Tulipan 2018. € 15,00.

Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri und Uli Krappen:
Der Mann, der eine Blume sein wollte

Anfang Oktober beginnt das neue Unisemester und damit eine neue Ringvorlesung zur Kinder- und Jugendliteratur, die sich dieses Mal dem graphischen Erzählen widmet. Mit Blick und großer Vorfreude darauf stellt die September-Kröte ein Beispiel der kinderliterarischen Symbiose von graphischem und schriftlichem Erzählen schlechthin ins Zentrum. Das Bilderbuch „Der Mann, der eine Blume sein wollte“ weist aber noch eine zusätzliche Besonderheit auf, da es von zwei Illustrator*innen gemeinsam per demokratische[m] Übermalen mit Stoppuhr (wie Uli Krappen in dem lesenswerten Nachwort schildert) bebildert wurde.

Das bewährte Dreiergespann aus Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri und Uli Krappen konnte bereits mit seinem 2016 erschienenen Bilderbuch „Nusret und die Kuh“, das für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war, Erfolge feiern. In ihrem neuen Bilderbuch setzen Mehrdad Zaeri und Uli Krappen auf eine Bildästhetik, die in der Figurenzeichnung noch an ihr erstes gemeinsames Buch erinnert, sonst aber bedeutsam variiert wird. Viel reduzierter setzen sie den erzählten Raum in Szene. Umso prägnanter platzieren sie einzelne Versatzstücke, die als dreidimensionale Objekte die Zweidimensionalität des grauen Rahmens sprengen. Ihre Illustrationen entwerfen sie als Installationen, in denen mit gezielter Beleuchtung lange Schattenwürfe erzeugt werden und symbolträchtige Farbgebungen zum Tragen kommen, die auf die Kontrastwirkung zwischen leuchtendem Bunt und mattem Grau setzen.

Der Protagonist des Bilderbuchs ist ein namenloser Bahnschrankenwärter, eigentlich ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch, der gewissenhaft seiner Arbeit, seiner Freizeit, seinem Alltag nachgeht. Zunehmend verspürt der Mann jedoch eine Sehnsucht nach mehr und den Wunsch, aus seinem eintönigen, geregelten Alltag auszubrechen:

Es reichte ihm nicht mehr, einfach nur ein Mann zu sein. / Ein Mann, der zur Arbeit ging, in der Freizeit Fußball spielte und zu Hause fernsah. Er wollte auf einer Wiese stehen und eine helle Farbe darin sein. Die gelben Blätter einer Butterblume sollten um seinen Kopf wachsen, er würde in der Erde stehen und hin und her schaukeln, wohin der Wind ihn führte.

Dass diese ersehnte individuelle Freiheit wesentlich durch den beengten Raum innerhalb konventionalisierter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen beschränkt ist, wird auch in den Bildern deutlich. Deren grauer, farbloser Hintergrund wird durch einen schwarzen Rahmen begrenzt, dessen bestimmter, fester, ja fast schon gewaltsamer Strich die Absolutheit der gesellschaftlichen Einschränkungen verdeutlicht. Dass der übergroße Bahnschranken an dem Haus des Mannes festgemacht ist, zeigt nur noch deutlicher, wie schwer seine Arbeit wiegt und wie sehr sie sein Leben bestimmt.

Plötzlich aber beginnen Pflanzen aus dem Körper des Mannes zu wachsen, der mit jeder Doppelseite vermehrt mit floralen Elementen verschmilzt, wenn er sich als die unterschiedlichsten Blumensorten – auf der Wiese, auf Sträuchern oder auf Lindenbäumen – imaginiert und sich die Insekten und Menschen vorstellt, die er mit seinem süßen Geruch und seiner blühenden Schönheit anlockt:

Er würde so süß duften, dass die Leute, die vorbeigingen, sich umschauten und nach ihm suchten und dann ihre Nase an ihn hielten und schnupperten.

Zunächst ganz vorsichtig und reduziert, bald immer kraftvoller und wilder, schreiben sich strahlende Farbakzente in den monochromen Hintergrund ein. Als Farbsprengsel auf der Wäscheleine, als Schaum in der Badewanne. Aus dem Nachwort geht hervor, dass das Illustrator*innenduo die Geschehnisse bewusst nicht auf einer üppigen grünen Blumenwiese verortet hat, sondern stattdessen den grauen Wohnraum des Mannes langsam transformiert. Verspielt durchbrechen die Blumenträume des Mannes mit ihrem beschwingten Farbenreichtum und ihrer widerständigen Dynamik seinen monotonen Alltagsraum, der sich zunehmend zu einem Freiraum weitet und schließlich ganz in seiner utopischen Vorstellung aufgeht.

Auf der nächsten Doppelseite bekommt das Thema plötzlich eine ganz andere Dimension:

Als der Mann lange genug eine Blume war, wollte er eine Frau sein und Kleider tragen in allen Farben, an die er nur denken konnte. Am liebsten hätte er das als Mann getan, aber die anderen Leute würden ihn auslachen und sein Chef würde es ihm nicht erlauben.

Als morphende Figur sprengt der sich ständig (ver)wandelnde Mann nicht nur die Grenzen des Alltags und der Imagination, sondern auch geschlechtliche Körpergrenzen, wodurch traditionelle Geschlechterrollen infrage gestellt werden. In einem ikonischen Moment des Crossdressings – auf dem Bild betrachtet sich der Mann in einem roten Frauenkleid vor dem Spiegel – manifestiert sich seine ersehnte Freiheit:

[…] als Frau könnte er Blumen im Haar tragen und lange Röcke anziehen, die weit schwangen, wenn er sich drehte. Er würde Kleider mit langen fließenden Ärmeln, aus mit Blumen bedruckten Stoffen oder in Gelb, Rot oder Blau tragen. Und er würde sich Blumen in die Haare binden und herumduften. […] Dann wollte er wieder ein Mann sein.

Bild und Text durchbrechen dabei die Opposition der binären Geschlechterordnung von Mann/Frau. Anstatt einer einmaligen Metamorphose vollzieht der Protagonist wiederholte Transformationen, wodurch ein fließender Übergang zwischen Mann–Frau entsteht.

Im Fasching kann er sich schließlich als Blumenwiese verkleiden und mit langem Haar und wehendem Rock aus Gras unter Gleichgesinnte treten. Der Karneval als umgestülpte Welt (Michail Bachtin) bietet dabei den nötigen Freiraum, den die reguläre Ordnung nicht zulässt. Anders als ein traditioneller Karneval bleibt das Bilderbuch aber kein vorübergehendes Spiel, sondern überträgt das Transformative des Karnevals auf den Alltag des Mannes. Das Spiel wird zur (innerfiktionalen) Realität, wenn der Garten und das Haus des Mannes durch die über Nacht immer riesenhafter wachsenden Blumen für immer verwandelt werden. Das Ende lässt die subversive Kraft des Bilderbuchs bemerkenswerterweise auch innerhalb einer heterosexuellen Beziehung bestehen, wenn der Mann mit jener Frau beisammen sein darf, die wir davor im Fasching als Tulpe kennengelernt haben. Heterosexualität muss also nicht immer ein strenges, beengendes Regelkorsett bedeuten, sondern darf auch entgegen den Normen agieren.

Claudia Sackl

>>> hier geht es zurück zu den Kröten 2018.