STUBE-Freitag: neues erzählen
Besonders willkommen geheißen wurden die weit angereisten Gäste aus Bonn und Bremen: Lena Hoffmann (zweite v.l.) und Anna Stemmann (vierte v.l.) mit Claudia Sackl, Heidi Lexe, Kathrin Wexberg und Sonja Loidl.
Rechtzeitig vor Weihnachten und als flankierende Maßnahme gegen fehlgeleitete Kaufrauschzustände rückten die Superheldinnen der STUBE aus, um jeglichem Geschenkenotstand vorzubeugen und Neues zu erzählen. Ganz konkret wurde über ausgewählte Highlights des Bücher- und Medienherbstes 2019 gesprochen:
Claudia Sackl stellte eine breite Palette an Kinderlyrik vor und begann mit Markus Köhles „Ganz schön frech“, in dem mit Formen und Sprache anhand von Alltagsgegenständen experimentiert wird. Neben diese allgemein gehaltene Gedichtsammlung stellte sie themenspezifisch zu Weihnachten Arne Rautenbergs „vier kerzen drei könige zwei augen ein stern“, das mit seinen 24 Gedichten auch als Adventkalender gelesen werden kann. Mit „Lyrik-Comics“ von Stefanie Schweizer und „Poet X“ von Elisabeth Acevedo präsentierte sie schließlich, wie weit das Lyrik Spektrum reicht: von variantenreichen Transformationen von Lyrik mit auditiven Erweiterungen bis hin zum Versroman, der sich als Genre immer größerer Beliebtheit erfreut, nicht notwendigerweise wegen der Rückbesinnung auf alte Versepen, sondern eher als naher Verwandter des Poetry Slam.
Kathrin Wexberg widmete sich den neusten Jugendbüchern, die allesamt weibliche Protagonistinnen aufweisen: In Nina Lacours „Alles ok“ spürt ein Mädchen der geheimnisvollen Brieffreundschaft seines Großvaters nach und findet dabei heraus, was es mit dem Tod der Mutter auf sich hat. Susan Kreller, die im März wieder in der STUBE zu Gast sein wird, legt mit „Elektrische Fische“ ein weiteres feinsinniges Jugendbuch über Fremdheit und die Möglichkeit von Kommunikation vor. Ihre Protagonistin muss mit einer ungewollten Übersiedlung von Irland nach Mecklenburg-Vorpommern zurechtkommen. Entstehungstechnisch interessant ist Holly Goldberg Sloans und Meg Wolitzers Email-Roman „An Nachteule von Sternhai“, in dem zwei Mädchen sich anfreunden müssen, weil ihre Väter sich ineinander verliebt haben. Die beiden Autorinnen sollen tatsächlich per Mail zusammengearbeitet haben. Lucia Zamolo behandelt in „Rot ist doch schön“ ein durch und durch weibliches Thema und bespricht enttabuisiert und ebenso informativ wie humorvoll die Menstruation.
Aus dem Bereich Bilderbuch präsentierte Claudia Sackl Titel, die sich an unterschiedliche Altersgruppen und nicht selten eher an erwachsene Leser*innen wenden. Shaun Tans düster illustriertes Buch „Zikade“ übt in der von ihm bereits bekannten Verschränkung von menschlicher und tierischer Sphäre harsche Kapitalismuskritik. Gro Dahles und Svein Nyhus’ „Bösemann“ thematisiert Gewalt in der Familie auf höchst eindringliche Art tabulos und durchaus kindgerecht, sofern die Lektüre von Erwachsenen begleitet wird. „Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough“ ist hingegen sicherlich nicht nur für Erwachsene ein Lesevergnügen, während „Die Stadt, das Mädchen und ich“ von Einar Turkowski eigentlich kein Bilderbuch, sondern eher eine illustrierte Kurzgeschichte darstellt, deren typisch feine Graustufenbilder von gezielten Farbimpulsen durchsetzt sind. „Vögel der Nacht“ von Mehrdad Zaeri und Katharina Günther-Keßler richtet sich schließlich in seiner frechen, unzensierten Prosa eindeutig an Erwachsene.
Kathrin Wexberg sorgte kurz vor der Kaffeepause mit „Desperado“ (Ole Könnecke), „Mein Papa ist der größte Held der Welt“ (Daan Remmerts de Vries, Marije Tolman) und „Die 3 Räuberinnen“ (Verena Hochleitner) für erleichternde Erheiterung, waren wir doch wieder bei kindlichen Helden angelangt, die ihre Kindergartentanten aus Räuberhand befreien oder der Frage nachgehen, was die Eltern wohl alles vollbringen, während die Kleinen im Kindergarten sind.
Diesmal wurden die Neuvorstellungen ausschließlich von dem deshalb nicht weniger gut gelaunten weiblichen Part des STUBE-Teams bespielt.
In der zweiten Hälfte dieses STUBE-Freitags besprach Heidi Lexe einige Titel aus ihrem Spezialgebiet „Amok, Mord und Totschlag“, und nur wer dabei war, weiß, dass damit ganz und gar nicht Schluss mit lustig war. Der Faktor Zeit war das verbindende Element zwischen Titeln wie „Einmal wirst du...“ von Leonora Leitl, das in der Umkehrung des märchenhaften „Es war einmal...“ in die Zukunft fragt, und „Das Haus, das ein Zuhause war“ von Julie Fogliano und Lane Smith mit seiner rückwärtsgewandten Projektion. Die Frage der nicht nur dystopischen Szenarien in der Jugendliteratur lautet heute demnach nicht mehr „woher komme ich?“, sondern „wohin gehe ich?“. Jason Reynolds‘ „Long Way Down“, das den Kreislauf von Mord und Rache während einer nur wenige Minuten dauernden Liftfahrt abhandelt, lässt das Ende und die Entscheidung des Protagonisten, welchen Weg er einschlagen wird, offen. Wie aus der Zeit gefallen wirkt Hannes Wirlingers düster-traurige Geschichte „Der Vogelschorsch“, in der die Sprachgebung der Zeit entspricht, die erzählt wird, nämlich die1980er Jahre. Ebenfalls in die 1980er Jahre entführt „Als die Großen klein waren. Ein Album verschwundener Dinge“ von Till Penzek und Julia Neuhaus.
In ihrem zweiten Kapitel dieses STUBE-Freitags widmete sich Heidi Lexe einem Bereich des Medienverbundsystems KJL, der aktuell wieder größere Verbreitung findet, nämlich dem Medienwechsel von Film oder Musical zum Roman. Als Beispiele dienten der Film und Roman „Drei Schritte zu dir“, wo in klassischer Sick-Lit-Manier unter Einhaltung lebenswichtiger Regeln dem Leben etwas abgerungen werden muss; weiters Musical und Roman „Dear Evan Hansen“, wo die Protagonisten einander ins Leben zurückführen; und schließlich Cornelia Funkes Roman „Das Labyrinth des Fauns“ nach dem Film von Guillermo del Toro.
Es erübrigt sich der Hinweis, dass auch dieser STUBE-Freitag ebenso informativ wie kurzweilig war, dass der Seminarraum wieder einmal aus allen Nähten platzte und dass die glücklichen Gäste bei Speis und Trank den Heimweg auf unbestimmte Zeit verschoben, zumal die anstehenden Weihnachtseinkäufe in der Buchhandlung ihres Vertrauens zu derart später Stunde nicht mehr möglich waren.
Mit 30 Schulbibliothekarinnen aus Stockerau, 3 internationalen Gästen aus Deutschland und den üblichen Verdächtigen aus Wien und Umgebung war der Saal auch bis auf den letzten Stuhl befüllt.
Ein Bericht von Alexandra Holmes.
Der Besuch des STUBE-Freitags ist im Angebot der STUBE-Card enthalten, die >>>hier bestellt werden kann.
Literaturliste
Markus Köhle: Ganz schön frech. 52 Gedichte für die ganze Familie. Ill. v. Robert Göschl. Luftschacht 2019.
Arne Rautenberg: vier kerzen drei könige zwei augen ein stern. 24 Weihnachtsgedichte. Ill. v. Katrin Stangl. Peter Hammer Verlag 2019.
Stefanie Schweizer (Hg.): Lyrik-Comics. Gedichte Bilder Klänge für Kinder in den besten Jahren. Beltz & Gelberg 2019. / Homepage mit Liedern zum Buch: www.beltz.de/lyriccomics
Elizabeth Acevedo: Poet X. Aus dem Engl. v. Leticia Wahl. Rowohlt 2019.
Nina LaCour: Alles okay. Aus dem Engl. v. Sophie Zeitz. Hanser 2019.
Susan Kreller: Elektrische Fische. Carlsen 2019.
Holly Goldberg Sloan / Meg Wolitzer: An Nachteule von Sternhai. Aus dem Engl. v. Sophie Zeitz. Hanser 2019.
Lucia Zamolo: Rot ist doch schön. Bohem 2019.
Shaun Tan: Zikade. Aus dem Engl. v. Eike Schönfeld. Aladin 2019.
Gro Dahle/Svein Nyhus: Bösemann. Aus dem Norweg. v. Christel Hildebrandt. NordSüd 2019.
Rébecca Dautremer: Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough. Aus dem Franz. v. Eva Moldenhauer. Insel 2019.
Einar Turkowski: Die Stadt, das Mädchen und ich. Jacoby & Stuart 2019.
Mehrdad Zaeri / Katharina Günther-Keßler: Vögel der Nacht. Acht absonderliche Nachtgeschichten. Kunstanstifter 2019.
Marie-Luise Kaschnitz / Karen Minden: Eisbären. Kunstanstifter 2019.
Ole Könnecke: Desperado. Hanser 2019.
Kathrin Schärer: Nur noch eins. Orell Füssli 2019.
Daan Remmerts de Vries / Marije Tolman: Mein Papa ist der größte Held der Welt. Aus dem Niederländ. v. Rolf Erdorf. Gerstenberg 2019.
Verena Hochleitner: Die 3 Räuberinnen. Tyrolia 2019.
Leonora Leitl: Einmal wirst du… Tyrolia 2019.
Julie Fogliano / Lane Smith: Das Haus, das ein Zuhause war. Aus dem Amerikan. von Uwe-Michael Gutzschhahn. FISCHER Sauerländer 2019.
Hannes Wirlinger: Der Vogelschorsch. Bilder von Ulrike Möltgen. Jacoby & Stuart 2019.
Marisha Pessl: Niemalswelt. Aus dem Engl. v. Claudia Feldmann. Carlsen 2019.
Jason Reynolds: Long way down. Aus dem Engl. v. Petra Bös. dtv 2019. / Englische Ausgabe illustriert von Chris Priestley: Faber & Faber 2018.
Till Penzek / Julia Neuhaus: Als die Großen klein waren. Ein Album verschwundener Dinge! Nilpferd 2019.
Kathrin Schärer: nur noch eins. atlantis 2019.
Petra Postert / Jens Rassmus: Wann sind wir endlich da? Tulipan 2019.
Drei Schritte zu dir (OT: Five Feet Apart). Film von Justin Baldoni. Drehbuch von Nikki Daughtry und
Tobias Iaconis. 112 min. USA 2019.
Rachael Lippincott mit Nikki Daughtry und Tobias Iaconis : Drei Schritte zu dir. Aus dem Amerikan. v. Nina Frey. dtv 2019.
Val Emmich mit Steven Levenson, Benj Pasek und Justin Paul: Dear Evan Hansen. Aus dem Amerikan. v. Catrin Frischer. cbj 2019.
Cornelia Funke / Guillermo del Toro: Das Labyrinth des Fauns. Ill. v. Allen Williams. Aus dem Amerikan. v. Tobias Schnettler. Fischer 2019.
Leigh Bardugho: King of Scars. Thron aus Gold und Asche. Aus dem Amerikan. v. Michelle Gyo. Knaur 2019.
Mary E. Pearson: Die Chroniken der Hoffnung: Der Klang der Täuschung. Aus dem Amerikan. v. Ulrike Raimer-Nolte. One 2019.
Nobert Zähringer: Zorro Vela. Thienemann 2019.
Jess Rothenberg: The Kingdom. Das Erwachen der Seele. Aus dem Engl. v. Reiner Pfleiderer. Oetinger 2019.
Siri Pettersen: Die Rabenringe. Odinskind/Fäulnis/Gabe. Aus dem Norweg. v. Dagmar Lendt. Arctis 2018/2019.
Zoran Drvenkar: Licht und Schatten. Beltz & Gelberg 2019.
Frida Nilsson: Sasja und das Reich jenseits des Meeres. Ill. v. Torben Kuhlmann. Aus dem Schwed. v. Friederike Buchinger. Gerstenberg 2019.