Thema: Missbrauch
"Sehr kleine Liebe"
von Ted van Lieshout
Ausführliche Besprechung >>> hier
Weitere Buchempfehlungen:
Pro Familia (Hrsg.) / Dagmar Geisler: Mein Körper gehört mir!
"Ich bin Clara, und ich habe etwas ganz Besonderes: meinen Körper! Er gehört nur mir." Zu ganzseitigen, ansprechenden Illustrationen von Dagmar Geisler formuliert die Ich-Erzählerin kurze, einfache Sätze über sich und ihren Körper: Wann es schön ist, sich nahe zu sein und berührt zu werden, aber auch, dass sie manchmal einfach nicht berührt werden will. Alltägliche Situationen, vom Gekitzelt-Werden unter Gleichaltrigen bis hin zum ungeliebten "Schlabberkuss" werden durchgespielt, um letzten Endes die Wichtigkeit (und das Recht!) des laut und deutlich "Nein!"-Sagens zu betonen. Die letzten beiden Seiten richten sich schließlich ermutigend an das lesende Du: "Dein Körper gehört nur dir!" Das von pro familia herausgegebene Bilderbuch bietet schon für sehr junge Kinder zahlreiche Anknüpfungspunkte, um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Loewe 2011.
36 S.
Edith Schreiber-Wicke / Carola Holland: Immer diese Monster
Für die poppig dargestellte Monstertruppe ist Svenja ein unmögliches Kind – denn sie fürchtet sich scheinbar vor gar nichts. Big Monster, der Greifer, der Schleicher und der Beißer wenden alle ihre Tricks an: Umsonst, der einzige, der sich fürchtet, ist Svenjas Kuschelhase Langohr. Doch dann wartet Svenja vor der Schule auf ihre Mutter und ein fremder Mann bietet ihr an, sie nach Hause zu bringen. Instinktiv spürt sie, dass in dieser Situation Angst angebracht ist – und ein monstermäßig lauter Schrei ein gutes Mittel, um den Fremden zu vertreiben. Ohne explizit das Thema sexuelle Gewalt anzusprechen, ermutigt das Buch Kinder, sich auf ihre Gefühle zu verlassen.
Thienemann 2009.
32 S.
Katrin Meier / Anette Bley: Das kummervolle Kuscheltier. Ein Bilderbuch über sexuellen Missbrauch: Für betroffene Kinder und Vertrauenspersonen
Landolin ist entsetzt, wütend, laut! "Niemand, niemand, niemand, darf so böse zu dir sein!" Britts Kuscheltier weiß alles über Britt, auch ihre traurigsten Geheimnisse. Er weiß, dass Mamas Freund sie mit ins Bett nimmt und ihr weh tut. Und das lässt Landolin nicht mehr länger zu. Er hilft Britt zu erkennen, dass niemand das Recht hat, sie zu verletzen, aus seinem Mund fällt der entscheidende Satz: "Es gibt gute Geheimnisse, und es gibt schlechte Geheimnisse." So findet sie schlussendlich den Mut, sich der Nachbarin anzuvertrauen, die ihr glaubt und für kompetente Hilfe von außen sorgt. Annette Bley thematisiert in ihren Illustrationen durch explizit dargestellte Szenen sexueller Gewalt gegen Britt sehr deutlich, was der Text nur sehr vorsichtig ausspricht. Landolin dient der Geschichte auf Bild- und Textebene als ständiger Begleiter: Ein Freund, der in der entscheidenden Situation gemeinsam mit Britt berät, was zu tun ist. Ein Bilderbuch, das betroffen macht, und doch im lebensfrohen Schlussbild zeigt, dass auch eine so schreckliche Situation veränderbar ist.
Mit einem Vorwort v. Klaus Neumann.
arsEdition 1996.
32 S..
Sarah Weeks: Jamies Glück
Ich will vergessen. Ohne groß nachzudenken, ganz so, wie man eine Tür aufmacht, ohne erst lang zu fragen, wer davor steht, hat Jamie diesen Wunsch geäußert – und ihn damit in einer Geschichte, die sich aus zahlreichen Erinnerungssplittern zusammensetzt, als zentralen Wunsch formuliert. Doch Jamie weiß, wer (oder was) vor der Erinnerungs-Türe lauert – und auch die Leser_innen können die Zeichen zunehmend deuten: Scheu vor körperlicher Berührung, ein unangenehmer Bonbongeschmack, ein Hausmeister, dem Jamie konsequent aus dem Weg geht. Erinnern und Vergessen treffen kathartisch aufeinander, wenn Sarah Weeks ihre liebenswert-schrulligen Figuren in gekonnter sprachlicher Einfachheit auf die Suche nach dem Glück schickt.
Aus dem Engl. v.
Birgitt Kollmann.
dtv 2009.
160 S.
Carolin Philipps: Wofür die Worte fehlen
Wenn Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt angetan wird, geschieht das oft durch Personen, die ein Abhängigkeits- und/oder Vertrauensverhältnis dafür ausnützen. In diesem beklemmend authentischen Jugendroman ist es der eigene Vater, der den knapp fünfzehnjährigen Protagonisten Kristian seit Jahren für seine so genannten "Männerspiele" missbraucht. Eindringlich schildert die Autorin, stets der Wahrnehmung Kristians verpflichtet, wie ihn der Vater mit dem gemeinsamen "Geheimnis" erpresst. Kristian hat keine Worte, um sich jemandem anzuvertrauen, auch als sein Umfeld längst vermutet, was mit ihm los ist, bleibt er zunächst stumm. Doch in der Welt der Mangas, in die er in einem Kurs einmal in der Woche abtaucht, findet er ein eindringliches Bild für das, was mit ihm geschieht: Eine Figur namens "Der schwarze Ritter", vor der es scheinbar kein Entrinnen gibt. Im Manga kann ausgesprochen werden, wofür es in der Realität keine Worte gibt – und auf dieser Ebene trägt eine gleichaltrige Freundin schließlich entscheidend dazu bei, dass Kristian sein Schweigen bricht und sich Hilfe holt.
Ueberreuter 2010.
126 S.
Laurie Halse Anderson: Sprich
Verblüffend sarkastisch berichtet Melinda über ihr erstes Jahr in der High School. Ihre Eintragungen sind knapp, von zahlreichen Absätzen und beißenden Zwischentiteln zerschnitten. Die Sprache spröde, der Ton resignativ, indifferent, kühl: Sie ist eine Verstoßene. Hinter einer ritualisierten Alltagsschablone stehen Einsamkeit, innere Leere – ein unbewältigter Seelenriss. Lange hält Melinda sich darüber bedeckt, verdrängt, was niemand weiß, was sie niemandem sagen kann. Schmerz und Demütigung einer Vergewaltigung machen sie stumm. Nur langsam kann sie die quälende Diskrepanz zwischen Scharfblick und Sprachlosigkeit überwinden, den Kontakt nach außen neu aufbauen. Und am Ende weiß sie, sich zu wehren.
Aus dem Engl. v.
Birgitt Kollmann.
Beltz&Gelberg 2008.
280 S.
E. R. Frank: Ich bin Amerika
Mit seinen 15 Jahren hat Amerika schon viel erlebt, fast zu viel: Vernachlässigung, Missbrauch, Verlust und Gewalt. Nach einem Selbstmordversuch landet er in einer psychiatrischen Klinik, wo er mit Dr. B auf einen Therapeuten trifft, der es versteht, langsam eine Vertrauensbasis aufzubauen. Je deutlicher sich die Beziehung zwischen Therapeut und Patient entwickelt, desto mehr erfahren auch die Leser_innen vom Leben des Jungen. Die sprachlich schnörkellos gestaltete Ich-Erzählung wird so selbst zu einer Art Therapie: die Leser_innen nehmen an jeder Vor- und Rückwärtsentwicklung teil. Allmählich lernt Amerika von seinem imaginären Mount Everest zurückzukommen – einem eiskalten Ort, wo sich die Wolken und der Schnee so sehr ähnlich sehen, dass du nicht weißt, wo die Wolken anfangen und der Schnee endet – und wagt es, das Wort Liebe in seinen Wortschatz aufzunehmen.
Aus dem Engl. v.
Heike Brandt.
Beltz&Gelberg 2007.
256 S.
Beate Teresa Hanika: Rotkäppchen muss weinen
Wie einst Rotkäppchen ist Malvina auf ihrem Fahrrad mit Wein und Essen in einem Korb unterwegs zu ihrem kranken Großvater. Doch anders als im Märchen ist hier die Gefahr nicht der böse Wolf im Wald, sie liegt vielmehr in der engsten Familie selbst. Verschachtelt erzählt zwischen der Gegenwart und Erinnerungen an ihre frühe Kindheit, offenbart sich den Leser_innen nach und nach, dass die Ich-Erzählerin bereits seit Längerem vom Großvater sexuell missbraucht wird. Sie wagt, was in der Realität viele Opfer nicht tun, sie versucht, sich Erwachsenen anzuvertrauen: Zunächst wird ihr nicht geglaubt, zu tief sitzen innerfamiliäre Dynamiken und Loyalitäten. Doch da gibt es zum Glück noch andere Bezugspersonen: Sie ermöglichen ihr, sich aus einer Situation voller Wehrlosigkeit und Ohnmacht zu befreien. Eindringlich erzählt Beate Teresa Hanika in ihrem Debutroman von den vielfältigen emotionalen Verstrickungen, in die ein junges Mädchen durch sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie gestürzt wird. "Ich heiße Malvina, und ich habe gelernt zu schreien." So kann die Protagonistin am Ende des Textes selbstbewusst sprechen und macht damit "Mut, sich Wahrheiten zu stellen und sie auszusprechen", wie Mirjam Pressler es am Cover des Buches formuliert.
Fischer Schatzinsel 2010 und 2012.
224 S.
Fischer Taschenbuch 2012.
256 S.