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Carlos Spottorno & Guillermo Abril: Der Riss

„Die ukrainische Regierung und die prorussischen Rebellen im Osten des Landes haben am Mittwoch [27.12.2017] hunderte Gefangene ausgetauscht.“ (Wiener Zeitung, 28.12.2017)

Was wie ein überraschendes Weihnachtswunder wirkte, war jedoch eine langfristig geplante Aktion zwischen den beiden verfeindeten Seiten. Dass in einem EU-Nachbarland (seit nun über drei Jahren) Krieg herrscht und dass es überhaupt Kriegs-gefangene gibt, scheint allerdings niemanden mehr zu wundern. Für wesentlich mehr Verwunderung und Medienpräsenz sorgt ein sich anbahnender, militärischer Konflikt zwischen Nordkorea und den USA, wo sich am 20. Jänner 2018 der Amtsantritt Donald Trumps als US-Präsident zum ersten Mal jährt. Viel Kritik musste dieser jeher für sein Vorhaben einstecken, eine Mauer an der mexikanischen Grenze errichten zu wollen. Ein Gros der Schelte kam aus der Europäischen Union, was für Guillermo Abril, dem spanischen Reporter, der für den Text der Graphic Novel „Der Riss“ verantwortlich war, nicht nachvollziehbar ist:

„Mehr als Verlogenheit sehe ich in dieser Kritik reines Unwissen. Wissen wir EuropäerInnen in den verschiedenen Ländern überhaupt, dass es Mauern mit dem gleichen Ziel in Melilla, in Griechenland und in Bulgarien bereits gibt?“

Guillermo Abril und der Dokumentarfotograf Carlos Spottorno haben die Mauern und Zäune Europas selbst gesehen, sie haben sich an die Grenzen der Union begeben, zwei Jahre lang darüber für eine Zeitung berichtet und am Ende eine Graphic Novel über die fatale Lage in Nordafrika, Griechenland, Italien, Ungarn, dem Baltikum, Polen und Finnland publiziert. Via Polen gelangten sie auch in die Ukraine, wo in diesem kurz nach Weihnachten wieder angesprochenen Krieg bereits 9.000 Tote und 20.000 Verletzte verzeichnet wurden und wo laut Guillermo Abril von der Öffentlichkeit unbemerkt 500 US-amerikanische und kanadische Soldaten stationiert sind, um „die ukrainischen Truppen zu trainieren“.

Das Cover dieser Graphic Novel, zeigt allerdings keine Kriegsszenerie, sondern ein junges Mädchen auf hoher See, mit Schwimmweste, gerettet von Mundschutz-tragenden Männern. Das Thema Flucht steht im Raum. Die beiden Journalisten fokussieren allerdings nicht ausschließlich auf die Migrations-ströme der letzten Jahre, sondern legen eine Reportage über die Europäische Union und deren Brüchigkeit vor, in der die katastrophale Lage im Mittelmeer als eine von mehreren Zerreißproben für die EU dargestellt wird.

„Der Riss“ dient als Metapher, um die Geschehnisse an den Grenzen Europas verstehen zu können. Zu komplex und zu unmenschlich sind die Umstände, die die Reporter in der Exklave Melilla, auf Lampedusa oder in Ungarn erleben und nach der nun abgeschlossenen Berichterstattung in Comicform veröffentlichen. Mit nachbearbeiteten Fotografien und sachlichen Infotexten entsteht ein ästhetisches wie journalistisches Kunstwerk zur Vermittlung europäischer Zeitgeschichte, die die beiden Journalisten kaum fassen konnten:

„[…] wir erlebten die Tragödie auf dem Mittelmeer, als wir bei einer Rettung von Geflüchteten auf hoher See dabei waren, und wir hatten Zugang zum größten Geflüchtetenlager Europas, auf Sizilien. In diesen Momenten war es unvorstellbar, dass das alles nur ein Jahr später noch in den Schatten gestellt werden würde durch die größte Fluchtwelle seit dem Zweiten Weltkrieg. Zeit und Distanz zu diesen ersten Reisen Anfang 2014 öffneten uns die Augen. Wir begannen, die Spannungen zwischen den euro-päischen Ländern, die von den Grenzen ausgingen, schärfer zu beobachten: Schengen wurde ausgesetzt, der Populismus und der Nationalismus wuchsen, der Brexit, Trump … Europa und die Welt veränderten sich, je stärker die Risse aufbrachen, von denen wir im Buch sprechen.“, fasst Guillermo Abril in einem im Anhang abgedruckten Interview zusammen.

Um diese schwerwiegenden sowie komplexen Ereignisse und Zusammenhänge in eine nachvollziehbare Erzählung bringen zu können, wählen Spottorno und Abril eine Form, die man durchaus als zeitgenössischen Trend am Comicmarkt bezeichnen darf: die dokumentarische Graphic Novel, die einen hohen Authentizitätsanspruch verfolgt. Selten wird dieser allerdings so klar formuliert und zu verbürgen versucht, wie im Impressum dieser Graphic Novel:

„Alle Geschichten in diesem Buch sind real und entsprechen den Erlebnissen der Autoren auf ihren Reisen, die für die hier zusammengestellten Reportagen dienten. Die Reihenfolge wurde für ein besseres Verständnis der Geschichte mitunter verändert. Über die farbliche Bearbeitung aller Fotos hinaus wurden einige Aufnahmen gedreht, Horizonte begradigt und optische Ver-
zerrungen korrigiert, um die visuelle Erzählung zu erleichtern.


Was hier äußerst sachlich klingt, beschreibt jedoch sehr gut, wie gearbeitet wurde. Durch die Modifikation der Bilder entstand eine außergewöhnliche Ästhetik, der der Spagat zwischen dokumentarischem Journalismus und anspruchsvoller Kunst gelingt. Daneben können dank der Comictechnik und der sequenzierten Bildabfolge Fluchtnarrative sehr eindrucksvoll nacherzählt werden, aber auch emotionale Momente erzeugt werden, wenn etwa auf Lampedusa angeschwemmte Alltagsgegenstände der Flüchtenden wortlos nebeneinander-gestellt werden. Dass dahinter ein durchdachtes Bild- und Textprogramm steht, bemerkt man schnell und wird von Carlos Spottorno auch reflektiert:

„Als ich darüber nachgedacht habe, wie man die Reportage so erzählen kann, dass Text und Foto gleichberechtigt sind und sich gegenseitig bereichern, habe ich mich mit der Graphic Novel beschäftigt und erkannt, dass das die perfekte Sprache für uns ist.“

Carlos Spottorno und Guillermo Abril schaffen somit auch „die perfekte Sprache“, um neu aufkeimenden antieuropäischen Haltungen entgegentreten zu können, um Fakten und Bilder in ordentlich recherchierter und technisch hochwertiger Form in der Hand zu haben und um Jugendlichen wie Erwachsenen verständlich zu machen, wie wichtig ein funktionierendes Europa für kommende Krisen ist.

Peter Rinnerthaler

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