Erna Sassen: Ohne dich. Ill. v. Martijn van der Linden. Aus dem Niederländ. v. Rolf Erdorf. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2022. 264 S.; 20,95 €.

Rembrandts „Nachtwache“ auf Socken

Songtexte, Serien, Social Media – der aktuellen Jugendliteratur sind zahlreiche und unterschiedliche Elemente aus der (Populär-)kultur eingeschrieben. Gauguins Zinkografien oder Rembrandts Ölgemälde gehörten bislang eher nicht dazu. Bislang: Denn war es in Erna Sassens bemerkenswertem Debut „Das hier ist kein Tagebuch“ (Freies Geistesleben 2015) Pergolesis Musikstück „Stabat Mater“, das den Text strukturierte, ist es hier die Fülle der bildenden Kunst, die dem jugendlichen Ich-Erzähler Joshua Halt in einer krisenhaften Situation gibt. Eine Krise, die wiederum eng mit dem gesellschaftspolitisch gerade höchst aktuellen Thema Frauenrechte zu tun hat: Zivan, seine engste Freundin und Vertraute seit Kindheitstagen, wurde in die Heimat ihrer Eltern, den Irak, geschickt, um dort mit ihrem Cousin verheiratet zu werden. Joshua ist gerade von der Realschule in die Hauptschule gewechselt, wo ein rauher Umgangston herrscht: Sergio, der kickboxende, tätowierte Rädelsführer in der Klasse und sein „Leibwächter“ Dylan nennen ihn spöttisch „Rembrandt“, weil er ständig in sein Skizzenbuch zeichnet. Doch gerade dieses Kritzeln weckt Sergios Interesse, er möchte sich von ihm sein nächstes Tattoo entwerfen lassen. Anhand der unzähligen Darstellungen von Zivan, die Joshua in seinem Zimmer hängen hat, kommen die drei Burschen ins Gespräch, über zentrale Fragen des Lebens, aber letztlich auch der Kunst: Was unterscheidet „nackte Weiber“, wie Sergio es formuliert, von Uglows Aktdarstellungen? Wie kann ein fliegendes Vögelchen das Wesen von Dylans verstorbener kleiner Schwester darstellen? Warum zeichnet Joshua Zivan, zu der der Kontakt letztlich völlig abbricht, immer wieder als Zicklein? Ein Schulausflug ins Rijksmuseum wird zu einem der Höhepunkte des Romans: Auf unnachahmlich komische und dennoch sympathische Weise verhandelt das ungleiche Trio, warum „Die Toilette der Bathseba“ nichts mit einem Klo zu tun hat, in diesem Kontext nicht von Titten, sondern von Brüsten gesprochen wird und ob es reicht, „Die Nachtwache“ schon einmal auf Opas Socken abgebildet gesehen zu haben. Während diese, in der realen Welt existierenden, Kunstwerke nur diskursiv vorkommen, machen Joshuas Entwürfe einen wesentlichen Teil des Buches und der Handlung aus. Sie wurden vom Illustrator Martijn van der Linden, der irritierenderweise in der Bibliographie des Buches nicht erwähnt wird, gestaltet und spiegeln den Prozess, mit dem Verlust von Zivan zu leben, auf eindringliche Weise wieder.

Kathrin Wexberg


 

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