des Monats STUBE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


mixtvision 2022.
320 S.

Nils Mohl: Henny&Ponger

Der Wimpernschlag einer Libelle: Es handelt sich um eine biologische Unmöglichkeit und dennoch um eine legendäre Metapher. Sie stammt vom mittlerweile verstorbenen Sportreporter Sigi Bergmann, der damit (bei einem olympischen Rodel-Bewerb) den unfassbar geringen Zeitabstand von 13-tausendstel Sekunden in Worte fassen wollte.
Der Wimpernschlag einer Libelle. Manchmal umfasst Sportkommentatoren-Lyrik das gesamte Leben. Oder genauer: Jene Zeiteinheit, in der das Leben plötzlich stattfindet. Jene Zeiteinheit, nach der das Leben vielleicht ein anderes ist:

Alles dunkel.
Ponger erfasste ein befreiender Schwindel.
Für Momente. 
Für Zeit und Ewigkeit.
Für die Dauer des Wimpernschlags dazwischen. (90)

Keine Sorge. Hier hat niemand einen Sprengkörper in die Menge geworfen. Nicht dieses Mal. Der veritable Wumms resultiert aus einem Kuss. Er führt zu einem Aussetzer. Zu einem Flimmerbild der Erzählung: Silbrig knallt etwas hart gegen Pongers Schädelknochen. (90) Nun, das alles könnte die Folge des Kusses gewesen sein. Es könnte aber auch mit dem Illusionscharakter jener Ereignisse zusammenhängen, die mit einem Ruck in Gang kommen – und auch wieder mit einem enden. Hat das alles nur während eines Wimpernschlags stattgefunden?

Man sollte bei Nils Mohl ja daran gewöhnt sein, dass nichts ist, wie es scheint. Da war Mauser, der Kumpel des Ich-Erzählers in >>> „Es war einmal Indianerland“, der sich als innere Stimme entpuppt hat. Da war ein Countdown in >>>„Zeit für Astronauten“ , der sich dann doch nicht auf einen Raketenstart bezogen hat. Da war Miguel, der sich als Miguela durch eine Nacht mogeln musste. Nils Mohl ist ein Meister subtiler Formen des >>> Unzuverlässigen Erzählens – und er spielt auch in diesem Roman damit.

Wer ist diese Henny, die wie aus dem Nichts auftaucht und Ponger um Hilfe bei einer geheimnisvollen Reparatur bittet? Ponger überprüft ständig, ob sie auch wirklich nur fünf Zehen an jedem Fuß hat, und nicht sechs. Er ist kreuzunglücklich, von ihr in behördenindizierte Schwierigkeiten hineingezogen zu werden; und fühlt sich dennoch seltsam angezogen von ihrer silbrigen Art (um im Indizienjargon des Romans zu bleiben).
Sie wird alles kaputt machen.“  (57) Dessen ist Ponger sich sicher. Doch was ist mit „alles“ gemeint? Selbst ein Kuss mit einem solchen Wumms krempelt nicht gleich die gesamte Lebenswirklichkeit um. Oder doch?

Vielleicht sollte man es machen, wie Nils Mohl es diesmal auch macht: Er erzählt chronologisch. Er setzt ein mit einer ganz alltäglichen Situation – mit einem Jugendlichen, der in einer Hamburger S-Bahn sitzt und liest. Nun: Jene, die Fiktion erst einmal nach Wahrscheinlichkeitsmarkern checken, werden fragend einwenden: Ein Jugendlicher, noch dazu ein Lehrling in einem Mechaniker-Overall, der in einem Jugendbuch (vermeintlich von John Green) liest? Lasst es, Leute. Er ist nicht irgendein Jugendlicher. Das ist Ponger. (6)
Der Blick Pongers fällt aber weniger ins Buch, als auf die Seltsamkeit einer spiegelbildlichen Szene: Ihm schräg gegenüber sitzt ein Mädchen, das im selben Buch liest und sich in ihrer Ausstrahlungskraft auch aus jenen Figuren speist, die Jackie, Isa, Alaska oder Margo heißen. Sie, nah und fremd. Das ist Henny. (3) Ihre Augen leuchten. Sie trägt einen knallgelben Regenmantel und ist barfuß. Sie spricht seltsam. Sie zieht die Notbremse und flieht. Nicht ohne Ponger vorher noch ein Wegwerfhandy zugesteckt zu haben: „Pass auf, mein lieber Ponger, ich rufe dich an. Besser wir machen es hier kurz. Zu viele Leute.“ (8)
Wer ist dieses Mädchen, die dermaßen außerirdisch anmutet? Und woher weiß sie, wer Ponger ist? Nächster Handlungsort: Hamburg Sternschanze.
Nils Mohl schraubt den Kuriositätscharakter der Ereignisse Stück für Stück höher. Denn auch wenn Ponger das Handy in den Müll wirft – Henny entkommt er nicht. Sie stöbert ihn bei Pörl auf, bei jener alten Dame, bei der Ponger wohnt. Sie überredet ihn, ihre „Steuereinheit“ zu reparieren und mit ihr auf die Insel Amrum zu fahren, wo ein dazu passendes Transportmittel versteckt sei. Lässt Roswell grüßen?

Die spiegelbildliche Situation, die Nils Mohl an den Beginn des Romans setzt, hat selbstverständlich nicht nur den Charakter eines eröffnenden Effekts. Sie repräsentiert das Erzählte gleichermaßen wie dessen Form:
Das Buch hat 202 Kapitel. Sie sind kurz, werden durchnummeriert und verleihen dem Erzählten einen ganz eigenen Rhythmus.
Kapitel 101 setzt den erkenntnisreichen Dreh- und Angelpunkt, der sich auch in der grafischen Seitengestaltung abzeichnet. Und wenn man das Buch zuschlägt, erkennt man an dessen Schnitt, dass die beiden Exkurse mit dem Titel „Ponger. Die Geschichte seiner Herkunft“ und „Henny. Die Geschichte ihrer Reise“ (ebenfalls auf gräuliche Seiten gesetzt) symmetrisch zur diese Mitte angeordnet sind.
Aus gutem Grund, denn nach und nach beginnt Pongers Biografie sich in der Geschichte von Henny zu spiegeln. Nach und nach werden die Teile jenes unfertigen (52) Puzzles, das Pongers Leben zeigt, aufgedeckt und ineinandergefügt. Motiv: die Planeten. (52)

Damit macht Nils Mohl auch den Roman selbst zu einem solchen Erzähl-Puzzle. Man folgt lustvoll den kleinen Irritationen, wenn scheinbar aus der Form gefallene Spielteile auftauchen – und sich letztlich zu einem sternenhimmelgleichen Gesamtbild fügen.
Da ist zum Beispiel Pörl mit ihrem umgebauten Buick und ihrem Wohnwagen, in dem sie Ponger einst halb verhungert gefunden hat.
Da ist Susi mit ihrer Garage, in der nicht Autos, sondern Flipperautomaten repariert werden. Hier hat Ponger Zugehörigkeit gefunden mit seiner Gabe, elektronischen Fund- und Versatzstücken wieder zu funktionierenden Geräte zusammenzusetzen. Mittlerweile erkennt er die Marke von Flipperautomaten sogar an ihrem Schweigen. Und vom Umgang mit ihnen weiß er, dass ganz plötzlich eine zweite Kugel im Spiel sein kann.

Für eine Liebesgeschichte sollte er also die besten Voraussetzungen mitbringen – entspricht doch die emotionale Koordinationsnotwendigkeit in der Begegnung mit einer wie Henny durchaus der Wendigkeit, die man beim Flippern braucht. Denn auch mit Blick auf die Liebesgeschichte lässt Nils Mohl die Ereignisse zwischen Hennys Lust an der Inszenierung und Pongers ganz eigener „Realität“ changieren. Henny folgt einem geheimnisvollen „Index“, der die Regeln für ein Rollenspiel vorgibt: Sie bietet Ponger an, jene Freundin zu verkörpern, die eigentlich nur in seiner Fantasie existiert. Für Ponger aber wird damit das eigene Gedankenspiel zur Realität. Er empfindet, lebt, liebt. Die geschliffenen Dialoge, die aus dem Urknall dieses Aufeinandertreffens resultieren, gehören zum Unterhaltsamsten, was zuletzt in der Jugendliteratur zu lesen war.

Illusion und Tatsachen bilden also durchgehend einen bunten Reigen, der szenenweise Wahrheiten als Fiktion und Fiktion als (inner-)fiktionale Wahrheit erscheinen lässt. Nils Mohl lädt die Ereignisse dabei stets aufs Neue durch Sprach-Assoziationen und Doppeldeutigkeiten auf. „Wie genau sind Sie eigentlich da gelandet, wo Sie gelandet sind, liebe Pörl?“ (110)
Eine unschuldige Frage, die Henny an Pörl stellt, um ein wenig darüber zu erfahren, wie Pörl, die passionierte Bibliothekarin, so lebt.
Eine unschuldige Frage?

Die Leihbücherei kommt wieder ins Spiel: Jener Ort, zu dem es Pörl hinzieht. Jener Ort, an dem Ponger seine Illusionen speist. Jener Ort, an dem Henny ihren Index füttert. Es ist der Ort der Fiktion, wenn man so will. Jener Ort, der Tatsachen schafft, ist hingegen Susis Garage: Es ist der Zufluchts- und Ankerort jener, die aus dem Nest gefallen sind; die an der Peripherie leben. Sicher nicht ohne Grund schiebt sich beim Lesen das Bild von Edda über jenes von Susi. Die Garage ist das Zuhause, das Ponger kennt. Und der Ort, von dem aus  Henny nach Hause zurück findet. Sie ist jener Ort, in dem man sich gerne einnisten möchte. Am Sofa. Den Geruch von Werkzeug in der Nase. Den Klang der Flipperautomaten im Hintergrund. Das Buch in der Hand. Die unendlichen Weiten vor Augen.

Heidi Lexe

Das Weltall nimmt in diesem Buch keine unbedeutende Rolle ein; genauso wie in all jenen Titeln, die in der Themenliste >>> Weltall zu finden sind: Bücher aller Genres rund um  All, Weltraum oder Universum.

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