Krötenarchiv
2013
Kröte des Monats Dezember 2013

Wiener Dom-Verlag 2013.
26 S., € 14,90.
Linda Wolfsgruber: Arche
In einer Rezension war kürzlich zu lesen, wie herrlich es nicht sei, dass endlich ein Arche Noah-Buch erschienen ist, in dem Gott nicht vorkommt. Reicht, so fragt man sich, die Skepsis gegenüber konfessionellen Positionen und institutionalisierter Glaubenslehre so weit, dass bereits Fragen nach der Beziehung zwischen Gott und Mensch katechetisch begriffen werden? Gehören nicht gerade biblische Erzählungen zum kulturellen Grundbestand jeder Gesellschaft; zeichnen sich in ihnen nicht zentrale menschheitsgeschichtliche Fragestellungen ab? Und ist „Gott“ im Diskurs dieser Fragestellungen hinderlich?
Gerade die Geschichte von der großen Flut taucht in all jenen Mythen und Epen auf, die einer auf Sprache basierenden, kulturgeschichtlichen Entwicklung zu Grunde liegen. Sie erzählt von einem Neubeginn der Welt, die einst aus dem Chaos erschaffen wurde. Aus jüdischer und christlicher Sicht ist daraus der Garten Eden entstanden, in dem die Menschen Gott gleich leben durften. Das Moment der Erkenntnis führte erstmals zum Bruch dieser Beziehung zwischen Mensch und Gott und zur Vertreibung aus dem Paradies.
In Genesis 6 (Noah und die Sintflut) wird die Bosheit der Menschen noch einmal ins Chaos rückgeführt, aus dem ein neuer Bund mit Gott entsteht. …und so wurden alle gerettet! heißt es auch folgerichtig im fast textlosen Bilderbuch von Linda Wolfsgruber, in dem die biblische Geschichte nicht nacherzählt oder neu erzählt wird, sondern mit den künstlerischen Mitteln der Reduktion auf deren zentrale Motive verwiesen wird.
Es begann zu regnen …
Dieserart setzt Linda Wolfsgruber ein und impliziert in dem beginnenden Losrennen der Tiere die biblische Vorgeschichte. Denn hier stellen sich die Tierchen nicht in hübschen Zweierreihen an, sondern visualisieren eben jenes Chaos, aus dem die Schöpfung neu geboren wird: Wilder Strich und Farbgebung vermischen sich, der Raum wird aufgehoben, wenn Getier aller Art in eine Richtung zu drängen beginnt. In pastellener Farbintensität werden in den Monotypien die Figuren übereinander geschoben; die einen erscheinen wie die Schatten der anderen, manche in ihrer Zweisamkeit erkennbar, manche schon über die Wegstrecke hin getrennt. Als einziges Ordnungssystem erscheint die Benennung der Tiere – doch auch sie fügt sich als Bildelement so sehr an die Figuren, als würde rasch noch festgehalten, wer aller den Rettungsversuch unternimmt. Eine an Herbarien gemahnende Ordnung ist längst obsolet, wenn Säugetiere, Vögel und Fische ineinander überzugehen scheinen, nur noch Köpfe oder Flossen aus dem Versuch herausragen, das dynamische Geschehen in raschen Buntstift-Skizzen festzuhalten. Gespielt wird trotz Doppelseitenkonzept mit der Form des Leporellos: Immer neue Seiten werden aufgefaltet, gehen nur durch den Seitenschnitt, nicht aber durch illustratorische Begrenzungen ineinander über, als die endzeitliche Fliehkraft die Tiere in Richtung der Arche treibt.
Als die Arche erreicht ist, hat die Welt sich in wässrig-dunklem Blau und Grün eingefärbt und hoffnungsvolle Blicke werden zum Schiff, aber auch aus dem Bild heraus geworfen. Die nachhaltig durcheinander geratenen Größenverhältnisse explizieren an diesem Punkt die sinnbildliche Kraft der Arche im Sinne einer biblischen Erzählung, die nicht historische Realität abbildet, sondern aus ihrem Symbolgehalt heraus zu deuten ist: In der Arche finden jene Platz, die an Gott glauben, die seinem Schöpfungswillen verbunden sind, ihn repräsentieren. Dieser feste Glaube zeigt sich in der Festigkeit der Arche, die hier nicht auf Wellen hochgehoben und durch die Stürme der Sintflut geschleudert wird. Vielmehr ist sie die Konstante in einer Welt des Untergangs – bis zu jenen wunderbaren, in nächtliches Schwarz und Blau getauchtem Bild, in dem das Aufgehen der Sterne parallel geführt wird zu den sich hoffnungsvoll öffnenden Augen der Tiere.
Der Bilderzählung wird die biblische Geschichte am Ende des Buches zur Seite gestellt – erzählt von Linda Wolfsgruber in ihren eigenen Worten. Hier werden der Bund mit Gott und dessen Symbol, der Regenbogen, benannt. In der Bilderzählung selbst verdichtet sich dieser Bund in den wenigen Worten …und sie alle waren gerettet. Indem Noah als Figur ausgespart wird, wird mit diesem Moment der Rettung umso deutlicher auf Gott selbst verwiesen: Noah wird als Symbolfigur ausgespart, das Moment der Rettung (der Bund) auf alle Lebewesen übertragen, deren Blick in eine neue, aus dem Chaos geborene Zukunft fällt.
Heidi Lexe
Im nächtlichen Sternenhimmel, den das Schlussbild zeigt, vervielfältigt sich die Hoffnung auf jenen Stern, der dereinst über einem Stall in Betlehem aufgehen wird.
Daher hat die STUBE sich dieses Bild von Linda Wolfsgruber als Sujet für ihre Weihnachtskarte gewünscht. Unser Dank geht an die Künstlerin und unseren Grafiker Geri Zotter, der aus dem Bild einen wunderschönen Weihnachtsgruß gestaltet hat.
Verstanden wissen möchte das STUBE-Team diese Weihnachtskarte und diese Kröte auch als besonderen Dank an die Mitarbeiterinnen des Wiener Dom-Verlag, in dem das Bilderbuch erschienen ist. „Arche“ wird das letzte Buch des Wiener Dom-Verlags sein, das eine Kröte erhält, denn die Geschäftsführung des Medienhauses der Erzdiözese Wien hat im Rahmen eines neuen Medienkonzeptes entschieden, die Kinderbuchproduktion des Wiener Dom-Verlags nicht fortzuführen.
In wenigen Jahren hat sich mit diesem Kinderbuch-Programm ein Angebot an der Schnittstelle von Kunst und Kirche etabliert, das einen Diskurs religiöser, sozialer und ethischer Fragen mit literarischen Mitteln aufgegriffen und gezeigt hat, welche wichtige Rolle Kinderliteratur spielt, wenn es für Kinder darum geht, sich in menschheitsgeschichtliche Fragestellungen einzuüben und Sprachkompetenz für ihre Antworten zu entwickeln. Obwohl in einem Wiener Kleinverlag erschienen, hat diese Buchproduktion breites öffentliches Ansehen erreicht und zahlreiche renommierte Preise erhalten – darunter auch den Katholischen Kinderbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz. Für österreichische Künstler*innen hat der Wiener Dom-Verlag neue Möglichkeiten der Zugehörigkeit in einer minimierten österreichischen Verlagsszene geboten; für uns als Literaturkritiker*innen, Literaturvermittler*innen, Literaturwissenschafter*innen und Literaturliebhaber*innen hat er darüber hinaus wunderschöne Bücher gemacht.
Liebe Inge Cevela, liebe Katrin Feiner, liebe Barbara Kornherr, danke für alle diese ganz besonderen Bücher, auf die ein zweiter Blick im Sinne der Kröte des Monats immer gelohnt hat!
Kröte des Monats November 2013
Fischer 2013.
224 S., € 17,50.
Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop
Als Gestalterin zahlreicher humorvoll-kantiger Kinderbuch-Illustrationen (z.B. zu Büchern von Kirsten Boie) ist die Hamburger Illustratorin seit vielen Jahren breit bekannt. Nun jedoch lässt Regina Kehn sich auf ein ganz außergewöhnliches Buch-Projekt ein: auf die bildliche Transformation weltliterarischer Miniaturen. Von Daniil Charms bis Friederike Mayröcker, von Theodor Storm bis Rose Ausländer wählt sie sich Lyrik und Kürzestprosa und patchworkt ihre eigenen künstlerischen Wahrnehmungen dieser Texte zu einem literarischen Kaleidoskop. Mit jedem Drehen der Linse erprobt sie dabei ein ganz neuen Stil, wobei sie sich die Texte wortwörtlich aneignet und mit Pinsel oder Bleistift über die Seiten breitet, sie druckt oder stempelt, großzügig aquarelliert, verschoben oder exakt ausgerichtet, in Sprachblasen eines Comic oder verschwindend hell.
„Ach“, sagte die Maus (in Franz Kafkas kleiner Fabel), „die Welt wird enger mit jedem Tag“. Mag sein. Regina Kehns künstlerische Welt hingegen weitet sich zu einer Form der wortwörtlichen künstlerisch-experimentellen Auseinandersetzung mit Texten, die herrlich frischen Wind in die Welt- ebenso wie in die Jugendliteratur bringt und Leser*innen auf ganz neue Weise herausfordert.
Im Sinne eines Kaleidoskops haben die Mitarbeiter*innen der STUBE ihr je liebstes Stück des Buches einer genaueren Betrachtung unterzogen:
Die Platzierung des Gedichts von Georg Heym entbehrt nicht einer gewissen Tragik: Es folgt auf Christian Morgensterns „Der Seufzer“ und erinnert an den Tod des damals erst 25jährigen Dichters im Jänner 1912, der beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ertrank. Die verdichtete Kraft eines so kurzen Lebens zeigt sich folgerichtig auch im von Regina Kehn ausgewählten Gedicht des Expressionisten. Dem suggestiven Rhythmus von „Die gefangenen Tiere“ geht die Illustratorin in der Aufeinanderfolge der Bilder nach, wobei Dunkelheit, Gebrüll und Schrecken sich auch illustratorisch immer deutlicher verdichten. Einer Höhlenzeichnung gleich taucht auf der ersten Doppelseite das mit schweren Fellen behangene Tier mit den riesigen Hörnern auf – wobei der Text in dunklem Rot über die bedrückend schlammig wirkende Szenerie drübergestempelt wird. Die Unregelmäßigkeit der Buchstabenanordnung nimmt die drohende Auflösung bereits vorweg, wenn sich im Folgenden auch das Bild vor Gitterstäben aufzulösen scheint und letztlich durch eine Übermalung mit handschriftlichen Schrift-Versuchen ganz in den Hintergrund tritt. Das Gebrüll wird aus dem Schatten heraus spürbar – und hallt auch dann nach, wenn es heißt: „Es erstirbt und wird still.“ „Entsetzen und riesiger Schrecken“ bleiben präsent, wenn im letzten Doppelbild geisterhaft Reiher auftauchen. Als weiße Kreidezeichnungen auf gleichbleibend indifferent-bedrohlichen Hintergrund personifizieren sie förmlich das „Weinen im Sturm“ von dem Georg Heym spricht. Indem Bild und Schrift sich in Regina Kehns bildlicher Aneignung des Gedichtes so gespenstisch überlagen, entsteht im Zusammenspiel von Bild- und Textwirkung auch eine Überlagerung des Schreckens und des Begreifens. Die Klarheit über den Todeskampf, der hier inszeniert wird, wird ganz auf die Betrachter*innen zurückgeworfen, die wie die Reiher stehen „im Sturme allein“. Tief betroffen und fasziniert gleichermaßen.
Heidi Lexe
In der (Kinder-)literatur sind Fische und Wasser ja eher positiv besetzte Motive – umso überraschender ist es, wie sich das lyrische Ich in Günter Eichs spätem Gedicht „Wo ich wohne“ von dem paradoxerweise am Fenster vorbeiziehenden Heringsschwarm, viel mehr aber noch von den um Feuer für ihren schlechten Tabak bittenden Matrosen „unterschiedlicher Ränge“ genervt zeigt. Die Leitfarbe von Regina Kehns visueller Interpretation dieses kurzen, sehr skurrilen Textes ist, wie könnte es anders sein, ein wässriges Blau, in das knallrote bzw. lachsrosa Akzente gesetzt werden – ein rotweißrot-gestreifter Sessel (eine Anspielung an Eichs österreichische Ehefrau Ilse Aichinger?), ein Traktor, mit dem der erboste Kampf gegen die Fische aufgenommen wird und schließlich eine Zeitungsseite mit Marktforschungsdaten, von der das Ich aufschaut. Eichs Schlusssatz „Ich will ausziehen“ wird von Kehn energisch unterstrichen: So wird ein letztes Mal deutlich, dass Fische und Wasser hier nicht als Sinnbild von Fernweh und Sehnsucht, sondern als Ausdruck von Überdruß und Unzufriedenheit stehen. Eine Stimmung, die auch vor den Fischen selbst nicht Halt macht, die mitten im Wasser ihren schlechten Tabak rauchend auch nicht gerade glücklich dreinschauen…
Kathrin Wexberg
Regina Kehn beweist auch in der Illustration des deutschen Kindergedichtes „Der Garten des Herrn Ming“ von James Krüss einmal mehr ihre malerische Flexibilität. Getreu dem Zeichenstil der chinesischen Kunst rücken Atmosphäre und Wesen in den Vordergrund der Bilder; Realismus und Perspektive müssen in den rot geränderten, monochromen Illustrationen zurückstehen. Bewegungslinien z.B. im Teich und viel Mimik und Gestik sowohl bei Mensch als auch Fauna und Flora beleben die Kinderreime. Tuscheartige Embleme und dem westeuropäischen Auge bekannte Elemente, wie z.B. Maneki-neko (die winkende Katze), ein Kranich oder die Kirschblüte sorgen für eine schnelle stilistische Bildzuordnung. Und dem als ewig und unbefriedigend beschriebenen Kreislauf der Liebe bereitet Kehn – ganz im Stile chinesischer Kalenderblätter – auf der Bildebene kontrapunktisch augenzwinkernd und in Gestalt zweier sich küssender Würmer ein schönes Ende …
Elisabeth von Leon
Erzählungen, Alkohol und Zensur scheinen in Russlands Geschichte eng miteinander verbunden zu sein. Im Jahr 2012 wurde die sowjetische Trickfilmserie „Nu, pogodi!“ (dt. Titel „Hase und Wolf“, ins dt. übersetzt „Na warte!“) mit der Kennzeichnung „jugendgefährdender Inhalt“ versehen, da der Antagonist des Hasen ein kettenrauchender und dem Alkohol nicht abgeneigter Wolf laut staatlicher Medienaufsicht (nach 43 Jahren Sendezeit) doch besser ins Nachtprogramm passe.
In der Kurzgeschichte „Fuchs und Hase“ von Daniil Charms stellt Regina Kehn allerdings den Hasen in die Motivtradition der hochprozentigen Figurenzeichnung. Nachdem er von seiner Verlobten verlassen wird, heißt es: „Graublum (Nachname des Hasen), über Stein und Stoppeln, sieht man flugs zum Fuchsbau hoppeln.“ Auf der Bildebene wird der Hase in zwei Panels – Regina Kehn illustriert in Comicform und vielfärbig – mit insgesamt sieben Flaschen dunklem Destillat ins Bild gesetzt. Die Erzählung bzw. das Märchen, da mit „Es waren einmal 2 Freunde …“ beginnend, war die letzte Publikation des russischen Autors (1905 – 1942), da seitens der sowjetischen Rechtsmedizin konstatiert wurde: Charms „gibt absonderliche Vorstellungen von sich.“ Als abstrus empfindet es auch der Fuchs, als der befreundete Hase nächtens betrunken eingelassen werden möchte und quittiert dies mit: „Weisst du nicht wie spät es ist? Geh nach Hause, Terrorist!“
Das inszenierte Hin und Her zwischen Fuchs und Hase, Ausgrenzung und Eingrenzung, Innen- und Außenräumen, Handlungsbeschreibung und direkter Rede unterscheidet diese Erzählung im literarischen Kaleidoskop Regina Kehns von den anderen Texten (meist Lyrik), die in ihrer Erzählweise Text und Bild betreffend wesentlich offener realisiert werden. Schließlich bilden das erste und das letzte Bild den Rahmen der prekären Freundschaftsgeschichte. Während zu Beginn die Häuser der Figuren mit ihren Namen überschrieben werden, stehen am Ende je eine dunkle Wolke über den Dächern und der Satz: „Dicke Freunde warn die beiden! Konnten sich nun nicht mehr leiden.“
Peter Rinnerthaler
Oberflächlichen Konnotationen zum „Meeresstrand“ erteilt schon die textliche Vorlage von Theodor Storm eine Absage: Keinen lichtüberfluteten Sandstrand skizziert er mit wenigen Versen, sondern den „gärenden Schlamm“ des Wattenmeers: „An´s Haff nun fliegt die Möwe, Und Dämm´rung bricht herein, Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein.“ Storms Biografie und entsprechende Textsignale lassen eine Deutung des Schauplatzes als deutsche Nordseeküste zu und die Inseln, die im „Nebel auf dem Meer“ liegen, verweisen wohl auf die Haligen, die Storms Heimatstadt Husum vorgelagert sind. Regina Kehn – selbst Norddeutsche aus Hamburg – radikalisiert die Stimmung noch: Der Abendschein ist auf ein Fünkchen Gelb im Grau reduziert, zarte hellblaue und weiße Striche verschwinden zunehmend in der graubraun aquarellierten Ebbe. Die Zeitlosigkeit von Storms Naturbetrachtung bricht Regina Kehn, indem sie in die zurückgenommene Landschaftsdarstellung die für den Nordseestrand so typischen weißen Windräder stellt. Ein figuraler Akzent, dem sich die Bilder, ebenso wie allen Konturen aber zunehmend verweigern. Der Text ist mit wässriger Tusche und geschwungener Schrift in die halbnasse Farbe gepinselt und mit jeder Verszeile und jedem Umblättern wird auch die Küstenlinie blasser. Mit dem Verschwinden visueller Impulse hinein in ein wässriges Nichts greifen die Illustrationen die Verschiebungen des Textes auf: Vom Sehen, zum Hören, zum Ahnen des Meeresstrands. „Noch einmal schauert leise Und schweigt dann der Wind; vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.“
Christina Ulm
Kröte des Monats Oktober 2013
Thienemann 2013.
224 S., € 41,10.
Dirk Steinhöfel: Die Kinder im Wind
W – A – G – N – E – R. Die Buchstaben sind in kleine Holzwürfel geprägt, die auf eine Schnur aufgezogen und rund um das Ziffernblatt einer Uhr arrangiert werden; auf diesem Ziffernblatt thront wie auf einer Art Podest ein Kinderwagen im Stil der 1950er Jahre. Die Namensgebung als zentrales Moment der Identität wird damit scheinbar an den Beginn von Lebenszeit gebunden. Scheinbar. Denn die Vorgeschichte hat gezeigt, dass "Wagner" die höchstmöglich unpersönliche Namensvariante für ein Kind ist, an dem niemand Interesse zeigt.
Mit dem Umblättern entpuppt Wagner sich auch folgerichtig als gebrochene Identität: Der schicke Kinderwagen ist einem schlichten Holzleiterwagerl gewichen, die Namenskette ist zerrissen, einzelne Holzwürfel sind durch Steine mit provisorisch aufgemalten Buchstaben ersetzt worden, die dem Namen entsprechende Buchstabenchronologie ist durcheinandergeraten. Das anachronistische Verhältnis zwischen Wagners Geburtsjahr und Styling des Kinderwagens verweist auf ein Hin und Her zwischen den Zeiten, eine Form der Gleichzeitigkeit, die Dirk Steinhöfels artifiziellen Bild-Roman prägt. Handlungsebenen werden ebenso durchbrochen wie Bildseiten; verbindende Schnüre lösen sich, Baumgabeln durchstoßen die Seiten, das Meer des Vergessens schwappt über Wagner zusammen.
Das Moment der Befriedung wird an puppenhafte Gestalten gebunden, die Wagner mit sich nehmen. In lichtdurchfluteter Naturlandschaft, in der feingliedriges Herbstlaub den Weg weist, trifft Wagner auf das Sinnbild der Zeitreise: einen Zug. Dessen immer noch rauchende Lokomotive scheint ebenso gestrandet wie jene Gestalten, die sich in deren Innerem eingerichtet haben.
Es sind märchenhafte Szenarien, die Dirk Steinhöfel in die schäbigen Zugabteile einschreibt, befriedete ebenso wie geheimnisvolle Momente, wenn sich Däumlinge an Schwäne schmiegen und Hexenkinder rote Farbakzente setzen. Die Gesichter all dieser Kinder sind abgewandt – erst nach und nach wenden sie sich Wagner – und damit den Betrachter*innen – zu und enthüllen ihre jeweiligen Lebensgeschichten. Es sind beschädigte Biografien wie jene von Wagner selbst, Biografien, die geprägt sind von Vereinzelung: Biografien, in denen Erwachsene nur dann auftauchen, wenn den Kindern Gewalt angetan wird.
Als künstlerisches Gestaltungsmoment nutzt Dirk Steinhöfel ein Medium, das als Inbegriff biografischer Annäherung zuletzt auch verstärkt im Umfeld der Kinder- und Jugendliteratur aufgetaucht ist: das Album. Seinem Wesen nach ist es eine Sammlung einzelner Bilder oder Fotografien, deren Zusammenhang erst durch Hintergrundkenntnis, Bildunterschriften, mündliche Erzählungen hergestellt werden kann. Das dem Comic innewohnende Moment der Induktion, die das Erkennen des Ganzen meint, obwohl nur Teile davon wahrgenommen werden können, wird hier auf die Spitze getrieben. Die Bilder seiner Alben lässt Dirk Steinhöfel daher zu Bildsequenzen anwachsen, die sehr kursorisch und sehr ausschnitthaft in die Lebensgeschichten der Kinder aus dem Zug hineinführen.
Und das wortwörtlich: Die Möglichkeit, tiefer in den (Erinnerungs-) Raum des Zuges vorzudringen führt der Künstler mit dem Versuch zusammen, seinen Alben mit den Mitteln der Zweidimensionalität stets Dreidimensionalität zu verschaffen. Jeder Lebensgeschichte wird dabei ein eigenes Foto-Design zugeordnet, vom schweren Pappbild bis zum Polaroid; diese Fotos werden in Alben genietet oder mit Hilfe der guten, alten Fotoecken auf Kartonseiten geklebt, die sich zum Sujet der jeweiligen Geschichte wandeln, zu Holzverschlägen und Steinmauern werden, durch die sich an der Stelle der Bindfäden alter Ringmappen Stacheldraht zieht. Eine expressive Fülle an Requisiten reichert die Seiten der Alben zusätzlich an, verweist durch Alltagsgegenstände auf die jeweilige Zeitebene, setzt durch Naturmetaphern Assoziationen frei.
Auch die Gestaltung der Bilder selbst entspricht diesem Gestus der Dreidimensionalität, wenn Dirk Steinhöfel Körper in all ihrer Haptik kreiert und sie computerunterstützt ins fotorealistische Szenario setzt.
In den an Düsternis kaum zu übertreffenden Binnenerzählungen werden Märchenmotive mit dem Alltagsrealismus der Un-Orte unserer Gesellschaft und Geschichte zusammengeführt, wenn zum Beispiel ein Geschwisterpaar im Betonwald der Großstadt ums Überleben kämpfen muss, indem es sich eine Bro(t)samenspur aus Pfennigen zusammenschnorrt – letztlich aber doch im Räucherofen der Opiumpfeife verelendet. Wie stets am Übergang von Leben und Tod der in mehrfacher Hinsicht vorgeführten Kinder treten auch hier die Puppenfiguren auf und geleiten sie in eine liminale Welt. Kleine weiße Frühlingsblüten stoßen dann durch den Karton der Alben, die sich im Zug angesammelt haben und in die Wagner die Bilder der anderen Kinder ebenso einordnet wie sein eigenes. Sein hölzernes Leben wandelt sich in eine utopierte Kinder-Welt der Freiheit. Die Blaue Fee der Holzpuppe(n) wird hier zur Tochter eines Puppenspielers gemacht. Ihre Geschichte rahmt jene der Kinder ein; sie wird zur Erlöserfigur, die den aus der Zeit gefallenen, spinnenverhangenen Zug entdeckt und zu einem befriedeten Jenseits-Ort macht.
Dirk Steinhöfel, der bereits mit "Die Wolke" an der Schnittstelle von Illustration und Graphic Novel gearbeitet hat, legt mit "Die Kinder im Wind" ein Gewaltwerk im wahrsten Sinn vor. In der Gesamtheit seiner Zeichensetzungen kaum erfassbar, schafft es dennoch außerordentlich intensive Eindrücke davon, wie sehr Kindheit sich von jener Bilderbuch-Welt unterscheiden kann, die ihr im Fiktionalen so gerne zugeordnet wird.
Im literaturwissenschaftlichen Kontext hat Ernst Seibert den Begriff des Kindheitsromans geprägt – eines Romans, der sich nicht an Kinder richtet, sondern sich dem zeitgeschichtlichen Erleben aus kindlicher Perspektive annähert. In diese Tradition reiht Dirk Steinhöfel sich mit seinem Bild-Roman ein. Er irritiert. Er fordert heraus. Er fasziniert mit seiner Bildgewalt ebenso wie mit seinem Einblick in die Verbildlichungen kindlicher Psyche. Ein zweiter Blick, wie er der Definition der Kröte des Monats zu Grunde liegt, wird da nicht genügen. Doch mit jedem weiteren lohnenden Blick eröffnet sich eine neue metaphorische Ebene, eine neue Assoziations- und Interpretationsmöglichkeit.
Heidi Lexe
Kröte des Monats September 2013
Nilpferd in Residenz 2013.
48 S., € 14,90.
Saskia Hula / Ina Hattenhauer: Die coolste Schule der Welt
Schulbeginn und Nationalratswahl – in diesen Tagen wird das österreichische Bildungssystem naturgemäß oft sehr kritisch beäugt. Unterschiedlichste Vorstellungen unterschiedlichster Parteien resultieren oft in Stagnation. Umso schöner liest sich die Fortsetzung des Kinderbuchs „Die beste Bande der Welt“, mit der Saskia Hula und Ina Hattenhauer im letzten Jahr den österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis bekommen haben. Ungeachtet der erwachsenen Querelen nehmen in „Die coolste Schule der Welt“ die Schüler*nnen ihre Schulbildung gleich selbst in die Hand.
„Seit zwei Wochen geht Oskar in die Schule. Und es ist gar nicht so übel.“ Oskars Bemühungen um die beste Bande der Welt haben (gleich auf den ersten Seiten sichtbar) gefruchtet, schließlich ist Oskar jetzt nicht nur mit Jojo, Rastamän und Supermario bestens befreundet, sondern sogar mit einem der damals gefürchteten Mädchen, Wilma. Die Sprengelgrenzen sind hier aber offensichtlich schon abgeschafft, denn bis auf Oskar und Wilma gehen alle Bandenmitglieder getrennte (Schul-)Wege. Und Oskar denkt sehnsüchtig an die Schulen der anderen, die augenscheinlich viel cooler sind als seine eigene. Rastamän zum Beispiel muss zwar weit in die Schule fahren, aber „dafür kann er dort lernen, was er will. Wie viel er will und wann er will. Wenn er überhaupt will. Wenn er nämlich nicht will, kann er auch in den Garten gehen und ein Baumhaus bauen.“ In den anderen Schulen ist also nicht nur das Gras viel grüner und so imaginiert sich Oskar den wunderbaren Unterricht, den seine Freunde ihren eigenen Angaben nach erleben dürfen. Ina Hattenhauer widmet jedem „Schultyp“ eine eigene Doppelseite und fabuliert bildlich von ganz speziellen Unterrichtsmethoden: Bei Supermario ist alles „very britisch“ – „dort reden sie den ganzen Tag englisch, mit lauter echten Engländern“ und bei Jojo ist alles High-Tech, sogar der Klassen-Hamster trägt den entsprechenden Namen James Bond. Und weil ummelden ob der freundschaftlichen Vernetzungen gar nicht so leicht ist, beschließen Oskar und Wilma sich all das selbst in die Schule zu holen, also die Engländer, die Baumhäuser und die Hamster. Dass der Herr Direktor bei so viel didaktischem Engagement sein skeptisches „Schwierig, schwierig“ bald sein lässt, könnte sich die österreichische Bildungspolitik ruhig zum Vorbild nehmen …
Das grundgelegte und zentrale Thema der Diversität führen die Illustrationen zur perfekten Erfüllung: Wo Saskia Hula in bewährt lakonischer und pointierter Sprache die Figuren vorstellt, macht sie Ina Hattenhauer zu markigen Charakteren. Wo der Text die Struktur der Geschichte vorgibt, fetten sie die Illustrationen mit zahlreichen kleinen Binnengeschichten auf. An der wuchtigen (und ganz wie ihr Sohn sehr haarigen) Mama von Rastamän, die mit zarter Perlenkette in die Schule kommt und Oskars jugendlich-hippem Volksschullehrer merkt man Ina Hattenhauers Freude an Individualität, die sie mittels Kostümen und Überzeichnungen visualisiert.
Hattenhauer und Hula gelingt mit diesem Kinderbuch zum Vor- oder ersten Selberlesen eine eigenständige Variation des Erfolgsrezeptes des erfolgreichen Vorgängerbuches. Erneut trägt der Subtext der humorigen Geschichte eine sehr soziale Botschaft – denn die coolste Schule der Welt ist letztlich die, die man sich selbst gestaltet, die das Beste aus allem vereint.
Ein wahres Kinderbuchfest – nicht nur für die Schultüte.
Christina Ulm
Kröte der Monate Juli und August 2013
Wiener Dom-Verlag 2013.
26 S., € 14,90.
Heidi Trpak / Laura Momo Aufderhaar: Gerda Gelse
Über das Wetter zu jammern, ist in einem Sommer, in dem das Hochwasser nahtlos in die Hitzewelle übergeht (und ebenso schnell wieder zurück…), irgendwie müßig. Eine Spezies jedoch profitiert enorm von dieser Kombination aus zuerst sehr feuchtem und dann sehr warmem Klima: Man nennt sie in anderen Sprachen (so verrät das Vorsatzpapier) Mbu, myg, uodai, oder auf gut österreichisch: Die Gelse. Um sie geht es in einem Sachbilderbuch, das im Rahmen des Projektes "lesen lieben lernen" der St. Nikolaus-Kindertagesheimstiftung entstanden ist und mit dem zum zweiten Mal verliehenen Friedl Hofbauer-Preis ausgezeichnet wurde. Während im Sachbuch normalerweise eine neutrale, fast allwissend wirkende Erzählhaltung "von außen" eingenommen wird, erzählt hier sozusagen der Gegenstand selbst: Gerda Gelse berichtet aus ihrem Leben, das anders als bei Menschen nur drei bis acht Wochen lang dauert – und weiß dabei von Schönheiten zu berichten, die sonst wenig beachtet werden:
"Wenn ich fliege, erzeugen meine Flügel ein wunderschönes Sirren. Ihr kennt mein Lied bestimmt. Ich singe es euch am liebsten zum Einschlafen vor, sobald ihr das Licht ausgeschaltet habt. Dann winkt ihr mir immer so nett zu, bis ich einen guten Platz zum Stechen gefunden habe. Und wenn ihr dann eingeschlafen seid…"
Ins Bild gesetzt wurden Gerda und ihre Einzelteile von der jungen Illustratorin Laura Momo Aufderhaar, deren Teilnahme an der Sommerschule für Kinderbuchillustration 2010 von der STUBE mit einem "Krötenstipendium" gefördert wurde. Erarbeitet wurden ihre Illustrationen im Rahmen der Sprungbrett-Woche 2012, in der mehrere Illustrator*innen zum Text von Kindergartenpädagogin Heidi Trpak Bilder erarbeiteten – wie Gerda auch aussehen hätte können, zeigt die Ausstellung aller dort entwickelten Illustrationsvarianten, die noch bis 21. Juli im Kinderbuchhaus im Schneiderhäusl zu sehen ist. Das künstlerische Mittel der Wahl war in diesem Fall der Pflanzendruck, dessen Ablauf auf einem dem Buch beigelegten Plakat ganz genau erklärt wird und Lust zum selbst Ausprobieren macht: Aus den feinen Linien von Salbeiblättern entstehen zarte Flügel, aus Haselnuss-Kätzchen ein Gelsen-Körper und aus der Ahornfrucht besonders grazile Stechmücken. Neben dem faszinierenden Detailreichtum dieser Drucke ist es besonders die satte Farbgestaltung, die die jeweiligen Doppelseiten so besonders macht (und auf raffinierte Weise auch in die Typographie integriert ist). Den Sachbuch- und damit Wissensvermittlungscharakter unterstreichen schließlich neben Gerdas im Plauderton vorgetragenen Selbstoffenbarungen Sachinformationen, die den durchnummerierten Abbildungen beigestellt sind. So ist es diesmal kein üppiger Schmöker, sondern ein Buch mit unbestritten großer Alltags-, aber auch Urlaubsrelevanz, mit dem die STUBE einen schönen und erholsamen Sommer wünscht – und denken Sie in langen qualvollen Sommernächten immer daran, was Gerda so versöhnlich sagt: "Aber nicht, dass ihr denkt, wir würden euer Blut fressen! Wir Weibchen brauchen das Blut zum Eierlegen. Ansonsten ernähren wir uns von leckerem Blütennektar. Wir sind sozusagen fast Vegetarier."
Kathrin Wexberg

Luftschacht 2013.
104 S., € 17,90.
Elisabeth Steinkellner / Michael Roher: Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?
Das Volksmärchen lebt von Stereotypen, vor allem, was die Figuren betrifft: Sie seien eindimensional, flach, haben keinen Charakter. Hänsel, Schneewittchen und Co haben sich in der Märchenforschung diesbezüglich allerhand anhören müssen.
Schön also, dass sich Elisabeth Steinkellner und Michael Roher den Missverstandenen endlich einmal annehmen und das Korsett der Märchenkonvention deutlich lockern (oder überhaupt gleich verbrennen). "Aufstand" heißt es in der letzten der 20 Geschichten, in der die Märchenfiguren aus dem Märchenbuch klettern und vom Erzähler mit einem wohlwollenden "Adieu" verabschiedet werden. Kein Wunder, schließlich müssen sie sich am anderen Ende dieses opulenten Buches (also zu Beginn) von einem frechen Lump viel gefallen lassen: Der hänselt einfach die Gretel, klatscht den Prinzen an die Wand und stiehlt den Brüdern Grimm (Metafiktion lässt grüßen) den Stift.
Versteht man das Volksmärchen als Schablone, dann wird hier ordentlich über den Rand gefahren: Der Wolf und seine 7 Greislein werden ebenso zum Kanon gezählt wie der Suppenkaspar oder King Elvis himself. Steinkellner und Roher streuen zwar ganz traditionelle Märchenmomente, spielen mit dem klassischen Erzählgestus und nutzen die formelhafte Sprache schamlos aus – biegen aber nach dem "Es war einmal" scharf und mit Karacho ins herrlich Abstruse ab.
Ein sehnlich erwartetes Kind? Klassisches Märchenmotiv. Dass dieses aber dann ein Junge wird und von den unzufriedenen Eltern nicht umgetauscht werden kann und so schließlich bei einer alten Frau im Schattenwald landet, eher nicht. "Das ist gemein, denkst du und ich gebe dir recht. Aber zum Glück war die Frau aus dem Schattenwald eine ganz eine liebe." Und so wächst der Bub unter dem Namen Rapunzel heran, bis er in die Pubertät kommt, laute Rockmusik hört und Poster von Balletttänzern an seine Zimmerwand klebt. Bis schließlich jemand Besonderer vor dem Turmfenster steht … und (wie das nun mal so ist in der Pubertät mit den Haaren) an Rapunzels Bart hochklettert. So lebten sie glücklich mit der neuen KuschelRock-CD, Wackelpudding und Weizenbier und fuhren gerne ins Strandbad nach Kümmelbach zum Schwimmen. (Apropos Wackelpudding: In "(K)ein Märchen" trägt diesen eine Frau tagein, tagaus auf dem Kopf und "sonst passierte eigentlich gar nichts. […] Und wenn sie nicht gestorben ist, so ist sie bestimmt schon sehr alt und den Wackelpudding sollte lieber niemand mehr essen.")
Es ist das unkonventionelle Glück, dass die Figuren hier finden und so reichern die beiden Autor*innen ihre Fabulierlust und ihren Hang zum Nonsens auch mit einer ordentlichen Portion Menschenliebe an.
Mit eleganter Leichtigkeit werden Rollenzuschreibungen unterwandert oder parodistisch unterstrichen – der satirische Charakter geht dabei allerdings nie auf Kosten des märchenhaften Tons und der fabelhaften Eignung zum vor-, gemeinsam-, oder selber Lesen.
Dass Roher und Steinkellner einen ordentlichen Spaß beim Schreiben gehabt haben müssen, ist augenscheinlich – dass sich dieser aber so auf die Lesenden überträgt, keine Selbstverständlichkeit. Die Geschichten wachsen einem außerordentlich ans Herz, ebenso wie die Illustrationen aus Tusche von Michael Roher. Ob als Vignetten oder großflächige Wimmelsequenzen – Text und Bild fühlen sich an wie aus einem Guss, ganz egal, wer von den beiden für die einzelnen Märchen verantwortlich zeichnet. Die vielen kleinen Verweise, Binnenerzählungen und Intertextualitäten machen dieses Hausbuch zu einem mehrfachadressierten Lesegenuss.
"Ein Märchenbuch von Elisabeth Steinkellner und Michael Roher" heißt es im Untertitel. Damit schreiben sich die beiden ganz bewusst in eine zentrale Tradition der KJL ein und bereichern diese ungemein. Dementsprechend sei auch dem Verlag Luftschacht zu danken, der den überbordenden Ideenreichtum so schön gewandet hat: eine genussvolle Haptik, ein purpurner Vorsatz. Ein Königsmantel quasi. Fehlt nur noch Hermelin und Edelstein – selbst das hätte dieses Buch verdient.
Christina Ulm

Aus dem Franz. v. Ulrich Pröfrock.
Carlsen 2013.
208 S., € 18,40.
Boulet / Pénélope Bagieu: Wie ein leeres Blatt
Manchmal erfordert das Leben Tabula rasa: Eine Beziehung beenden, eine Wohnung aufgeben oder alte Gewohnheiten hinter sich lassen. Diese Enden oder umgekehrt neue Anfänge beziehen sich aber meist nur auf einen Bereich des Lebens. Was der jungen Pariserin Eloïse in dieser rundum geglückten Graphic Novel widerfährt ist hingegen von viel umfassenderer Art: Auf einer Parkbank sitzend weiß sie plötzlich nicht mehr wer sie ist – nicht, wie sie heißt, nicht, wo sie wohnt, nicht, wo sie herkommt oder hinwill. Tabula rasa mit der eigenen Existenz sozusagen. Geblieben sind ihr nur die konkreten Spuren, die sie in der Welt hinterlassen hat: Mit dem Inhalt ihrer Handtasche kann sie ihren Namen und Wohnort rekonstruieren, mit ihrem Handy ihren Arbeitsplatz. Mit detektivischem Spürsinn begibt sie sich so auf die Suche nach sich selbst und erweist sich dabei als unheimliche charmante Identifikationsfigur – wortwörtlich, gilt es doch sowohl für Eloïse als auch die Lesenden diese Eloïse kennen zu lernen. Dabei spaltet sich die Figur spannend auf: In jene junge Frau, deren Charakter man aufgrund ihrer Wohnung, ihrer persönlichen Gegenstände und ihres Umfelds erahnen kann und die Eloïse ohne Gedächtnis, die sich nur allzu oft über sich selbst wundert, wenn sie beispielsweise ihr "eigenes" Duschgel erschnuppert: "Wie ist DIE denn drauf mit ihrem ganzen FRÜCHTE-kram?"
Sichtbar wird diese Diskrepanz also ganz konkret im Sprachgebrauch, wenn Eloïse von sich selbst in der dritten Person spricht, aber auch im Subtext der Erzählung, wenn zunehmend sichtbar wird, dass ihr die alte Identität einfach nicht mehr passt. Die Panels folgen eng Eloïses Wahrnehmung und erzählen gleichsam komisch wie tiefgründig mit welcher Akribie Eloïse ihre scheinbare Persönlichkeit erforscht: Sie probiert ihre Hobbies aus (Stricken? Zeichnen? Gitarre spielen?), ihre Freunde und Gewohnheiten und füllt Leerstellen – dort, wo es keine Anhaltspunkte gibt – mit unterschiedlichen Gedankenspielen: Wenn sie sich in graphisch besonders hervorgehobenen Panels ausmalt, Geheimagentin gewesen oder von Aliens entführt worden zu sein oder die Vorstellung ihres Arbeitsplatzes (eine heimelige Buchhandlung) von der Realität (ein anonymisierter Großkonzern) doch stark abweicht, zeugt das von ihrer reichen Phantasie und entsprechender Mediensozialisation.
Mit ihrer leicht überzeichneten Mimik und Gestik wächst einem die junge Frau sehr ans Herz – ein bisschen verpeilt, aber sehr clever, ein bisschen Drama, aber sehr reflektiert.
Sowohl in den Zeichnungen als auch im Text ist Eloïse psychologisch sehr genau skizziert. Doch je näher man als Leserin der neuen Eloïse kommt, desto mehr entfremdet sich Eloïse selbst. Denn die Frau, die sie in ihren Recherchen erkennt, scheint nicht glücklich gewesen zu sein. So sichtet sie Aktenberge über sich selbst, katalogisiert ihr Wohnungsinventar und kommt sich doch kein Stück näher. Langsam schiebt sich eine stimmige melancholische Note über den Text und Eloïse versteigt sich im manischen Wahn, sich selbst gerecht zu werden, sich ihrem alten Leben anzupassen, es schlicht wieder zu erinnern. Doch Ärzte, Selbsthilfegruppen, hypnotische Regression oder der Besuch ihres Kindheitsortes können nicht helfen und so ist sie letztlich wieder zurückgeworfen auf sich selbst.
Dass der spannenden Suche nach Identität keine finale Enthüllung des Grundes ihrer Amnesie folgt – oder gar ein Erinnern – tut dieser großartigen Graphic Novel keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Der Schlussakkord stimmt den Text noch einmal raffiniert um – und deutet Eloïses Amnesie nicht als Verlust, sondern als Chance. Sie löst sich von der Vergangenheit, von allen Dingen und macht erneut Tabula rasa – diesmal ganz konkret: "Kleinscheiß, Modeschmuck … nichts mit einer Geschichte …" – und wirft all das weg, an dass sie sich geklammert hat. Wie auf einem leeren Blatt darf sie ihre Persönlichkeit neu schreiben. Diesmal richtig. Diesmal glücklich.
Christina Ulm
Kröte des Monats April 2013
Aus dem Dän. v. Sigrid Engeler.
Hanser 2013.
160 S., € 13,30.
Louis Jensen: 33 Cent um ein Leben zu retten
Stehlen ist nicht schwer. Doch stehlen ist verboten. Es ist auf den ersten Blick ein Generationskonflikt, der sich zwischen einem männlichen jugendlichen Ich und dessen Vater, genannt "der Richter" entspinnt. Dahinter jedoch verbirgt sich eine scheinbar so simple Logik: 33 Cent am Tag kostet es, um einem hungernden Kind in den Krisengebieten Afrikas das Leben zu retten. Es wäre für den konsumorientierten Westen eine Leichtigkeit, dieses Geld aufzubringen. Warum also beutet die so genannte Erste Welt die Ressourcen der so genannten Dritten Welt aus, ohne ihr den entsprechenden Anteil am Gewinn zurückzuzahlen? Auf eine Differenzierung dessen, was unter "Afrika" zu verstehen ist oder einen Diskurs über strukturelle Bedingungen der Armut in der Welt lässt sich der Text jedoch gar nicht ein. Grund dafür ist die konsequente Perspektivierung, die der bereits 1943 geborene und vielfach ausgezeichnete dänische Autor vornimmt: Das Erzählen folgt der Fokussierung des namenlos bleibenden Ich, folgt einem Jugendlichen, der keinen Blick mehr hat für etwas anderes als die verzweifelte Erkenntnis, dass mit 33 Cent das Leben eines Kindes für einen Tag gerettet werden kann. Sein Handeln folgt ausschließlich der Maxime dieser mathematischen Möglichkeit und dem Wunsch, seine KHK, seine Kassa hungernder Kinder mit entsprechenden Mitteln aufzufüllen.
Die ethische Frage nach dem Kontrast einer westlichen Wohlstandsgesellschaft und den entindividualisierten sterbenden Kinder Afrikas, die im Fernsehen gezeigt werden, ist diesem Handeln ebenso implizit wie die Verzweiflung über die Gleichgültigkeit dieser westlichen Gesellschaft. Expliziert wird hingegen die ethische Frage, welche Mittel angewandt werden dürfen, um zu helfen: Darf das Ich, das Verantwortung für diese Ungleichheit der Weltgemeinschaft übernimmt, von den Reichen nehmen und den Armen geben? Zahlreiche Re-Lektüren des Abenteuerromans "Robin Hood" führen immer und immer wieder zur Selbstüberzeugung: Im Sinne der guten Tat ist der Diebstahl unausweichlich – auch wenn sich gerade darin stets aufs Neue die aus der Verzweiflung entspringende Naivität des Handelns zeigt. Also nimmt das Ich von den Reichen, bestiehlt globale Textilketten und Boutiquen, verkauft die Stücke am Schwarzmarkt und füllt mit dem Geld seine KHK.
Gerade diese Naivität wird zum Movens des Erzählens von Louis Jensen: Weder ein reflexiver realistischer Jugendroman emanzipatorischen Zuschnittes ist sein Anliegen, noch eine zwischen Utopie und Dystopie gelagerte Erzählvariante, die einem im Geiste von Attac agierenden Jugendlichen folgt. Vielmehr erzählt er mit jener Herbheit, die (aus der Sicht der deutschsprachigen Jugendliteratur) schon den vieldiskutierten, ebenfalls aus Dänemark stammenden Roman "Nichts" von Janne Teller geprägt hat. Kurze, in ihrer Adjektivlosigkeit immer wieder beinahe emotionslos wirkende Sätze und kurze Kapitel, die sich einem Erzählfluss verweigern, prägen den Text. Sprunghaft und doch der mathematischen Logik des Ichs folgend werden hier Wahrnehmungen, Überlegungen und Handlungen summiert, werden in die erzählerische KHK geworfen, um als Summe xxx zu ergeben.
Beide – das Bemühen um die KHK wie auch das diesem Bemühen entsprechende Erzählen – münden in den unausweichlichen Wunsch konkreten Handelns, das das strukturpolitische Missverständnis des erzählenden Ichs auf die Spitze treibt: Der Wunsch, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, der so klar und deutlich und logisch erscheinenden Lösung zu folgen, führt zu einer Fahrt nach Afrika, die genau das leisten soll. Unzählige Male hat der Ich-Erzähler sich den Weg von Dänemark (auf der ganz schemenhaften Landkarte, die Teil der Textgestaltung ist, scheint er von Seeland aus zu starten) nach Afrika überlegt; das Losfahren erfolgt dennoch ohne jede Planung, ja sogar ohne eigentlichen Entschluss als Spontanhandlung. Ein Kühlwagen, der Gemüse und Obst in jenen Supermarkt bringt, in dessen Lager das Ich arbeitet, um seine KHK zu füllen, bietet sich aus der Situation heraus an und schon ist das Ich auf dem Weg nach Süden.
Die Erzählhaltung legt nahe, dass vom Ende dieser Reise her erzählt wird – in Kenntnis des Endes dieser Reise also. Daher wohl auch der pragmatische, vielleicht sogar einer therapeutischen Zwangssituation entspringende Ton. Mit Blick auf die Fahrt nach Süden, mit Blick auf das tragische Ende hin, bekommt das Erzählen dann auch gerade hier neue Komponenten: Anne, die Freundin des jugendlichen Ichs, erhält die Bedeutung einer Gefährtin, die nicht fragt, die wie einst die Fischer am See Genezareth die Familie verlässt (von der wie auch dort nie die Rede ist) und jenem folgt, auf dessen eigenwilliger Mission mit Unverständnis reagiert wird. Und: "Wenn es Gott nicht gibt, dann muss doch einer tun, was er getan hätte."
Eine märchenhafte Fahrt in den Frühling scheint die Reise zu sein. Dass die zahlreichen glücklichen Küsse die Lippen des Ich bluten lassen, scheint die Worte der Bekenntnis nur zu unterstreichen. Dieses Blut jedoch nimmt unheilvoll vorweg, dass die Kompromisslosigkeit des Handelns der beiden Jugendlichen auch zu erzählerischer Kompromisslosigkeit – und damit zum tragischen Ende – führen wird. Der erzählerisch wie das Aperçu einer letzten Ausfahrt wirkende Tod Annes verleiht dem Roman dann auch jenen mythologischen Charakter, in dem eine am Realismus jugendlichen Alltags gemessene Wahrscheinlichkeit aufgehoben wird.
Bestätig wird diese Lesart durch die Figur der weißen Dame, die von den beiden Jugendlichen mitgenommen und der im Erzählen das Moment des Transzendenten zugewiesen wird.
Der Tag, an dem die beiden mit ihrem Kühlwagen von Gibraltar aus nach Afrika übersetzen, wäre der Tag der Konfirmation im Leben des Ichs gewesen – jener Tag also, an dem das stellvertretend von den Eltern in der Taufe abgelegte Bekenntnis eigenverantwortlich bekräftigt wird. Dieses Bekenntnis wird hier auf die Ebene moralischen Handelns transformiert; dieses Handeln wiederum steht in Opposition zum Gesetz. Als Gleichnis gelesen erinnert der Text also an das Handeln jenes Jesus von Nazareth, das auch in Opposition zu den (religiösen) Gesetzen der damaligen Zeit stand.
Mit dieser Lesart widersetzt sich der Text auch jener realistischen Lektüre, von der der Verlag sich in den Para- und Metatexten "Wichtigkeit" erhofft. Denn gelesen werden kann "33 Cent um ein Leben zu retten" weniger als Aktionsanlass, als vielmehr als Provokation jenes Diskurses, der auf der Handlungsebene selbst negiert wird – dem Diskurs über Entwicklungszusammenhänge und der daraus resultierenden Frage: Welche Handlungsmöglichkeiten hat ein einzelner / eine einzelne? Und wie kann dieser / diese einzelne dazu beitragen, dass politische Verantwortung übernommen wird? Denn mit einer Grundhaltung rechnet das erzählende Ich wortwörtlich ab: Ich alleine kann nichts ausrichten.
Heidi Lexe
Zum ersten Mal war es im Rahmen der Osterfeierlichkeiten dieses Jahres Papst Franziskus I., der den Ostersegen gespendet hat. Bereits in den ersten Tagen und Wochen seines Pontifikats hat sich gezeigt, dass dieses Pontifikat von einem Mandat für die Armen bestimmt sein wird und Franziskus den Überzeugungen seines Namenspatrons Franz von Assisi folgen möchte.
Laut Statistik Austria mussten im Jahr 2011 in Österreich zwischen 957.000 und 1.146.000 Personen als armutsgefährdet gelten. Wie ist ein Verständnis dafür, was diese Armut umfasst, vermittelbar? Welche Bedeutung hat ein solches Verständnis von Arbeit für ein Miteinander der Kulturen und für ein Grundverständnis von Entwicklungspolitik?
Auch im Sinne der Hoffnungen, die mit Blick auf ein Miteinander der Kulturen und die Bekämpfung der Armut in den neuen Papst gesetzt werden, hat die STUBE den Ostermonat April (ok., der Ostersonntag war der 31. März …) zum Anlass genommen, eine >>> Buchliste zum Thema zusammenzustellen und die Kinder- und Jugendliteratur als eine Möglichkeit auszuweisen, über den Tellerrand des eigenen Wohlstandes zu blicken.
Kröte des Monats März 2013
Aus dem Amerikan. v. Hanne Gabriele Reck. Gerstenberg 2013.
32 S., € 14,40.
E. E. Cummings / Linda Wolfsgruber: Der Elefant und der Schmetterling.
Wasserabweisend, knitterfrei und mit normalen Scheren einfach zu teilen – mit solchen Begriffen werden in Online-Shops für Bastelbedarf die Vorzüge des vielseitigen Materials Moosgummi (dessen Bezeichnung ganz korrekt übrigens Ethylenvinylacetat- Schaumstoff lautet), gepriesen. Wer hätte gedacht, dass Moosgummi auch für Gestaltung von Bilderbüchern so gut geeignet ist? Linda Wolfsgruber, die in jedem ihrer Werke Eigenheiten und Grenzen konkreter Materialien, vom genähten Stoffstück bis zum mit Teebeuteln selbstgefärbten Papier, auslotet, zeigt in "Der Elefant und der Schmetterling" eindrucksvoll, wie vielschichtig und facettenreich Illustrationen wirken können, die mit ausgeschnittenem und eingefärbtem Moosgummi gestempelt sind.
Als Geschichte wählte sie einen wenig bekannten Text von E.E. Cummings, auf den sie vor einiger Zeit zufällig stieß: Der vor allem als Vertreter einer modernen volkstümlichen Lyrik bekannte US-amerikanische Autor erzählte seiner kleinen Tochter Märchen, darunter eben auch die ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem Elefant und einem Schmetterling. Ein Sujet, das die Illustratorin durchaus vor Herausforderungen stellte: Wie bebildert man, dass ein Schmetterling an die Tür klopft? Und wie soll ein Kuss von zwei so unterschiedlichen Wesen stimmig ins Bild gesetzt werden? Die Flexibilität des Moosgummis erlaubte es, mit verschiedenen Varianten der Elefantenfigur zu experimentieren, der zoologische Recherchen vorausgingen. Von diesem Entwicklungsprozess berichtete Linda Wolfsgruber in einem Werkstattgespräch im Rahmen der Fernkurstagung "Wörter würfeln", für das sie auch ihre Arbeit an dem damals noch unveröffentlichten Buch exklusiv fotografisch dokumentierte. Die beiden anthropomorphisierten Wesen sind nicht nur äußerlich, sondern auch von ihrem Charakter her ganz unterschiedlich: "Es war einmal ein Elefant, der den ganzen Tag nichts tat. Er lebte allein in einem kleinen Haus weit weg am äußersten Ende einer gewundenen Straße.", so heißt es zu Beginn der Geschichte. Der Schmetterling hingegen ist aktiv, seine optische Zartheit korrespondiert mit dem zerbrechlichen Glashaus, in dem Linda Wolfsgruber ihn wohnen lässt. Die deutlichen Kontraste des Textes werden durch den Einsatz von kräftigen Farben und die Positionierungen der Figuren im Raum herausgestrichen, es ist bemerkenswert, wie ausgewogen in ihrer Präsenz beide Figuren in Szene gesetzt werden.
Der überraschende Besuch des Schmetterlings und die ebenso überraschende Liebe, die die beiden füreinander empfinden, bedeutet für den Elefanten auch das Hinaustreten in eine farbenfrohe und vielgestaltige Welt, den Wechsel von einem völlig ereignislosen Alltag zu einem Leben, in dem es jeden Tag etwas gibt, auf das man sich freuen kann: "Und von da an kam nun der Elefant jeden Tag die gewundene Straße herab, die so herrlich duftete (vorbei an den sieben Bäumen und dem Vogel, der im Strauch sang), um seinen kleinen Freund, den Schmetterling, zu besuchen. Und sie hatten sich immer lieb."
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Februar 2013
Beltz & Gelberg 2012.
160 S., € 17,50.
Sonja Eismann / Chris Köver / Daniela Burger: Mach´s selbst. Do it yourself für Mädchen.
Der Februar markiert buchtechnisch gesehen ja irgendwie eine Zäsur: Soll man die Highlights aus dem Herbstprogramm nachlesen? Oder schon die ersten Fahnen und Leseexemplare der neuen Produktion sichten? Man kann den Februar aber auch einfach nutzen, um mal was ganz anders zu machen als zu lesen: Eine Band gründen. Strickgraffiti machen. Ohrringe aus Computerteilen bauen. Einen Platten flicken. Rassismus bekämpfen.
Unterstützung für all diese und weitere rund 50 Projekte bietet ein ganz besonderes Buch aus dem letzten Jahr: "Mach´s selbst" vereint vielfältige Anregungen zum DIY (Do it yourself) und trifft dabei den Zeitgeist. Egal, ob man es dem "neuem Biedermeier" oder "Cocooning" zuordnen mag – Selbermachen boomt und ist wohl als Reaktion auf die Unüberschaubarkeit unserer Welt verstehbar. "Gerade in weltumspannenden Krisenzeiten besinnt man sich schließlich aufs Vertraute: […] Es geht schlicht darum, Übersichtlichkeit wiederherzustellen […] die Dinge, mit denen wir uns umgeben, zu entmystifizieren. Mit anderen Worten: sie selber zu machen", so Philosoph Matthew Crawford.
Der vorliegende Ratgeber schwimmt auf dieser Welle mit, beschränkt sich aber nicht nur auf die persönlich heilsame Wirkung von Basteln, Nähen, Gärtnern oder Backen, sondern versteht – ganz im Gegenteil – DIY auch gesellschaftspolitisch. Selbermachen erfordert und erzeugt Engagement. Engagement wiederum braucht es für notwendige Veränderungen in dieser Welt.
Sonja Eisman, Chris Köver und Daniela Burger – Herausgeber*innen des coolen Missy Magazine, einer feministischen Zeitschrift über Popkultur – verstehen es, mit diesem Buch zu motivieren: Wie kann man mit eigener Musik politisch aktiv werden und auch gleich selbst die PR dafür checken? Wie erstellt man einen Blog und warum sollte man dabei auf diskrimierende Sprache verzichten? Was testet der Bechdel-Test und was ist eigentlich ein Poetry-Slam? Alle Anleitungen sind verschiedenen Kapitel (etwa "Reagieren + Analysieren", "Crafting" oder "Musik machen") zugeordnet und auf jeweils 3 bis 4 Seiten übersichtlich und ansprechend dargestellt. Das Besondere der Texte ist der durchgehend kluge Ton, der Jugendliche anspricht, ohne Dinge zu simplifizieren. Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit sind als Themen dabei immer spürbar, aber nie anbiedernd. Biografien von und Interviews mit den Beiträgerinnen aus den verschiedensten Szenen ergänzen das gelungene Konzept, das ein Lehrstück über moderne Freizeitgestaltung einerseits, über moderne Frauenbewegung andererseits darstellt. Dementsprechend ist auch der Titelzusatz "für Mädchen" lesbar: "In diesem Buch verwenden wir, anders als das sonst üblich ist, durchgehend die weibliche Anrede. Das heißt aber natürlich nicht, dass sich Jungs und Männer nicht ebenso davon angesprochen fühlen sollen – do it yourself ist für alle."
Für alle, die nicht auf jemand anderen warten und die Stereoanlage gleich selber verkabeln wollen. "Selbermachen macht unabhängig!" Packen wir´s an.
Christina Ulm
Kröte des Monats Jänner 2013
Aus dem Italien. v. Annette Kopetzki.
Fischer 2012.
119 S., € 13,40.
Gabriella Ambrosio: Der Himmel über Jerusalem
Am 29. November 2012 wurde Palästina von der UNO zum beobachtenden Nichtmitgliedsstaat aufgewertet und damit ein markanter Entwicklungsschritt im Nah-Ost-Konflikt getätigt. Rund zehn Jahre zuvor war diese Entscheidung jedoch noch in weiter Ferne; eine Attentatswelle erschütterte die Region. Am 29. März 2002 ereignete sich in Jerusalem jener Anschlag, der von allen wohl am meisten Aufsehen erregte: Die 18-jährige Ayat al-Akhras sprengte sich in einem Supermarkt in die Luft und tötete auch die 17-jährige israelische Rachel Levy und den Sicherheitsmann Haim Smadar. Ayat al-Akhras junges Alter und ihr Geschlecht waren Anlass für die große Medienpräsenz dieses Ereignisses, in der vor allem der stilisierte Antagonismus der beiden gleichaltrigen Mädchen zum Thema wurde.
Diese Begebenheit ist schon einmal für Jugendliche literarisiert worden: Der empfehlenswerte Roman "Aftershock" von Tamar Verete-Zehavi (cbt 2010) erzählt von einer fiktiven Freundin jener getöteten Rachel Levy und gemäß dem Titel von der Zeit nach diesem traumatisierenden Erlebnis.
"Der Himmel über Jerusalem" – Frei nach der wahren Geschichte von Ayat al-Akhras und Rachel Levy erzählt – berichtet nun umgekehrt von den Stunden, die dem Attentat voraus gingen. Doch die Zugangsweise ist nicht nur hinsichtlich der zeitlichen Einordnung different: Anstatt die weiblichen Hauptfiguren analog zu ihrer medialen Darstellung ikonografisch zu überhöhen, nimmt der Roman eine Vielzahl an anderen beteiligen und betroffenen Personen dieses Selbstmordattentat wie in einem Mosaik in den Blick und fasst sie in einem vorangestellten Personenregister zusammen: Die Palästinenserin Dima, die unter Repressionen aufwächst und zur Täterin wird. Die Jüdin Myriam, die schon ein Trauma zu verarbeiten hat und nun zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Aber auch der Wachmann Abraham, das dritte Todesopfer, die al-Arabiya Journalistin Leila, Sprengstoffexperte Ghassan oder Dimas Verlobter. Mit einer Vielzahl kleiner Kapitel, die auf jeweils eine Figur dieses Dramas fokussieren und Gegenwärtiges, Rückblenden und Erinnerungen geschickt verschachteln, umkreist Gabriella Ambrosio das tragische Schlüsselereignis. Stück für Stück werden so individuelle Motivationen und Hintergründe offenbart. Die Sprache ist dabei charakterisiert von einem ganz eigenen, höchst herausfordernden Protokollcharakter, der zwischen auktorialen Einschüben und einer sehr unmittelbaren Wiedergabe der Gedanken jener Figuren changiert. Die Struktur des Textes folgt den einzelnen Stunden vor der Tat und führt die zentralen Protagonist*innen einander immer näher, bis sie schließlich um 14:00 im Einkaufszentrum aufeinander treffen und sich der Himmel über Jerusalem
verdunkelt ...
So explodierten sie gemeinsam.
Die beklemmende Entelechie des herausragenden Textes gipfelt schließlich in der traurigen Ironie, dass das einzig verbindende Element dieser unterschiedlichen Menschen in ihren unterschiedlichen sozialen Umgebungen das Selbstmordattentat ist. Egal, ob sie dabei getötet wurden oder – entsprechend dem letzten Kapitel – zu denen gehören, die zurückbleiben.
Christina Ulm
Als eines von 65 Büchern finden Sie "Der Himmel über Jerusalem" auch in der neuen Themenbroschüre der STUBE:
"gegenwärtig? Kinder- und Jugendliteratur zu zeitgeschichtlichen Ereignissen nach 1945"
Die Broschüre stellt verschiedenste Bücher vor, die von Konflikten, Krisenherden, aber auch von Hoffnungsträger*innen unserer Zeit erzählen. Jedes Buch ist umfangreich annotiert und mit Alterszuordnung versehen, ausgewählte Illustrationen bieten visuelle Kostproben.
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Zum Jahreseinstieg kann ab sofort auch die STUBE-Card für 2013 bestellt werden:
Auch heuer wieder erwarten Sie als STUBE-Card-BesitzerIn bewährte Angebote: Das Zeitschriften-Abo, die Broschüre "Seitenweise Kinderliteratur", ein nicht im freien Verkauf erhältliches Skriptum, die Themenbroschüre zur Weltliteratur in der KJL, Ermäßigungen für alle Veröffentlichungen der STUBE und Einladungen zu den STUBE-Veranstaltungen.
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