Fernkurstagung: Von Kopf bis Fuß
Körper-Bilder und Bild-Körper in der Kinder- und Jugendliteratur. Tagung im Rahmen des Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE
Von 24. bis 26. Mai 2024 war es wieder so weit: Das Highlight jedes STUBE Fernkurs, die heiß ersehnte Tagung lud aktuelle und ehemalige Fernkursteilnehmer*innen sowie Freund*innen der STUBE nach Wien ins Kardinal-König-Haus. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Körper in der Kinder- und Jugendliteratur nebst zwangloser Begegnung mit Forscherinnen und Künstler*innen bot die Möglichkeit für Austausch und das Knüpfen neuer Kontakte.
Zur Einstimmung gab es wie immer ein – jetzt schon legendäres – STUBE-Opening-Video, das klug und humorvoll, temporeich und lässig klar machte, dass hier in bester STUBE-Manier höchste Expertise so richtig Spaß machen wird.
Den Beginn machte Freitagnachmittag Silvana Cimenti mit ihrem Vortrag „Ich bin [irgendwie] immer ich“ zu Strategien der körperlichen Selbstermächtigung zwischen brütenden Hähnen und papiernen Klavieren. Dabei erörterte sie zunächst Stufen der Entwicklung vom Kleinkind, das gerade erst lernt, sich selbst im Spiegel zu erkennen, bis hin zu Übergangsphasen wie der Pubertät, die eine Nonstabilität darstellen. In der Folge präsentierte sie verschiedene Selbstermächtigungsstrategien und wie sie in der Literatur Niederschlag finden. So erhält der kleine Hahn Heinich in „Heinrich will brüten“ Unterstützung von außen, um seine eigene anstatt einer übernommenen Identität auszuprägen. „Die dumme Augustine“ wiederum erhält ihre Chance erst aus einer Notsituation heraus, die zwar zu einer gerechteren Aufgabenteilung führt, dabei aber auch ihre bisherige Care Arbeit abwertet. „Das kleine Ich bin ich“ sucht zuerst Zuordnung und Zugehörigkeit von außen durch die Akzeptanz der anderen. Erst als es diese nicht bekommt, findet die Selbstermächtigung von innen statt, die auf die anderen zurückwirkt und übernommen wird. Das Infragestellen gängiger Normen, das Verschieben von Grenzen und Einnehmen anderer Perspektiven sind wesentliche Bausteine der Selbstermächtigung.
Nach dem Abendesse, quasi als Digestif, hieß es „Alle gegen Olli“. Im Launigen Diskurs über gelbe, blaue und grüne Körper mit Oliver Hepp und dem STUBE-Team ging ein Format über die Bühne, nach dem sich Fernsehshowmacher*innen wohl alle Finger abschlecken würden. Wieder klug und lustig zugleich gab es abwechselnd Spiele und Einblicke in zum Beispiel die Genese des Froschkönigs vom schottischen „Well at the World‘s End“ über Grimms „Froschprinz“ bis zu Disneyfilmen oder Figuren mit roten Haaren wie die rote Zora, Alice, Familie Weasley oder die feuerrote Friederike. Nebenbei gab es einen Exkurs zu den Simpsons und erlesene Kostproben von Olli Hepps schauspielerprobter Lesestimme.
In den Spielen mussten Charaktere erraten, Zitate zugeordnet und Kennmelodien erkannt werden. Die Buzzer liefen heiß, Olli Hepp bekam tatkräftige Unterstützung aus dem Publikum und die Schokoladekugeln als Punktewährung kamen ebenfalls kräftig in Umlauf.
Der Samstag begann mit Gabriele von Glasenapps Vortrag „Monströse Körper“ über Golem-Darstellungen in der Kinder- und Jugendliteratur. Ausgehend von der Sehnsucht des Menschen nach medialer Selbstproduktion definierte sie das Monströse einerseits aus körperlichen Abweichungen, andererseits aber auch aus Abweichungen auf der Handlungsebene, die noch und eben nur menschen-ähnlich, aber nicht mehr menschlich sind. Die damit einhergehenden ambivalenten Gefühle von Ekel und Angstlust werden in der Kinder- und Jugendliteratur abgeschwächt und präsentieren angstfrei freundliche, liebenswerte und kuschelige Monster. Die Motivgeschichte der Golem-Darstellungen beginnt mit dem braven Diener eines gottgefälligen Rabbis, wandelt sich später zum schwer zu bändigenden Monster und endet schließlich bei der Kippfigur zwischen Helfer und Monster. Die Verknüpfung mit Prag und dem jüdischen Kulturkreis ist dabei relativ flexibel, sie wird einerseits ausgespart, anderseits kommen sowohl pro- als auch antijüdische Haltung zum Ausdruck. In „Lehmriese lebt“ ist dafür kein Platz und es obliegt den Kindern, das Monster zu verstehen, artgerecht zu behandeln und entsprechend Schaden zu vermeiden.
Anschließend gab Lena Brandauer mit ihrem Vortrag „text:körper:text Kinderbücher von Wiener Avantgarde-Autorinnen“ Einblick in den Begriff der Avantgarde, der ursprünglich aus dem Militärischen kam und die Vorhut, Vorkämpfer bezeichnete. Im übertragenen Sinn zielt der Begriff auf radikale Erneuerungen im künstlerischen und sozialen Kontext ab. Im literarischen Zusammenhang geht es vor allem um das Verständnis von Sprache als Material und sinnliche Gestalt. Die bekanntesten Vertreter der österreichischen experimentellen Literatur nach 1945 sind Ernst Jandl, H. C. Artmann und die Wiener Gruppe (Achleitner, Rühm, Wiener), die eine neue, alternative Sprache der „Nazi-Sprache“ entgegensetzen wollten und mit konkreter Poesie und Dialektdichtung den visuellen und lautlichen Charakter von Texten hervorhoben. Mit dem Paradigmenwechsel der 1960er und 1970er Jahre, der ein neues Kindheitsbild hervorbrachte, rückte der kindliche Blick, ein spielerischer Zugang und der Mut zur eigenen Sprache in den Fokus, wovon das legendäre und mittlerweile wieder lieferbare „Sprachbastelbuch“ zeugt.
„Das Schlimmste ist, wenn man ein Bild unter Kontrolle hat“, meinte nach der Mittagspause Jonas Lauströer der unter dem Titel „Chamäleon-Skelett und Elefantenkind“ im Werkstattgespräch mit Heidi Lexe über Illustration zwischen Bilderbuch und Wissenschaft
sprach. Bereits seine Diplomarbeit widmete sich dem Vogelflug, woraus quasi als Nebenprodukt das Bilderbuch „Hans Huckebein“ entstand. Die Nähe von Fakt und Fiktion ließ ihn seither nicht los. Am Beginn seiner Arbeit steht für ihn immer das Verstehen im anatomischen Sinn. Da werden Skelette freigelegt und Knochen ausgekocht, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Illustration weiß dann, was sie tut, darf sich aber auch Spielereien hingeben, die in der Wissenschaft dann sogar erwünscht sind, wenn man zum Beispiel bei einem Fossil nicht wissen kann, wie ein Lebewesen wirklich ausgesehen hat. Um Missverständnisse bei Museumsbesucher*innen zu vermeiden, wird dann die Fiktion durch Übertreibung deutlich gemacht.
Wie nahe einander Fakt und Fiktion, Fantasy und Historie kommen können, erfuhr man am Abend bei „Banshees | Bestien | Blutsauger“, Lesung und Werkstattgespräch mit Nina Blazon, die ihre aktuellen Bücher „Banshee Blues“ und „Ich träumte von einer Bestie“ vorstellte. Heidi Lexe und Elisabeth von Leon stellen die Fragen zu intensiver Recherche inklusive Reisen und Couch-Surfing, genrespezifischen Storyboards, eingeschriebenen Alter-Egos und Soundtracks zu Texten und Handlungsorten. Dass der Wolf, nicht nur im zoologischen Sinne, sondern auch als Cyber-Wolf, eine immer wiederkehrende Figur ist und Märchen in Nina Blazons Werk sehr präsent sind, wird dabei genauso deutlich, wie die fließende Grenze vom Historischen zu Legende, Märchen und Fantasy. Wer sich für die Tagung nicht direkt im Kardinal-König-Haus einquartiert hatte, ging an diesem Abend mit etwas mulmigem Gefühl zu Straßenbahn.
Krönender Abschluss der Tagung war am Sonntag die von Simone Weiss moderierte Sachbuch-Matinée „Menschen | Müll | Metamorphosen (Menschliche) Körper in der Sachliteratur für Kinder und Jugendliche“, bei der es um die Frage ging, wie der Körper ins Sachbuch kommt. Marlene Zöhrer stellte unterschiedliche Körper-Bücher vor, die sich wie „Anatomie“ – weder Fachbuch noch Schulbuch – mit Sachinformation an eine interessierte Leserschaft wenden, wie „Any Body“ mit dem Alphabet als Ordnungsprinzip Begriffe zu Bodypositivity und Aufklärung zusammenstellen oder wie „Was glitzert denn da?“ als Aufklärungsbuch funktionieren (kann). Florenz Gilly steuerte seine Expertise als Literaturwissenschaftler, Mediziner und Podcaster bei, die Einblicke in die Rezeption unter Kindern und Jugendlichen sowie den Aspekt der Doppeladressiertheit gab. Und Melanie Laibl erörterte die Arbeit an erzählenden Sachbüchern, die immer umfangreicheren Vorgaben hinsichtlich des Figurenrepertoires entsprechen müssen, um Diversität abzubilden. Dabei muss für zukünftige Übersetzungen auf kulturelle Unterschiede Rücksicht genommen werden. Zur Literaturliste der Sachbuch-Matinèe geht es >>> hier
Die Verabschiedungen zum Ende der Tagung zogen sich in die Länge. Noch mit dieser Person sprechen, noch diesen Gedanken mitnehmen, damit es nicht doch schon zu Ende ist. Drei Tage von Kopf bis Fuß auf STUBE eingestellt, das ist die Tagungswelt und sonst gar nichts.
Tagungsbericht von Alexandra Holmes.
Fotos von Peter Rinnerthaler © ptr.foto und STUBE.