Thema: Silent Books
Rotraut Susanne Berner: Sommer-Wimmelbuch
Großformatig und pappkartonstark sind die vier Jahreszeiten-Wimmelbücher der Bilderbuchkünstlerin Rotraut Susanne Berner, die auf jeweils sieben Doppelseiten das bunte Treiben im Frühling, Sommer, Herbst und Winter lustvoll und detailreich zur Schau stellt. Denn die vielen simultan stattfindenden Handlungsstränge kommen gänzlich ohne Text aus und erzählen dennoch unendlich viele Geschichten, die vorwärts, rückwärts und quer – auch durch alle vier Bände, die jeweils auch als Leporello lieferbar sind – gelesen werden können. Die dabei zu entdeckenden Abenteuer des Alltags sind nicht nur reizvoll durch die konsequent in gleicher Abfolge verwendeten Bildhintergründe, sondern auch durch die völlig selbstverständliche Vielfalt an Lebensformen, zwischenmenschlichen Beziehungen und äußeren Erscheinungsbildern der Figuren. So finden sich in den farbenfrohen, kleinteiligen Buntstiftwelten Menschen aller Altersgruppen, unterschiedlichster Größe, Haar- und Hautfarbe, mit und ohne Handicap im munteren Mit- und Nebeneinander. Ein textloser Bilderreigen, der nicht zuletzt durch in aller Kürze eingeführte Protagonist*innen zum immer wieder neuen Schauen und Fabulieren einlädt.
Gerstenberg 200.
16 S.
Kathrin Schärer: Was steckt dahinter?
Bilderbücher beginnen bei den Kleinsten; und so auch (fast) textlose Bilderbücher wie hier im Pappformat. Einzig allein die titelgebende Frage „Was steckt dahinter?“ wird auf der ersten Doppelseite erneut aufgegriffen und fortan geht es Wortlos mit einem stringenten Seitenkonzept weiter: Jedem der freundlichen, in realistischer Fellzeichnung und adäquaten Proportionen gestalteten Tiere auf der rechten Seite folgt nach dem Umblättern ein etwas kleineres Tier. Aber nicht nur das, denn jedes Tier hält in den am Rücken verschränkten Händen tatsächlich auch einen Gegenstand, der in jedem Kinderzimmer zu finden sein wird. Nach dem Eisbären kommt so das Känguru, nach dem Känguru erscheint das Schwein, und so geht es munter dahin, bis die tierischen Protagonist*innen auf der letzten Buchseite gleichsam die vierte Wand durchbrechen und hinter der Maus schließlich das betrachtende Kind selbst entdecken, das nun wieder mit einem kurzen Satz begleitet wird. Durch die leicht verständliche Dramaturgie und den auf das Notwendigste reduzierten Text sind Kleinkinder bei der Lektüre kaum auf Erwachsene angewiesen und können selbstständig blättern und raten.
Atlantis 2020.
26 S.
Aaron Becker: Die magische Reise
Ursprünglich als drei Einzelbände erschienen, liegt nun eine Gesamtausgabe von Aarons Becker zauberhafter Reise vor, die mithilfe von kindlicher Fantasie und Zauberkreiden zu einem Abenteuer wird. In drei aufeinanderfolgenden Abschnitten „Die Reise“, „Die Suche“ und „Die Rückkehr“, die nahtlos ineinander übergehen, erzählt Becker von einem Mädchen, die zunächst alleine mit einer roten Zauberkreide dem grauen Alltag entflieht. Kurz später trifft sie auf einen Jungen mit violetter Kreide und fortan an wird die Welt gemeinsam erkundet. Aber rot und violett ergeben noch keinen Regenbogen und so entspinnt sich im zweiten Teil ein Abenteuer auf der Suche nach den anderen Farben und ein Kampf gegen die grauen Mächte, die schließlich im dritten Teil und unter Anteilnahme des Vaters aufgelöst werden können. Eine Fantasiereise, in eine Welt voller Schatten, in die mithilfe von Magie immer neue Fortbewegungsmöglichkeiten kreiert und in den jeweils doppelseitig ausgebreiteten Aktions- und Anschauungsraum hinübergleitet wird. Ganz dem Motiv der Fantasiereise entsprechend löst der Raum sich auf und weicht der wundersamen Schau-Welt in der Tradition der Abenteuerliteratur, die einlädt zum Verweilen und Entdecken.
Gerstenberg 2022.
o. S.
John Hare: Ausflug zum Mond
Man stelle sich vor, wie es wäre, beim nächsten Schulausflug anstelle des Bezirksmuseums den Mond zu besuchen. Klingt verlockend, vielleicht aber auch ein wenig zu abenteuerlich. Ein Kompromiss ist es, dieses comicartige Bilderbuch mit querformatigen, abfallend gestalteten Mondpanoramen und – mitten drin – ein Schulkind zu betrachten, das wohl früher oder später den Anschluss an die Gruppe verlieren wird. Nach einem kurzen Nickerchen ist das Unglück tatsächlich passiert: Die Schulklasse ist weitergezogen; auf einem dramatisch gestalteten Panel sieht man, wie das Raumschiff ohne dem*der Kleinen abhebt. Die Stimmung am Mond der Zukunft bleibt dank der von dem Kind mitgebrachten Malkreiden allerdings nicht lange trist. Ganz der kindlichen Neugierde verhaftet wird fortan allein das unbekannte Terrain erkunden und wenn die menschlichen Freund*innen schon weg sind, muss Kind sich eben andere suchen. Auf der Figurenebene entwickelt sich sodann eine gewisse extraterrestrische und die öde wirkende Mondlandschaft wird bunt verschönert. Vielfalt entwickeln wird. Und wer dann noch nicht genug des Abenteuers hat, kann sich gemeinsam mit John Hare in die Tiefsee oder auf zur Vulkaninsel machen.
Moritz 2019.
o. S.
Thé Tjong-Khing: Torte für alle
Nach „Die Torte ist weg“ und „Geburtstag mit Torte“ ist es nun soweit. Es gibt nun „Torte für alle!“. Bunt zusammengewürfelte Tiere planen dafür ein sommerliches Picknick. Doch der Frieden hält nicht lange, denn das Picknick endet im Chaos, als sich ein räuberischer Adler die Decke schnappt. Ein aufmerksamer Storch beweist Mut, fliegt ihm nach und zwickt ihn in seine Schwanzfedern, woraufhin der Adler aus Schreck die Picknickdecke mit samt den Gegenständen fallen lässt. Und all diese Gegenstände wollen natürlich wiedergefunden werden: Die fortlaufende Suche entwickelt sich zu einer Verfolgungsjagd, die für die Figuren in eine bis dahin unbekannte Welt mit fremden Bewohner*innen mündet. Zwei andersartige Welten, zu anfangs durch einen Fluss getrennt, werden schlussendlich durch das Auffinden der Gegenstände und nicht zuletzt durch das gemeinsame „Tortenessen“ miteinander verbunden und dabei Themen rund um Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Heldentum sowie Inklusion ausgeschlossener Gruppen gestreift. Wie viele weitere Werke von Thé Tjong-Khing, lebt das Bilderbuch vom aufmerksamen Schauen und Entdecken sowie vom stetigem Vor-und Zurückblättern. Erst dadurch vermag sich die Geschichte in ihrer Vielschichtigkeit zu entfalten, die aufgrund ihrer detailreichen Illustrationen gar keiner Worte bedarf.
Moritz 2023.
o. S.
Thé Tjong-Khing: Hieronymus
Grauenhafte Dämonen, bildliche Allegorien und gewalttätige Szenen – die rätselhaften Bildwelten des vor 500 Jahren verstorbenen Renaissance-Malers Hieronymus Bosch sind nicht unbedingt etwas, das auf den ersten Blick eine Nähe zum Bilderbuch aufweist und das auch noch ohne verortende Worte. Und doch hat es Thé Tjong-Khing gewagt, ein weiteres vollkommen textloses Bilderbuch ganz in einer von Bosch inspirierten Bildwelt spielen zu lassen und dieses nur mit einer Rahmenhandlung rund um einen Buben mit gestreiftem T-Shirt, einem Ball und einem Rucksack lose an die Gegenwart anzubinden: Figuren und zurückhaltende Landschaften sind gleichermaßen sehr Tjong-Khing und sehr Bosch. Hier zeigt sich auf eindrückliche Weise, wie sich das Bilderbuch an ganz unterschiedliche Altersstufen zu richten vermag. Von diesen Bildwelten werden Kinder im Kindergartenalter (so sie nicht zu große Angst vor schaurigen Figuren haben …) genauso fasziniert sein wie Jugendliche, die sich gerade im Kunstunterricht mit Bosch beschäftigen. Einzelszenen können hier entdeckt werden und im stetigen Vor-und Zurückblättern erschließt sich vielfältige Bildwelt, wenn bei jedem Lesen einer anderen Figur oder Requisite gefolgt wird.
Moritz 2016.
48 S.
Issa Watanabe: Flucht
Eine bunt zusammengewürfelte Schar von anthropomorphen Tierwesen im aufrechten Gang und in der Vielfältig auf die Multikulturalität jener verwiesen, die von Flucht betroffen sind, macht sich hier auf schwarzem Hintergrund auf den Weg und ruft dabei aus den Medien bekannte Bilder hervor: ein überfülltes Flüchtlingslager, ein sinkendes Schlauchboot und schließlich die knappe Rettung an den Strand – nur um zu begreifen, dass es nicht alle Bootsinsass*innen geschafft haben. Issa Watanabe verarbeitet in einer Reduziertheit, die ihresgleichen sucht, die Hoffnungslosigkeit jener, die ihre Heimat verlassen müssen. Als besondere Figur inszeniert sie den omnipräsenten Tod, der durch ein Totenkopfmännchen dargestellt wird und die Gruppe stetig begleitet; mal ebenbürtig, mal über sie erhaben. Der reduzierte Hintergrund und die detailliert gestalteten Szenerien erzeugen eine bedrückend und zugleich hoffnungsfrohe Stimmung, vor allem dann, wenn die Farbe (rosa-)rot als Kontrast zu dem dominanten Schwarz das Ende der Flucht markiert. So findet die peruanische Künstlerin einen Weg Unbeschreibliches Wortlos und auf höchst ästhetische Weise aufs Papier zu bannen.
Hanser 2020.
40 S.
Shaun Tan: Ein neues Land
Um das Fremdsein auszudrücken, bedarf es keiner Worte, denn Verständnis kann ohnehin nicht geschaffen werden. So erzählt diese textlose Graphic Novel die Geschichte einer Reise, wie sie Hoffnungssuchende antreten. Eine Reise ins Ungewisse. Bereits beim Aufschlagen blickt man wie in ein altes Familienalbum und zugleich bereits am Vorsatzpapier in eine Unzahl fesselnder Gesichter unterschiedlichster Nationen. Die anmutige Sprache der Bilder, schwarz-weiß und sepia, erzählt in sequenziellen Bildfolgen von der Entfremdung, die hier eine Stilisierung zur Allgemeingültigkeit erfährt. Im Spiel von Licht und Schatten wird Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit, aber auch Hoffnung und Nächstenliebe zum Ausdruck gebracht. Hier werden surreale Welten ausgebreitet, Sujets aus Film und Literatur genial zitiert, von der Totale eines anonymisierten Fabrikgeländes oder Schlachtfeldes bis in den Rachen und das Auge eines verzweifelten Menschen gezoomt. Bedrückend, atemberaubend, faszinierend. Oft sind die Illustrationen nur Bruchteile von Sekunden versetzt. Sie sind geprägt von einem fotographischen Realismus, der als Paradoxon zu den zunehmend surrealen und fantastischen Bildinhalten steht. Das ist Kino im Kopf.
Carlsen 2008.
126 S.
Peter van den Enden: Treiben lassen
„Zwerveling“ lautet der Originaltitel dieses ganz in feinem Schwarz-Weiß-Strich gehaltenen Bilderbuches im Flandrischen, das heißt wörtlich übersetzt „Landstreicherei.“ Doch gibt es auch das Wort „Meerstreicherei?“ Es müsste erst eingeführt werden – und ist wohl auch ein Ausdruck, der diese außergewöhnlich illustrierte, völlig textlose fantastische Erzählung prägnant beschreiben könnte. Im Mittelpunkt steht das „Treiben lassen“, das Reisen durch, unter und über atemberaubende Seelandschaften, die den namenlosen Protagonisten wortlos ins Ungewisse führen. Gereist wird nicht mit Dampfer oder U-Boot, sondern an Bord eines zart gefalteten Papierboots. Die detailreichen, fein ziselierten Schwarz-Weiß- Grau-Illustrationen, die in ihrer Kleinteiligkeit an durch Tiefdruckverfahren hergestellte Kunstwerke erinnern, realisieren eine sehr spezifische Phantastik-Klimax, die man sich immer und immer wieder, und vor allem sehr genau ansehen muss, um auch ja keinen symbolischen Hinweis in dieser fantasievollen „Zeevaarteling“ zu übersehen. Es braucht hier kein Blau, um die Eigenheiten des Meeres ins Bild zu transportieren, dafür sorgen gewaltige Wellen, furchterregende Wasserwesen und nicht zuletzt das unscheinbare Papierboot, dem wir von der ersten bis zur letzten Seite folgen.
Aladin 2020
96 S.
Sven Nordqvist: Spaziergang mit Hund
Ein Spaziergang mit Hund – das ist auf der reinen Handlungsebene der Ausgangspunkt dieses Bilderbuches. So weit, so normal. Doch schon der Zug, den Kind und Hund besteigen, mutet etwas surreal an. Und er bringt sie, von einer großformatigen Doppelseite auf die nächste, durch Panoramaansichten ganz unterschiedlicher Art. Von idyllischen Szenarien á la „Petterson und Findus“ über detailreich gestaltete urbane Settings bis hin zu einem üppig befüllten Kinderzimmer reicht die Bandbreite der variantenreichen Tier-, Märchen- und Miniaturwelten. Die übermütig imaginierten magischen und realistischen, idyllischen und dystopischen, surrealen und phantastischen Szenarien laden auf jeder Seite zur ausgiebigen Betrachtung ein. Intertextuelle und intermediale Anleihen verdichten die Fülle an Eindrücken. Besonders beeindruckend ist hier, wie sich die Stimmung mit dem dramaturgischen Moment des Umblätterns völlig ändert: War man eben noch auf einer idyllischen Wiese, flüchtet man dann vor riesenhaften Flügelwesen in eine finstere Burg. Hier gibt es weder Text noch konkrete Suchhinweise: Vielmehr geht es um ein Sich- Verlieren in wimmelnden, erzählenden Bildwelten und das (gemeinsame) Schauen, Entdecken und Staunen.
Oetinger 2019.
32 S.
Arnoud Wierstra: Babel
Mit dem Begriff der Ekphrasis ist die literarische Beschreibung eines Werkes der Bildenden Kunst gemeint. Das Kunsthistorische Museum in Wien macht sie zum Beispiel zur Grundlage seiner Ganymed-Projekte. Der niederländische Illustrator geht noch einen Schritt weiter und macht Pieter Bruegels Version des monumentalen biblischen Unternehmens zum Handlungsort einer textlosen Sehnsuchtsgeschichte über das Fliegen: In detailliert ausgearbeiteten Doppelseiten lässt sich verfolgen, wie sich eine erfinderisch begabte Figur aus ihrem Werkraum hinaus und auf den Turm zu Babel hinaufwagt. Im Miteinander des (im Gemälde) Sichtbaren und des fiktional Hinzugefügten wird in schwarzweißen Panels gleichermaßen der Raum für ein Flug-Abenteuer wie für zahlreiche kleine Nebengeschichten geschaffen, die sich über die Bildsequenzen hinweg verfolgen lassen. Die Farbgebung der Panels erinnert dabei in sich an das kunsthistorische Vorbild und laden ein, immer wieder noch genauer hinzusehen. Bis schließlich Dädalus’ legitimer Nachfolger abhebt und den faszinierenden Blick auf jenen Teil des Turms eröffnet, den Pieter Bruegel aufgrund seiner Perspektive aussparen muss.
Jacoby&Stuart 2017.
o. S .
Freya Blackwood: Der Junge und der Elefant
Ein Junge mit rotem Rucksack, der alleine auf dem Schulhof sitzt. Und später in ein leeres Zuhause kommt. Aber allein ist er doch nicht: mit zwei Schüsseln geht er in den Wald. Was er dort tun, ist vielleicht erst auf den zweiten Blick ersichtlich. Beim genauen Hinsehen erkennt man in den Stämmen und Baumkronen den titelgebenden Elefanten, der ein treuer Begleiter des Kindes durch die Jahreszeiten hinweg zu sein scheint. Mit allen Mitteln der Bilderbuchkunst mit pluriszenischen Bildern, welchen, die an Comics erinnern oder aussagekräftigen Einzelbildern erzählt die australische Illustratorin von einer ganz besonderen Freundschaft. Einer Freundschaft, die durch die Ausdehnung der Stadt in Gefahr ist. Denn die Bäume sollen gefällt werden. Der Junge kann zwar das Bauvorhaben samt Baumbeseitigung nicht verhindern, des Nächsten geschehen aber bekanntlich Wunder. Und die Baumtiere wissen sich selbst zu helfen, indem sie kurzerhand den Standort wechseln. Ein verträumtes wie poetisches Bilderbuch, dass auf die Kraft der Natur verweist und durch ein namenloses Kind die Stärke von Krafttieren – in welcher Form und Materialität auch immer – auslotet.
Knesebeck 2023.
o. S.
Diese Buchliste wurde gemeinsam mit Elisa Klemmer im Rahmen ihres Praktikums in der STUBE erarbeitet.