Margarita Kinstner: Theo, Tim, Kurkuma und ich.
Mit Bildern v. Michaela Weiss.
Tyrolia 2025.

Durch die Linse trauern

Vorherige Jahr gab es in Deutschland 2830 Verkehrsunfälle mit Todesfolge. 220 davon starben im April. Einer davon warst du. Direkt und unverblümt setzt das Jugendbuchdebüt von Margarita Kinstner ein und wählt dafür eine spannende Perspektivierung: Ein Ich schreibt einem Du. Das Ich ist die 15-jährige Amelie, die knapp 15 Monate nach dem Tod ihres Stiefvaters immer noch in der Trauer gefangen ist. Das Du ist Stefan, der Stiefvater – Krimiautor, die große Liebe ihrer Mutter und wichtige Bezugsperson für Amelie. Er hatte, auf einer Lesereise unterwegs, einen tödlichen Unfall. Die Ich-Erzählerin Amelie, eine Streberin in einer Streberklasse, hat mit Stefan und ihrer besten Freundin leidenschaftlich gerne gekocht, sitzt jetzt aber in einem metaphorischen dunklen Loch fest, aus dem sie sich nur mit ihrer Kamera herausknipsen kann. Sie unternimmt fotografische Streifzüge durch die Stadt, erkunden Lost Places bis sie bei einem Haus landet, das gar nicht so lost ist.
Vielmehr wohnt dort der Erwachsene Theo, der Menschen meidet, dafür die Kunst liebt, kaum Fragen stellt und für Amelie ein Rückzugsort wird. Entlang dieser besonderen, etwas unkonventionellen Freundschaft, die sich im Lauf des Text intensiviert, entfaltet sich Amelies Trauerprozess, der mit jenem der Mutter in Beziehung gesetzt wird. Amelies Fotografieren einerseits und Theos Malerei, die sich an Vincent Van Gogh abarbeitet, andererseits, schaffen eine Gesprächsbasis für die beiden, anhand derer die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Dimension ausgedröselt und Fragen nach individueller Trauer, gesellschaftlichen Wandel und Beziehung nachgespürt werden.
Auch wenn Theos Haus der Ankerplatz ist, erzählt Kinstner von Beziehungen außerhalb dieses Schutzraumes: Da ist Chris, der vielleicht in Amelie verliebt ist, die Trauerbegleiterin Charlie, die beste Freundin Selina, und natürlich die Mutter, die gefangen in der eigenen Trauer kaum Kapazitäten für die jugendliche Tochter hat. Und da sind der Titelgebende Tim, Neffe von Theo, mit dem sich eine Liebesbeziehung entwickelt und Kurkuma, jenes zugelaufen Kätzchen, das fortan bei Theo wohnt. Inmitten von Staffeleien, Brennweite, Objektive, intermedialen Verweisen wie die Red Hot Chili Peppers oder Kinofilmen und jugendlichen Selbstfindungsprozessen gewährt die Autorin der Trauer in all den Facetten Raum; findet für des Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart einen feinen Ton, der sich in den Illustrationen von Michaela Weiss widerspiegelt und zugleich darauf verweist, dass das Du, wenn auch nicht mehr anwesend, ein Gegenüber sein und bleiben kann.

Alexandra Hofer

 

 

 

 

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