Kröte des Monats Juni 2023
Aus d. Dän. u. Französ. v. Edmund Jacoby.
Jacoby & Stuart 2023.
104 S.
Hans Christian Andersen und Benjamin Lacombe: Die kleine Meerjungfrau
Um kein anderes von Andersens Märchen ist mehr Tinte vergossen worden. – so der französische Verleger Jean-Baptiste Coursaud in seinem Vorwort zu der von Benjamin Lacombe illustrierten Ausgabe von „Die kleine Meerjungfrau“.
Tinte und Twitter-Getöse möchte man dem vielleicht hinzufügen – erhielt die von Hans Christian Andersen ursprünglich als „Luftmädchen“ betitelte Geschichte in den vergangenen Jahren doch nicht zuletzt im Zuge ihrer Adaption als Realfilm wieder bedeutende Medienpräsenz: Vor vier Jahren kündigte Disney an, dass die afroamerikanische Schauspielerin und Sängerin Halle Bailey in der Realverfilmung des lose auf Andersens Kunstmärchen basierenden Disney-Klassikers „The Little Mermaid“ die Hauptrolle übernehmen würde – woraufhin auf Sozialen Medien prompt ein Shitstorm folgte, der unter dem Hashtag #NotMyAriel erschreckend viele Stimmen versammelte, die sich – zumeist mithilfe rassistischer Argumentationsstrategien – gegen die Besetzung der weißen Märchenfigur durch eine Schwarze Schauspielerin auflehnten. Trotz des sich vor allem auf Twitter rasant verbreitenden Blacklashs und einer (nach einiger Zeit wieder entfernten) Change.org-Bürger*innenpetition, die in nur wenigen Tagen fast 11.000 Unterschriften versammelt hatte, blieb Disney seiner Entscheidung treu. Am 25. Mai 2023 kam die unter der Regie von Rob Marshall produzierte Live-Action-Verfilmung „Arielle, die Meerjungfrau“ nun in die internationalen Kinos – und wurde von der Kritik eher gemischt aufgenommen. Das allerdings lag weniger an der Besetzung, sondern vielmehr an der teils wenig überzeugenden CGI-Technik und dem von vielen diagnostizierten Mangel an Innovativität gegenüber ihrer 1989er-Vorlage.
Fehlende Innovativität in Form oder Inhalt kann Benjamin Lacombe in der von ihm gestalteten Ausgabe von „Die kleine Meerjungfrau“ hingegen keinesfalls attestiert werden. Anders als in vielen seiner bisherigen Märchen-Neu-Inszenierungen – darunter auch die 2012 erschienene Geschichte des mythischen Wasserwesens Undine – kommen darin keine (oder kaum) Erotisierungen und Sexualisierungen der dargestellten Frauenfiguren zum Tragen. Stattdessen greift der französische Illustrator auf eine differenzierte, mehrfach symbolisch aufgeladene Ästhetik zurück, die auf einem ausgeklügelten künstlerischen Konzept sowie sorgfältigen Überlegungen zum Text und der Biografie seines Verfassers basiert – was Lacombe in seinen aufschlussreichen Vor- und Nachworten erläutert.
Überhaupt kommt die vorliegende Ausgabe mit einem umfassenden Paratext-Apparat daher. Dazu gehören nicht nur die ausführlichen Vor- und Nachworte des eingangs zitierten Verlegers Jean-Baptiste Coursaud, die wichtige historische Einordnungen und Ergänzungen liefern, sondern auch ausgewählte Briefe zwischen Hans Christian Andersen und Edvard Collin, die im Anhang des Buches (teilweise als Faksimile abgedruckt) wiedergegeben und ausdrucksstark illustratorisch begleitet werden. Bevor auf die Bedeutung dieses Briefverkehrs für Lacombes Neu-Inszenierung des dänischen Kunstmärchens eingegangen wird, wollen wir uns jedoch der illustratorischen Gestaltung des Märchentextes zuwenden:
Für seine Bilder wählte Benjamin Lacombe eine auf den ersten Blick vielleicht ungewöhnliche Farbigkeit. Intensive Blau-, Pink-, Violett- und Rottöne dominieren die abfallenden Illustrationen und lassen die Unterwasserwelt als dunkel leuchtender Kosmos in Erscheinung treten, in dem sich Pflanzen und Tiere in fluoreszierendem Pantone-Pink ranken. An anderer Stelle wiederum erinnert das grelle Pflanzengeflecht an das fein verzweigte Adern-Netzwerk einer Lunge – und stellt so nicht nur Resonanzen zu einem zentralen Motiv des Kunstmärchens her, dessen Protagonistin sich nach einem Leben über dem Meer sehnt, sondern auch zu dessen bereits erwähntem ursprünglichem Titel. Ergänzt werden Lacombes ganz- und doppelseitige Farbillustrationen von gezeichneten Vignetten in zartem Rosa, die in unterschiedlichen Größen auf dem ansonsten leeren, weißen Seitenraum platziert werden.
In seine bildgewaltigen Illustrationen integriert der Künstler darüber hinaus nicht nur pointierte Bezüge aus der Kunstgeschichte, sondern auch Verweise auf andere seiner Bücher: An einer Stelle zeigt er die kleine Meerjungfrau als hybriden Skelettkörper, der mit den Unterwasserpflanzen verschmilzt – und entwirft so eine Ästhetik des Fragilen, die beständig zwischen Schönheit und Hässlichkeit changiert und der das Brüchige und Vergängliche immer schon eingeschrieben sind. Die kleine Meerjungfrau erscheint dabei als androgyne Meerjungfrauenfigur, die – im Gegensatz zu der für Lacombe sonst üblichen Ästhetik des Makellosen und Reinen – nicht etwa mit einem glatten Fischschwanz dargestellt wird, sondern unter Wasser viele Zacken und an Land schließlich „Knabentracht“ trägt. So steht es übrigens auch im Originaltext, der in dem vorliegenden Band in der „vom Verfasser besorgten Ausgabe“ abgedruckt ist. Die kleine Meerjungfrau lehnt Lacombe in seinen Bildern zudem an die Gesichtszüge und Frisur von Hans Christian Andersen selbst an, was Teil seines Versuchs ist, die dominierenden heteronormativen Deutungsmuster des Textes zu überwinden und stattdessen dessen homosoziale und genderfluide Motive zu erkunden.
Dieses queere Moment ist durchaus auch biografisch inspiriert: Hans Christian Andersen unterhielt mehrere enge Männerfreundschaften – unter anderem zu dem bereits erwähnten Edvard Collin –, die er in Briefen besonders leidenschaftlich bekundete, wobei er seine Gefühle immer wieder als seine „weibliche“ bzw. „feminine“ Seite beschrieb. Von unterschiedlichen Stimmen wurde dem Autor daher ein homosexuelles Begehren zugeschrieben; manche gehen sogar soweit, in der kleinen Meerjungfrau eine Verkörperung Hans Christian Andersens und das Märchen als Geschichte über dessen unglückliche Liebe zu Edvard Collin (der schließlich eine Frau heiratete) zu lesen.
Auch wenn wir „Die kleine Meerjungfrau“ nun nicht – wie etwa Heinrich Detering in seinem Buch „Das offene Geheimnis“ (1992) – als autobiografische Schlüsselgeschichte lesen wollen, die sich rein aus der vermeintlichen Homosexualität ihres Verfassers heraus erklären lässt und damit den Interpretationsraum des Märchens stark verengt, entstehen durch Benjamin Lacombes Neu-Inszenierung des Textes äußerst spannende Zwischentöne. Denn völlig unabhängig davon, ob es die vermeintliche Liebesgeschichte zwischen Andersen und Collin tatsächlich gegeben hat und ob „Die kleine Meerjungfrau“ wirklich als Analogie zu dieser unerfüllten, ja unmöglichen Liebe gedacht war: Lacombes Interpretation des Textes, die im Sinne eines Queer Readings nicht (nur) nach dem Begehren des Autors, sondern (auch) nach jenem des Textes fragt, leitet zu einer differenzierten und vielschichtigen Lesart des Kunstmärchens an, die neue Deutungshorizonte eröffnet.
Ein möglicher davon ist, Lacombes Adaption als Parabel für Genderfluidität und/oder Transsexualität zu lesen. In einem besonders gelungenen Kunstgriff stellt der Illustrator etwa den Prozess der Verwandlung der kleinen Meerjungfrau vom Meer- zum Menschenwesen auf dem Falz dar und bannt so das Dazwischen-Sein in der Transition auf die zweigeteilte Buchseite. Die Sehnsucht nach einem Anders-(als-Jetzt-)Sein und der Moment des Transitorischen, der in Lacombes Illustrationen unter anderem auch von der Mischfarbe Violett verkörpert wird, werden dabei – sowohl im Text als auch im Bild – zu konstitutiven Elementen.
Damit reiht sich Lacombes Meerjungfrau in jene Neu-Figurationen dieses mythischen Wasserwesens ein, die – wie zuletzt auch Jessica Love in dem Bilderbuch „Julian ist eine Meerjungfrau“ (>>> als Kröte im März 2020 rezensiert von Peter Rinnerthaler) – jenseits etablierter Normen davon erzählen, wie man im eigenen Körper und Sein glücklich werden kann bzw. hätte werden können.
Claudia Sackl
Dem natürlichen Lebensraum von Meerjungfrauen und anderen Wasserwesen hat die STUBE eine neue >>> Themenliste gewidmet. Eine Auswahl an Büchern, in denen das Meer in seinen unterschiedlichen Facetten eine Rolle spielt, wurde dafür ausführlich annotiert.
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