Aus dem Franz. v. Maren Illinger.
minedition 2017. € 15,40.

Emmanuel Bourdier und ZÄU: Haselnusstage

Ein Credo des STUBE-Teams lautet: Wir lieben Paratexte. Zum Beispiel kryptische Widmungen vor der eigentlichen Erzählung oder interessante Zusatzinfos über die Gestaltung bei Comics/Graphic Novels oder seitenlange Dankesworte im Anhang. Vorsichtig und Zurückhaltung ist allerdings bei der Lektüre von Klappentexten geboten. Wer möchte schon gespoilert werden oder die Lektüre von modischen Schlagwörtern beeinflussen lassen? Auch bei „Haselnusstage“ empfiehlt es sich nicht sofort auf die Rückseite des Bilderbuchs zu blicken, sondern ganz konventionell vorne zu beginnen und im Impressum zu lesen, dass das Buch vom Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis unterstützt wurde oder sich zu wundern, dass sich Emmanuel Bourdier bei Zikaden bedankt, „denen meine Schwester und ich immer gelauscht haben.“

Einmal umblättern und man liest „14 Uhr / Heute riecht Papa nach Pfefferminze. Mist. Ich mag es lieber, wenn er nach Haselnuss riecht.“ (Somit wäre auch das erste Paratextmysterium bereits mit Satz Nummer eins gelüftet). Gegenüber sieht man das strahlende Gesicht des Vaters, das auf einer ganzen Seite groß in Szene gesetzt wird: ein breites Kinn, buschige Augenbrauen, schwarze und kurzgeschnittene Haare, schneeweiße Zähne, die das heitere Lächeln besonders hervorheben. Diese Nahaufnahme des väterlichen Kopfes stellt keine Ausnahme dar, sondern kann wohl als das ästhetische Spezifikum des Illustrators ZÄU bezeichnet werden. Fast in allen Illustrationen führt er die Betrachter*innen mitten in die Szenerie, indem er angeschnittene Gesichter oder zumindest Figuren im Brustbild zeigt, wodurch ein intensiver Mix aus Nähe und Enge entsteht. Der Fokus liegt somit auf der Mimik des jungen Ich-Erzählers und die seiner Eltern und dadurch auch auf deren emotionaler Einstellung.

Das intime Familienporträt wird sowohl auf der Bildebene als auch auf der Textebene erzeugt. Die sprachliche Entsprechung der Nahaufnahmen sind die nuancierten Beobachtungen und Überlegungen des Jungen: „Ich weiß, dass Papa mein Papa ist, wenn ich nur seine Ohren anschaue. Wir sind die beiden Einzigen auf der Welt, die mit den Ohren nach oben und unten und rechts und links wackeln können. Mit der Zunge die Nasenspitze berühren oder die Nasenlöcher aufblähen, das können doch viele auf dem Planet Erde. Das mit den Ohren können nur wir.“ Zu sehen ist das halbe Gesicht des Jungen und noch größer des Vaters Hinterkopf mit weiß herausleuchtendem Ohr. Text und Bild können in dieser konzentrierten Kombination einen äußerst persönlichen Einblick in die Vater-Sohn-Beziehung geben. Die intensivierte Nähe erzeugt über die Doppelseiten hinweg auch ein Gefühl der Enge, das für das Thema des Bilderbuches noch von zentraler Bedeutung sein soll. Auch über die Beschreibung des Geruchs „Hinter der Minze riecht es nach Zigaretten. Papa hat wieder angefangen zu rauchen. Schon das dritte Mal in sechs Monaten.“, gelingt es Bourdier, dass man dieser Beziehung oft näherkommt, als man es vielleicht möchte. Das gilt vor allem für jene Szene, in der der Vater zornig wird: „Er hat mich am Arm gepackt und mir richtig ein bisschen wehgetan.“ Grund war die „Fünf im Diktat“.

Dargestellt werden die fröhlichen und die traurigen Momente in groben Kreidestrichen, die eine schwarz-braun-weiß-graue Farbpalette nicht verlassen. Zur Universalität der Erzählung über das Thema Familie unter besonderen Umständen trägt zudem die Aussparung spezifischer Merkmale bei, die Rückschlüsse auf eine bestimmte räumliche Verortung ermöglichen würden. Ob das Bilderbuch in Frankreich, Mexiko oder Russland spielt, ist irrelevant. Es spielt in einem städtischen Milieu, der Rest bleibt Interpretation. Stichwort Interpretation! Folgt man den Erzählungen des Jungen, der die Hochs und die Tiefs der väterlichen Beziehung schildert, der in Rück- und Vorausblicken davon erzählt, wie glücklich und betrübt er sein kann, lässt bis knapp vor Ende zwar durchklingen, dass das Verhältnis zu seinem Vater von einer sehr hohen Intensität bestimmt ist, doch dass sich all das Erzählte und Reflektierte innerhalb einer einzigen Stunde in dem Besucher*innenzimmer eines Gefängnisses abspielt, bleibt bis zur letzten Doppelseite offen. Der Klappentext verrät dies, wenn es heißt: „Eine Stunde. Eine Stunde mit ihm. […] Eine Stunde, um all die anderen zu vergessen.“ Das Moment der Überraschung, das dieses Bilderbuch auszeichnet und das das Moment der Überraschung auf geschickte Weise inszeniert, darf allerdings nicht nur als eine Art Pointe verstanden werden. Als plötzlich Gitterstäbe und ein Wärter auftauchen beginnt man zu überlegen, ob es bereits illustratorische Indizien für die Gefängnisszenerie gab oder ob der Junge bereits im Text darauf verwiesen hat. Nicht wirklich lautet die Antwort. Kahle Wände, schmuckloses Geschirr tauchen im Bild zwar auf, geben jedoch keine eindeutigen Hinweise. Das Bilderbuch-bestimmende Moment und somit der eindrücklichste Anhaltspunkt ist die Intensität, mit der die Beziehung beschrieben wird, aber auch die sprachlich äußert klug gelöste Passage, in der es um die in der Schule gestellte Frage nach dem Beruf des Vaters geht und die abermals auf die fein abgestimmte Gefühlslage des Jungen verweist: „Am Anfang, als meine Freunde mich fragten, welchen Beruf Papa hat, wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte. […] „Aber jetzt weiß ich, was ich antworte: Wolkenbildhauer, Maulwurfsbändiger, Schimpfworterfinder.“ Dank einer poetischen wie fantasievollen Taktik gelingt es dem Jungen auszuweichen und dennoch die persönliche wie liebevolle Einstellung zu seinem Vater zu formulieren, die er an einer anderen Stelle auch auf wehmütige Weise auszudrücken weiß: „Aber leider ist er auch ein … Leermacher, Geisterkönig, Nebelfabrikant.“

Peter Rinnerthaler

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