Kröte im Sommer 2023
Carlsen 2023.
160 S.
Saša Stanišić: Wolf
„Wieso zeigen Prospekte für Wälder nie die Splitter im Finger oder die Zecken?”
Ein Buch, das sein erstes Kapitel so betitelt, erzählt vermutlich nicht von einer Thoreau´schen Waldidylle. Wenn durch das Inhaltsverzeichnis jede Menge Gelsen (für die deutschen Leser*innen: Mücken) schwirren, die überdies in knalligem Gelb-Schwarz dargestellt sind, lässt das weiter nichts Gutes vermuten. Und so ist es auch: Denn die Hauptfigur muss wider Willen in ein Feriencamp, weil die alleinerziehende Mutter in der ersten Ferienwoche nicht frei bekommt. Auch wenn die grelle Werbebroschüre vollmundig „Abenteuer Wald. Abenteuer Mensch” verspricht, ist er (wobei im Text die Genderidentität lange unbestimmt bleibt, auch der Name wird erst im allerletzten Satz des Buches enthüllt) nicht begeistert. Doch die einzige Alternative wäre die Ferienbetreuung in der Schule:
Mies bezahlte Erzieher denken sich miese Aktivitäten aus für eine Meute mies gelaunter Daheimgebliebener, deren Eltern sich keinen Urlaub erlauben dürfen oder leisten können. Hölle. Im Sommer letztes Jahr musste man sich gleich am ersten Tag zwischen „Basteln mit Pappmaschee” und „Gaudi im Schulgarten” entscheiden, und ich hätte am liebsten alles angezündet: das Pappmaschee, den Schulgarten und die Gaudi, die darin bestand, irgendwas zu graben, irgendwas zu gießen und irgendein armes Insekt mit einer Lupe zu stalken. Ich entkam, versteckte mich vier Stunden lang auf dem Klo und zählte vier Stunden lang die Fliesen, das war spannender.
So scharfzüngig und treffend geht es weiter: Von der Busfahrt, auf der ein Betreuer zu jedem Kaff über die Sprechanlage den entsprechenden Wikipedia-Artikel vorliest über den Basketballkorb ohne Netz (und ohne Ball) bis hin zu den Lebensweisheiten der etwas esoterischen Betreuerin Bella: „Natur abzulehnen heißt, sich selbst abzulehnen.” Und im Ablehnen beziehungsweise tatsächlich Verweigern von nahezu Allem ist der Ich-Erzähler ziemlich gut. Nach seinem Geschimpfe will sich niemand mit ihm einen Schlafraum teilen, so wird er mit Jörg zusammengelegt. Jörg, der im weiteren Verlauf des Buches noch eine wichtige Rolle spielen wird:
Jörg ist halt so einer, kennt jeder. Einer, der anders ist, und bitte, versteh mich nicht falsch! Natürlich sind wir alle anders, bla, bla. [...] Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein.
Mit Neologismen wie diesem (ein weiterer, höchst gelungener, ist unwillkommen) bringt die Erzählstimme auf den Punkt, wie (scheinbar) vorherbestimmt und unveränderbar ein Dasein wie das von Jörg ist. Seine eigene (scheinbar) unerschütterliche Coolness hingegen wird durch den Wolf erschüttert. Der Wolf, der in der Nacht plötzlich auftaucht. Der Wolf, von dem offenbleibt, ob er eine Traumgestalt, eine Phantasie oder eine Metapher ist. Der Wolf, der in den Illustrationen von Regina Kehn ungemein eindrucksvoll dargestellt wird: In einem ausschließlich in schwarz, weiß und einem warmen gelb gehaltenen Linoldruck sieht man den Wolf, der sich überlebensgroß über das Stockbett der beiden Burschen lehnt beziehungsweise sich in es hineindrängt. Höchst spannend ist auch, wie in dieser ersten Darstellung der titelgebenden Figur mit Lichtverhältnissen gearbeitet wird: Während es im Zimmer dunkelschwarz ist, ist der nächtliche Waldhimmel, der ja eigentlich finster sein müsste, in Gelb gehalten. Spannende Eindrücke in den konkreten Entstehungsprozess dieser Linoldrucke gab die Künstlerin auf ihrem Instagram-Profil (Regina Kehn (@reginakehn) | Instagram) Die Begeisterung über die ausgeklügelte und rundum gelungene Buchgestaltung wird nur durch den Umstand etwas getrübt, dass am Klappentext der Name des Autors falsch geschrieben wird (da ist wohl ein Genitiv-s aus einem anderen Pressetext hineingerutscht).
Im Paratext wird offengelegt, dass der „Roman” auf der Erzählung „Ferienlager im Wald” basiert, die erstmals 2016 in „Fallensteller. Erzählungen” im Luchterhand Literaturverlag, also adressiert an Erwachsene, erschienen ist. Das wirft natürlich poetologisch höchst spannende Fragestellungen auf: Wie bearbeitet der Autor eine Erzählung, damit sie zum Roman wird? Muss ein an ein kindliches Lesepublikum gerichteter Text anders gearbeitet sein als einer für Erwachsene? Eine genauere Auseinandersetzung mit diesen Fragen würde den Rahmen sprengen – wurde jedoch beim letzten STUBE-Freitag andiskutiert: Denn Petra Hartlieb hat ihren allgemeinliterarischen Bestseller „Meine wunderbare Buchhandlung” (Dumont 2014) jüngst bei Carlsen in einer Kindervariante herausgegeben: „Zuhause in unserer Buchhandlung”. Die Lesung, bei der sie die einander entsprechenden Kapitel aus beiden Büchern gelesen hat, sowie das Werkstattgespräch können STUBE-Card-Besitzer*innen >>> hier nachschauen, einen Tagebuch-Bericht zum Nachlesen gibt es >>> hier. Wie dem auch sei: Am Ende der turbulenten Zeit im Wald hat sich für alle etwas verändert. Das wiederum auch mit dem Über-Thema der STUBE-Freitage dieses Frühjahrs zu tun hat:
Wir sind Verliebte oder nicht. Häuptlinge oder keine Häuptlinge, wir sind Köche oder Ferienbetreuer oder summen gern. Wir sind Wolf oder kein Wolf. Wir sind Marko oder Jörg oder du. Wir haben komplett Glück oder gar nicht oder manchmal. Alle hinterlassen wir unsere Spur.
Kathrin Wexberg
Das STUBE-Team wünscht einen schönen Sommer!
Das Feriencamp als elternfreier Raum ist kinder- und jugendliterarisch durchaus ergiebig. Als Sommerlektüre hat das STUBE-Team verschiedene Bücher zusammengestellt, die in diesem Setting spielen. Zur Themenliste Feriencamp geht es >>> hier
Der Sommer wird aber auch manchmal im Freibad verbracht, am Meer oder schlichtweg im Rahmen eines Ferialjobs. Auch dazu gibt es eine passende >>> Buchliste.
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Die gesammelten Kröten der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Krötenarchiv