Bewunderung für den besten Bruder animiert werden soll, der Mund bei einer turbulenten Busfahrt auf unangenehme Weise zum Kreisverkehr wird oder der titelgebende Guppy forsch aufgefordert wird, die traurige Vergangenheit hinter sich zu lassen – hier kommt in unterschiedlichen Stimmungslagen eine Vielzahl an Gedanken zur Sprache, die einladen, sich wiederzuentdecken. Während im ersten Band Fleur van der Weels charmante Illustrationen mit einem knalligen Grün als einzigem Farbakzent gestaltet waren, ist es nun ein deutlicher ruhigeres Blau, das bei der Seitengestaltung variantenreich eingesetzt wird: Als Hintergrund für jeweils eine Seite, als Farbtupfer bei einem Illustrationsdetail oder auch nur in der in Handschrift gesetzten Überschrift. In ihrem ruhigen Ton können Edward van de Vendels Gedichte vielleicht auch den manchmal mühsamen Übergang vom Sommer zum Beginn des neuen Arbeitsjahres erleichtern – denn wer könnte einem Herbst widerstehen, von dem es heißt: "Der Herbst, er riecht nach drinnen, nach uns, nach jetzt, nach still."
Kathrin Wexberg
Kröte der Monate Juli und August 2011
Aus dem Engl. v.
Birgitt Kollmann.
Hanser 2011
256 S., € 14,30
Jenny Han: Der Sommer, als ich schön wurde
Sommer und Schönheit – diese Kombination ist im Erwachsenenalter, wenn man den Hinweisen diverser Frauenzeitschriften Glauben schenkt, nur durch aufwändige kosmetische, gymnastische und sonstige Vorbereitungen zu erreichen. Doch wenn man jung ist, geht das scheinbar ganz von alleine: So empfindet es zumindest Ich-Erzählerin Belle in jenem Sommer, an dessen Ende sie sechzehn wird. Sie verbringt ihn wie jedes Jahr seit ihrer Geburt mit Mutter und Bruder im Strandhaus von Susannah, der besten Freundin der Mutter, gemeinsam mit deren Söhnen Jeremiah und Conrad. Die vier Jugendlichen sind eine eingeschworene Truppe, die Belle als Jüngste und einziges Mädchen stets nur als kindliche Spielgefährtin gesehen hat – und deren Gemeinsamkeit ausschließlich auf den Sommer beschränkt ist:
"Ich fragte mich immer, wie die beiden wohl im Dezember aussehen mochten. Ich versuchte sie mir in Rollkragenpullovern und cranberryroten Schals vorzustellen, mit geröteten Backen oder neben einem Weihnachtsbaum, aber keins dieser Bilder schien zu stimmen. Ich kannte den Winter-Jeremiah oder den Winter-Conrad einfach nicht, und ich war eifersüchtig auf jeden, der das Glück hatte. Für mich blieben Flip-Flops und Badehosen und Sand und Nasen mit Sonnenbrand."
In diesem Sommer jedoch ist alles anders – denn Belle merkt, dass sich etwas verändert hat: "Alles war wie immer und doch wieder nicht. Sie hatten mich angesehen, als wäre ich ein richtiges Mädchen, nicht bloß die kleine Schwester von irgend-
wem." Belle schwärmt schon seit langem für Conrad, während sie Jeremiah als brüderlichen Freund sieht – und dann lernt sie auf einer Party Cam kennen, was natürlich die Beschützerinstinkte von Jeremiah und Conrad weckt… In die mit einer ordentlichen Portion jugendlichem Sentiment erzählte Schilderung des Sommers sind kurze Rückblenden auf die Erlebnisse vergangener Sommer montiert, die mit dem jeweiligen Alter von Belle betitelt sind: "Mit vierzehn" störte eine mitgebrachte attraktive Freundin das eingespielte Beziehungsgefüge, "mit zwölf" stürzte eine zufällige Bekanntschaft an der Strandpromenade Belle in den ersten großen Liebeskummer ihres Lebens. In diesem Sommer aber geschieht etwas viel Weitreichenderes: Über allen Gefühls-
komplikationen der Jugendlichen schwebt unausgesprochen ein dunkler Schatten, etwas, dass die Erwachsenen wissen und zumindest diesen Sommer lang versuchen, vor den "Kindern" geheim zu halten: "Susannah wollte noch einmal den perfekten Sommer, und dazu gehörte, dass Eltern zusammenblieben und alles so war wie immer. Aber solche Sommer gibt es nicht mehr, hätte ich ihr gerne gesagt." Der Sommer geht, wie die Zeit der Kindheit und Unbeschwertheit, unwiderruflich vorbei – doch am Ende des Romans steht die langersehnte Begegnung im Dezember, die neugierig auf die (im amerikanischen Original bereits erschienenen) Fortsetzungen macht. Autorin Jenny Han, die mit diesem Jugendroman bei Hanser im deutschsprachigen Raum debütiert, liefert auf ihrer Homepage unter anderem die Playlists zur musikalischen Untermalung der sommerlichen Irrungen und Wirrungen – und beantwortet im integrierten Blog spannende Fragen wie jene ihrer Traumbesetzung für eine mögliche Verfilmung der Sommer-Trilogie …
Kathrin Wexberg

Aus dem Engl. v.
Eike Schönfeld.
Carlsen 2011
136 S., € 25,60
Shaun Tan: Der Vogelkönig und andere Skizzen
"Striche spazieren führen" – mit dieser Formulierung des Malers Paul Klee umschreibt der australische Künstler Shaun Tan in seiner Einführung in dieses Skizzenbuch seine Arbeitsweise: "Bilder denkt man sich nicht vorher aus und zeichnet sie dann, sie werden beim Zeichnen gedacht." Das Endprodukt, im Falle von Shaun Tan in so unterschiedlichen medialen Formen wie Büchern, Filmen oder Gemälden, wird für die Betrachter*innen, Leser*innen und Zuschauer*innen zugänglich – das Grundmaterial bleibt normalerweise "in Mappen, Kisten und Zeichenblocks verstaut". Die hier versammelten Arbeiten sind aus diesem Material der letzten zwölf Jahre zusammengestellt und repräsentieren sehr unterschiedliche Phasen eines Projekts, von schnell dahingekritzelten Entwürfen bis hin zu bereits recht genau ausgearbeiteten Zeichnungen. Gegliedert wird diese Fülle in verschiedene Abschnitte: Mit der Bezeichnung "Unerzählte Geschichten" sind erste Ideen betitelt, aus denen sich später umfangreichere Projekte entwickelten. Skizzen für die Arbeitsbereiche "Buch, Theater und Film", etwa Bewegungsstudien und Storyboards, sind in einem Kapitel zusammengestellt. "Nach dem Leben gezeichnet" zeigt Studien "zum Verhältnis von Linie, Form, Farbe und Licht", in denen Shaun Tan jeweils versucht, seinem Motiv, ob Person oder Baum, entsprechend seiner Besonderheiten zu begegnen. "Notizbücher" schließlich ermöglicht Einblicke in die Arbeitsweise unterwegs: Oft im Flugzeug oder Zug mit Bleistift oder Kuli in kleine Skizzenbücher gearbeitete Kritzeleien, manche davon Beobachtungen, andere eher Tagträume. Die Bilder faszinieren in der Vielfalt an Techniken, Farben und Stimmungen, die sie zeigen - jedem Abschnitt vorangestellt ist ein kurzer Text Shaun Tans, in dem er seine Arbeitsweise darstellt und gleichzeitig reflektiert. Die Qualität eines Kunstkatalogs bekommt das aufwändig mit Lesebändchen gestaltete Buch schließlich durch das Werkverzeichnis: Jede einzelne der versammelten Arbeiten ist hier nochmals genau mit Titel, verwendetem Material und dem Kontext innerhalb des Werkes ausgewiesen. So ist etwa "Philbert, Tusche" eine allwissende Figur aus einem aufgegebenem Buchprojekt, während "Eidechsenkatzen, Kugelschreiber", Entwürfe für ein Haustier in der Graphic Novel "Ein neues Land" sind. Abgerundet wird dieser ungewöhnliche Einblick in die Arbeitsweise eines bemerkenswerten Künstlers durch Übersetzungen der Anmerkungen in den Skizzen und Bildern sowie ein Verzeichnis der Werke Shaun Tans, der für sein Gesamtwerk kürzlich mit dem "Astrid Lindgren Memorial Award" ausgezeichnet wurde.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Mai 2011
Aus dem Engl. v.
Verena Küstner.
Knesebeck 2011
64 S., € 17,50
The Metropolitan Museum of Art: Was siehst du?
Um Kindern Kunst zu vermitteln, gibt es in entsprechenden Sachbüchern bewährte und bekannte Strategien: Ein lustiges Tier, das durch das Museum führt, eine abenteuerliche Geschichte, die rund um die Entstehung des Bildes gesponnen und so weiter… Dieses Kunst-Bilderbuch geht einen wohltuend anderen Weg. Anstatt rund um die Bilder zusätzliche Dinge zu erfinden, wird genau das Gegenteil gemacht, nämlich der Blick durch die gestanzte rechte Hälfte der Doppelseite zunächst nur auf einen ausgewählten kreisrunden Bildausschnitt gelenkt – mit entsprechenden Fragen, was hier wohl zu sehen sein mag. Die nächste Doppelseite bietet dann auf der linken Hälfte Informationen zum Bild und seinem kunsthistorischen Kontext, die rechte zeigt das ganze Bild. Aus der Sammlung des New Yorker Metropolitan Museum of Art, die mehr als 3 Millionen Werke umfasst (die übrigens online in einer Datenbank abrufbar sind) wurden 15 Bilder ausgewählt. Von Andy Warhols Selbstporträt über ein Motiv aus einem japanischen Drama des 18. Jahrhunderts bis hin zu einer Miniaturmalerei aus der vermutlich usbekischen Safawidischen Epoche wird ein breiter Bogen durch verschiedene Epochen, Stile und Kontinente gespannt. Fragen regen dazu an, sich genauer mit dem Bild, aber auch dem je eigenen Blick auf Kunst zu beschäftigen: "Dieses Bild zeigt eine Szene aus einem japanischen Theaterstück, in dem der Schauspieler einen Fuchs spielt, der sich als Mann verkleidet hat. Deshalb malte der Künstler einen Mann, der eigentlich ein Fuchs ist – oder einen Mann, der einen Fuchs spielt, der vorgibt, ein Mann zu sein? Macht das für dich einen Unterschied, wenn du auf das Bild schaust?" Kunstvermittlung für Kinder wird hier also nicht nur als reine Vermittlung von Faktenwissen verstanden, sondern vielmehr als Anregung, sich mit dem eigenen Zugang zum Bild zu beschäftigen – und damit immer wieder neue Varianten zu ermöglichen.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats April 2011
Sauerländer 2011
32 S., € 15,40
Rolf Fänger/Ulrike Möltgen: Vom Anfang der Welt. Eine Schöpfungsgeschichte
Ein Bilderbuch schon am Vorsatzpapier ausschließlich in dunklen Schattierungen von Schwarz und Grau zu beginnen, ist ungewöhnlich. Umso mehr, wenn es sich um eine Schöpfungsge-
schichte handelt, deren kinderliterarische Varianten, von Ausnahmerscheinungen wie Bart Moeyaerts und Wolf Erlbruchs "Am Anfang" einmal abgesehen, sich oft auf beliebige Arrange-
ments von Pflanzen und Tieren beschränken. Ulrike Möltgen, die ihr Diplom bei Wolf Erlbruch gemacht hat, geht in ihren beeindruckenden Bildern einen anderen Weg: Die ersten Etappen der Schöpfung setzt sie in fast abstrakten Bildern um, in denen Tag und Nacht, Erde und Wasser, nur sehr zurückhaltend angedeutet werden. Je weiter die Schöpfung gedeiht, desto konkreter und mehr am Gegenständlichen orientiert werden auch ihre Bilder, die selbst bei der Darstellung der Tiere auf jede Niedlichkeit verzichten. Ebenso ungewöhnlich ist ihre Umsetzung der Menschen: In ihrer dunklen Drallheit erinnern Adam und Eva an die bekannten Südsee-Figuren Paul Gauguins. Während die biblische Vorlage kaum etwas über die Beweggründe und Entscheidungen Gottes aussagt, steht hier über allem die sichere Gewissheit eines großen Planes: Gott "wusste, wie alles werden sollte." Auch die Entscheidung der Menschen, sich bewusst gegen den Willen Gottes zu entscheiden, ist hier letztlich Teil seines Geschenkes an seine Geschöpfe: "Doch Gott wusste, was sie getan hatten, weil er selbst es so gewollt hatte. Er hatte Adam und Eva die Freiheit gegeben, sich zu entscheiden." In der Bibel endet die Schöpfungsgeschichte mit dem unwiderruflichen Verlust des Paradieses durch den Sündenfall. In dieser Variante hingegen wird am Nachsatzpapier, das ganz in leuchtenden Gelb- und Orangetönen gehalten ist und so den Bogen zum Beginn des Bilderbuches wieder schließt, eine ganz neue Perspektive angesprochen: Wenn die Menschen sich für das Gute entschei-
den, "können sie vielleicht sogar zurück ins Paradies und wieder eins werden mit dieser Welt und mit sich selber."
Der 2009 verstorbene Autor Rolf Fänger greift wesentliche Momente der bekannten Vorlage in einer schlichten, klaren Sprache auf, setzt aber in seinem Text auch neue, ungewohnte Akzente, die einer Auseinandersetzung sowohl mit dem Bibeltext als auch seiner (Bilderbuch-)Varianten neue Zugangsmöglich-
keiten eröffnen.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats März 2011
Aus dem Französ. v. Tobias Scheffel.
Kunstmann 2011
64 S., € 12,30
Alain Serres: Wie du deinen Eltern beibringst, Kinderbücher zu lieben
Spätestens seit der in regelmäßigen Abständen aufflammenden Aufregung über die (in der Tat Besorgnis erregenden) Ergebnisse der PISA-Studie sind die lesefaulen Kinder, die von ihren ach so literaturbegeisterten Eltern zum Lesen motiviert werden müssen, ein oft bemühtes Klischee in der gesellschaftlichen Diskussion dieses Problems. Was aber, wenn es eigentlich umgekehrt ist – und die Eltern Angst vor Kinderbüchern haben? Dieser simplen Umkehr des Gewohnten wird hier mit unglaublich viel Witz nachgegangen (und dabei auch das Genre der Ratgeberliteratur mit viel Augenzwinkern persifliert). "Wenn deine Eltern Angst haben, ein Kinderbuch aufzuschlagen, weil einem darin oft Wölfe auflauern…" – so beginnt der Text; " …dann erkläre ihnen, dass die nur aus Papier sind und dass sie schlafen, sobald das Buch wieder zugeklappt ist…" wird auf der gegenüberliegenden Seite wohlmeinend geraten, während die wiederum nächste Seite zeigt, was passiert, wenn die Ausnahme die Regel bestätigt und der Wolf doch die Grenze zwischen Buch und Kinderzimmer überwindet. Solcherart wird die Liebe zum Lesen und zu Büchern ganz ohne den üblichen erhobenen Zeigefinger spürbar, werden Leseorte von der Bibliothek bis zum eigenen Bett und Leseerfahrungen vom wohligen Gruseln bis zur Freude am Quatsch gezeigt. Durch seinen erfrischend anderen Zugang zum Thema Lesen eignet sich das kleinformatige Bilderbuch, im französischen Original bei Rue du Monde, dem Verlag des Autors Alain Serres erschienen, auch wunderbar als Einstieg oder Diskussionsimpuls für entsprechende Elternabende. In der von Bruno Heitz humorvoll ins Bild gesetzten Abfolge von Problem, Lösung und Ironisierung der Lösung finden sich nicht nur sehr unterschiedliche Konstellationen von ängstlichen Eltern und mutigen Kindern, sondern auch zahlreiche Hommagen an beliebte Kinderbuchfiguren, von denen sich manche gleich auf den ersten Blick, andere erst beim genaueren Hinschauen entdecken lassen – und wiederum Lust auf die Re-Lektüre des Originals machen.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Februar 2011
Hanser 2010
24 S., € 13,30
Ole Könnecke: Das große Buch der Bilder und Wörter
Je kleiner das angesprochene Lese- bzw. Betrachte-Publikum ist, desto größer bzw. stabiler ist oft das entsprechende Buch. Dieser Faustregel folgt der bekannte Illustrator Ole Könnecke in seinem im wahrsten Sinne des Wortes großen Pappbilderbuch, dessen Titel umfassende, fast lexikalische Wissensvermittlung für die Allerkleinsten andeutet. Zum Ordnungssystem der Bilder und Wörter wird hier jedoch weder die Abfolge der Zahlen noch das Alphabet, er arrangiert Gegenstände vielmehr rund um verschiedenste Themenkreise: Kinder- oder Badezimmeraccessoires, Nahrungsmittel, Musikinstrumente, Farben und vieles andere mehr sind auf jeweils einer Seite humorvoll und detailreich in Szene gesetzt, begleitet und belebt mit geschickt platzierten anthropomorphisierten Tierfiguren. Jeder Gegenstand ist mit der entsprechenden Bezeichnung versehen, abgesehen davon gibt es keinen Text – und somit auf den ersten Blick auch keine Narration im engeren Sinne. Diese kann vielmehr bei jedem Betrachten im Gespräch immer neu (und immer anders) entstehen: Über die abgebildeten Objekte können unterschiedlichste Bezüge zur eigenen Realität hergestellt werden, aber auch darüber hinausgehende Geschichten gesponnen werden. Welches Obst mag ich gern, welches gar nicht? Was kocht dieser schräge Vogel gerade? Wie klingt wohl dieses Musikinstrument? Wo ist mein Lieblingsplatz im Wohnzimmer? Ein Buch, das sich nicht nur ob seiner stabilen Machart wunderbar zum Mitwachsen eignet: Mit der Zeit kann beim Anschauen auf Accessoires der frühen Kindheit wie Schnuller oder Flascherl zurückgeblickt werden, während man sich mittlerweile längst neuen Herausforderungen wie dem Zählen oder der ersten Auseinandersetzung mit Buchstaben widmet.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Jänner 2011
Klett Kinderbuch 2010
32 S., € 14,30
Alexandra Maxeiner / Anke Kuhl: Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten
Während die in der Weihnachtszeit so präsenten Krippenfiguren ein traditionelles Bild von Vater-Mutter-Kind-Familien darstellen (die ja auch zur Zeit Jesu keineswegs die Norm waren), ist die gesellschaftliche Realität von Familien heute weit vielfältiger – und das liegt nicht nur an den in diesem Zusammenhang so gerne erwähnten Patchworkfamilien. Tilo zum Beispiel, von dem in diesem ungewöhnlichen Sach-Bilderbuch die Rede ist, wohnt in einem SOS-Kinderdorf: "Das ist eine besondere Art von Kinderheim. Dort leben die Kinder wie in einer Familie, weil ihre echten Eltern sich nicht gut um sie kümmern können. Oder weil sie wie bei Tilo gestorben sind." Mit prägnanter, einfacher Sprache wird also die Vielfalt von Familienformen beschrieben – und in Anke Kuhls humorvollen Illustrationen ins Bild gesetzt, welche Konstellationen und Komplikationen, aber auch positiven Erfahrungen sich daraus ergeben. Der Witz geht jedoch niemals auf Kosten der dargestellten Familien und ihrer einzigartigen Identität, sondern nähert sich ihnen sehr respektvoll, wenn etwa zum schlichten Satz "Jeder Mensch ist das Kind von jemandem, egal wie alt er ist." vier Generationen vor einem Grab versammelt sind. Die angebotenen Überlegungen zu Familien und ihren jeweiligen, manchmal durchaus skurrilen Eigenheiten regen dazu an, sich auch mit der eigenen Familie auseinander zu setzen – dazu bietet eine abschließende Doppelseite in albumhafter Form Platz. Seine erfrischende Art, Sachinformationen für Kinder anschaulich zu vermitteln, hat "Alles Familie!" mit einigen anderen Sachbuchneuerscheinungen der letzten Jahre gemeinsam: Diskutiert werden solche Bücher in der Jury zum Wissenschaftsbuch des Jahres, in der neben anderen Expert*innen auch Heidi Lexe vertreten ist. Anliegen der dahinter stehenden Initiative "Woche des Wissens und Forschens", die seit 2007 vom österreichischen Buchhandel und dem Wissenschaftsministerium initiiert wird, ist es Leistungen der Forschung der Öffentlichkeit zu kommunizieren – zum Beispiel in Form von gelungenen Sachbüchern wie diesem, das heuer auf der Shortlist zum Junior-Wissensbuch des Jahres zu finden ist.
Kathrin Wexberg