Aladin 2023.
40 S.

Uwe-Michael Gutzschhahn (Hg.) und Jens Rassmus: Dunkel war's, der Mond schien helle

Weitergedichtet von Michael Augustin, Laura Depperschmidt, Uwe-Michael Gutzschhahn, Heinz Janisch, Susan Kreller, Paul Maar, Inge Meyer-Dietrich, Nils Mohl, Jens Rassmus, Michael Roher, Manfred Schlüter und Elisabeth Steinkellner

 

Grau verhangen war der Himmel
und die liebe Sonne schien,
als ein rappenschwarzer Schimmel
kopfstand auf dem Trampolin.

Der Kopfstand meint eine Turn- oder Yogaübung. Mit Hilfe der Hände ist das bei entsprechender Fitness kein Problem. Nimmt man den Kopfstand jedoch beim Wort, zeigt sich bereits das darin versteckte Paradoxon. Denn der Mensch kann nicht auf dem Kopf „stehen“. Es treffen also semantisch zwei Wortteile aufeinander, die einander semiotisch ausschließen.

Für die Lyrik ist das ein fast paradiesischer Zustand aus dem die Lust resultiert, diese Gegensätze bewusst in Szene zu setzen. Schon der Fachbegriff dafür verströmt ein aufregendes Feeling: ein Oxymoron geht zurück auf die beiden griechischen Worte oxys und mōros; scharf[sinnig] und stumpf[sinnig] werden also kombiniert und verweisen auf das Miteinander zweier sich ausschließender Begriffe. Wunderbares Beispiel: der schwarze Schimmel (den man auf keinen Fall googeln sollte, wenn man sich im eigenen Haushalt noch wohlfühlen möchte …) Der rappenschwarze Schimmel ist eine rhythmisierte Steigerungsform die mitten hinein in jenen Volksgutvers führt, der diesem außergewöhnlichen Gedicht-Bilderbuch (gleichzeitig ein Bilderbuchgedicht) zugrunde liegt: Von unbekannter Herkunft repräsentiert „Dunkel war‘s, der Mond schien helle“ sozusagen prototypisch die Unsinnliteratur. Denn Nonsens meint ja nicht, einfach Quatsch zu machen, sondern vielmehr eine eigentlich hochkomplexe Form der Un-Sinns-bildung, die immer einer sinnhaften Folie bedarf und ihren Reiz nur aus der expliziten oder impliziten Umkehr generiert. Ein literarischer Kopfstand also.

Ein Volksgutvers meint nicht nur ein aus der (romantischen) Volkskultur heraus etabliertes Gedicht, sondern auch dessen Verankerung in eben dieser Volkskultur. Es meint dessen breite Bekanntheit und sozusagen allzeitliche Verfügbarkeit. Michael Gutzschhahn aber, Lyriker und mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichneter Übersetzer, erzählt in einem Werkstattgespräch im Rahmen der Frankfurter Buchmesse von seiner Beobachtung, dass Kinder das Gedicht heute immer weniger, vielleicht gar nicht mehr kennen. Mit seiner Neu-Belebung jedoch stellt er gleich einmal die Szene der Kinderlyrik auf den Kopf und regt zum kollektiven Kreativprozess an: Er lädt elf Kolleg*innen ein, die Verse (österreichisch [werse] : bundesdeutsch [ferse]; hugs for PL) weiterzudichten. Und weil auch die Zeit gerade Kopf stand, sprich: Lockdown, hat er die Vorschläge gesammelt, anonymisiert und erneut in die Runde geschickt, sodass der Produktionsprozess auch mit einem gemeinsamen Diskurs über Lyrik verbunden wurde.
Entstanden ist eine Gemeinschaftsprodukt eines lyrischen Dutzends – wobei weder die Leser*innen, noch die Autor*innen voneinander wissen, welcher Vers von wem stammt. Dieserart finden arrivierte Poet*innen und eine noch ganz junge Teilnehmerin einer von Michael Gutzschhahn geleiteten Schreibwerkstatt zusammen und fügen oft atemberaubend schöne Oxymorone zueinander:

Schlaff herunter hing die Fahne
und es blies ein starker Wind
und die blau geschlagne Sahne
schrie vor Schmerzen wie ein Kind

Gutzschhahn selbst hat dann das Arrangement der gereimten Strophen übernommen; jeweils zwei Verse sind es, die pro Bilderbuch-Doppelseite präsentiert und von Jens Rassmus künstlerisch transformiert werden. (Auch er ist übrigens Teil des lyrischen Dutzends. Welche Strophe von ihm ist, legt er naturgemäß nicht offen – das wäre ein Tabubruch, wie er es im nämlichen Werkstattgespräch formuliert.)
Ein Pferd auf den Kopf zu stellen mag nun vielleicht noch keine illustratorische Schwierigkeit darstellen. Dass aber gleich auch als Turnübung UND zeichenhafter Akt zusammengeführt werden, schon eher: Jens Rassmus bedient sich an Pippi Langstrumpf (auch ihr ist der Nonsens als handlungsleitende Ideologie ja nicht unbekannt) und ihrem kleinen Onkel, färbt ihn jedoch rappenschwarz ein und verpasst ihm schimmlige weiße Punkte. Er verdreht und verkehrt also ganz dem Un-Sinn-Gedicht entsprechend die Referenzfigur – und stellt das Pferd gleich auch noch auf den Kopf. Das Trampolin ist dabei nicht nur Turngerät, sondern auch Ziffernblatt; denn auf derselben Seite schlägt auch eine Sanduhr mittags, zeigt sich das Spiel der einander ausschließenden Begriffe von Tag und Nacht. Diese Sanduhr hängt in der Illustration im nur fragmentarisch existierenden Glockenturm und wird flankiert von einer der Uhren Salvador Dalís, die sich in ein Landschaftspanorama einfügt, in dem Tag und Nacht gleichermaßen existieren.

Beispielhaft ist damit das Grundprinzip der doppelseitigen Illustrationen beschrieben: Jens Rassmus entwirft surreal anmutende Landschaften, in denen all jene Details als Einzelszenen Platz finden, die sich assoziativ aus den Versen ergeben. Faszinierend dabei bleibt, dass die Bilder dabei nicht einzelne Aspekte herausgreifen, sondern wirklich jede der in den Un-Sinn-Gedichten formulierte Idee ausinszenieren. Größenverhältnisse und Landschaftsformen, Lautstärken und Lichtverhältnisse, Tagesabläufe und Temperaturen – all das wird in Sujets voller Figuren und Figürchen, voller Eyecatcher und Details ineinandergefügt.

Drinnen unter freiem Himmel
schlendern zwei in schnellem Lauf
schnurgerade Serpentinen
talwärts auf den Gipfel rauf.

Ringsherum herrscht tiefes Schweigen
und mit fürchterlichem Krach
spielten in den Grases Zweigen
zwei Kamele lautlos Schach.

Nun gut, zwei Kamele, die Schach spielen, sind für jede*n Illustrator*in, der*die dynamische Szenen liebt, ein gefundenes Fressen.
Aber wie stellt man Schweigen illustratorisch dar?
Jens Rassmus platziert das Schachbrett in den kakteenartigen Zweigen von Gräsern, die aus einer Holzplatte sprießen. Diese Holzplatte gehört zu einer Käseglocke, die über die gesamte Szenerie gestülpt wird. Außerhalb, an deren Rand hocken sylleptische Figürchen, die seelenruhig (tiefes Schweigen) in einem Buch lesen. Die Kamele hingegen scheinen ordentlich Krach zu machen mit den herumpurzelnden Schachfiguren; davon jedoch dringt durch die Käseglocke nichts nach Draußen.
Die von den Kamelen bestimmte Landschaft (Palmen etc.) verläuft in der gegenüberliegenden Buchseite in einen paravent-artig inszenierten Raum, in dem zwei enthusiasmierte, aber dennoch ganz cool in Alltagsklamotten Schlendernde auf einem Laufband zugange sind. Auf dessen Bildschirm: der Weg, der in Serpentinen schnurgerade aufwärts führt – zu den Gipfeln, die als Gemälde an der Wand talwärts hängen. Kopfüber also. Gemälde-Kopfstand sozusagen, mit materiellen Mitteln intermedial inszeniert. Genial.

Dieserart werden die lustvoll ausdifferenzierten, sprachakrobatischen Verse in ebenso witzige wie kunstvolle Szenerie eingefügt, sodass sich am Ende sogar die die ungewöhnlichsten Wesen tränenreich diesem Schau-Erlebnis und Bilderbuchvergnügen hingeben:

Krokodile unter Tränen
Kämmten lachen sich das Fell
Frösche schüttelten die Mähnen
Dunkel war’s, der Mond schien hell.

Heidi Lexe


Nicht nur "Dunkel war's, der Mond schien helle" mit Bildern von Rotraut Susanne Berner, sondern eine Fülle an anderer Kinderlyrik findet sich >>> hier auf einer eignen Themenliste.

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