Aus d. Engl. v. Susanne Hornfeck-
Ill. v. Julie McLaughlin.
dtv 2023.


Sally J. Pia: Komische Vögel. 2.500 Meilen Familie, Chaos und jede Menge Chicken Nuggets

Was haben 2.5000 Meilen, Familie, Chaos und jede Menge Chicken Nuggets gemeinsam? Auf den ersten Blick gar nichts. Auf den zweiten subsummiert der Untertitel, der der deutschsprachigen Übersetzung nachgestellt wird, den Plot rund um den 12-jährigen Ich-Erzähler Charlie auf hervorragende Weise.

2.5000 Meilen …

Das ist die Distanz, die Ich-Erzähler Charlie quer durch die Vereinten Staaten von Amerika zurücklegen muss, um zu dem Krankenhaus zu gelangen, in das sein Vater, der nach einer Kriegsverletzung im Koma liegt, verlegt wurde. Charlie ist 12, liebt Vögel, hat eine Form von Autismus (ohne diese im Text konkret zu benennen) und hat mit Zwangsstörungen und dem Nicht-deuten-können von Mimik zu kämpfen, aus denen kein Hehl gemacht wird:

Meine Hände sind erst wirklich sauber, wenn ich sie zwölf Mal gewaschen habe, ein Mal für jedes Lebensjahr. Ich seife-spüle-eins-seife-spüle-zwei-seife-spüle-drei-seife-spüle-vier-seife-spüle-fünf-seife-spüle-sechs, ich halte meine Handflächen unter richtig heißes Wasser und wiederhole das Ganze.

Damit kreiert die US-Amerikanische Autorin eine Figur, die sich nicht zwangsläufig wohl in ihrer Haut fühlt, stattet den Zwölfjährigen mit einigen (liebenswerten) Ticks aus und schafft damit eine Erzählhaltung, die abseits von Gefühlregungen, ja fast nüchtern berichtet: Aber ehrlich gesagt kenne ich mich nicht so gut aus mit Liebe. Oder mit Hass. Oder mit Gefühlen überhaupt.
Nüchtern wird also von einer Reise erzählt, die jenseits von Charlies Wohlfühlzone stattfindet: Eingepfercht in ein miefiges Wohnmobil, das keineswegs die erforderlichen Hygienestandards, geschweige denn seine Ansprüche an eine Toilette (die mit Sternen bewertet werden) erfüllt, muss er sich mit seiner Familie auf den Weg quer durchs Land von San Diego bis Sanctuary Marsh machen, um bei Dad zu sein.

Auf diesen 2.5000 Meilen werden die Lesenden gemeinsam mit Charlie auch auf die titelgebenden komischen Vögel treffen, denn bevor sein Vater nach Afghanistan ging, hat er mit seinem Sohn eine Irgendwann-Vogelliste von seltenen und/oder ausgestorbenen Vögeln zusammengestellt, die sie eines Tages gemeinsam sehen wollten. Diese strukturiert den Roman.
Begleitet wird der Text und somit die Reise von einem fiktiven Sachbuch des legendären Ornithologen Dr. Tiberius Shaw, der Charlies großes Vorbild ist. Immer wieder werden an den Beginn der einzelnen Kapitel Zitate gestellt, die eben diesem Sachbuch entstammen und als Bindeglied zwischen dem Geschehenen und Charlies nüchternem Inneren sowie seinem fast schon manischen Interesse an Vögel fungieren. Die Irgendwann-Vogelliste ist dabei jene Liste, an der sich Charlie auf dem Weg zu seinem Vater festhält, denn auch wenn er mit Gefühlen nicht gut umgehen kann, so ist er sich doch sicher, dass sein Vater, wenn er alle Irgendwann-Vögel – ob tot oder lebendig – findet, aus dem Koma aufwacht und wieder gesundet.

… Familie …

Menschen und Vögel haben ähnliche
Verhaltensweisen, vor allem was Familienleben und
Überlebensstrategien anbelangt.

Dr. Tiberius Shaw

Gemäß dieses einem Kapitel vorangestellten Zitat des Ornithologen Tiberius Shaw verhandelt Sally J. Pla zwei verschiedene Familiengeschichten und verwebt sie zu einem gemeinsamen Erzählstrang.

Da ist zum einen Charlie: Seine Mutter tot, sein Vater verletzt im Krankenhaus, seine Großmutter bestimmt, aber einfühlsam. Und dann sind da noch die drei Geschwister, die ganz anders ticken: Die jüngeren Zwillinge Joel und Jack mit Unfug im Kopf und die pubertierende Schwester.

Und da ist die 20-jährige, grünhaarige Ludmila, diese verrückt und bunt gekleidete Frau, die eines Tages im ersten Krankenhaus, in dem der Vater liegt, auftaucht; niemand weiß, woher sie kommt und was sie eigentlich will. Dubiose Vermutungen werden an den Tag gestellt, als diese Frau die Kinder auch noch zu ihrem Vater bringen soll. Sie hingegen fühlt sich wohl inmitten der Kinder und mit der Zeit klärt sich, warum sie manchmal so traurig ist: Dieser jungen Frau hat das Leben übel mitgespielt. Sie und Amar waren Kriegswaisen, Charlie. Sie wurden in Bosnien geboren und haben die Belagerung von Sarajevo miterlebt. Wie in Rückblenden wird Charlies Erzählperspektive immer wieder durchbrochen: Ludmila erzählt aus ihrem früheren Leben, vom Krieg, der Angst und der Trauer, als ihre Mutter nicht mehr heimgekehrt ist. Erzählsituationen, die im Auto auf weiten Highways stattfinden und trotz ihrer Schwere maßgeblich dazu beitragen, dass Ludmila allmählich als Familienmitglied angesehen wird. Und wodurch eine Lücke in Ludmilas Leben ein Stück weit gefüllt werden kann. Sie selbst hat nämlich keine Familie mehr, war ihr Bruder Amar doch der Fahrer von Charlies Vater in Afghanistan, der die Explosion im Kriegsgebiet nicht überlebt hat …

Pla führt die beiden Kriege also parallel, zeigt auf, dass in Europa nicht immer Frieden geherrscht hat und verknüpft Kriegsschicksale aus der weiteren mit der jüngeren Vergangenheit und schreibt dieserart ein Plädoyer gegen das Vergessen in ihren Roman ein, das sie mit den Familiengeschichten der Figuren verbindet. Denn ebenso wie der Vater eine Verletzung davon getragen hat, blieben auch Ludmila und ihr Bruder nach den Kriegserfahrungen in ihrem Heimatland Bosnien, wenn auch nicht äußerlich, nicht unversehrt. Tragische Familienschicksale finden mit dem nüchternen Erzählton zusammen, sind aber trotz Charlies Defizite keineswegs herzlos. Vielmehr gelingt es leichte Gefühlsregungen bei Charlie in Gang zu setzen, denn was Familie bedeutet und dass Familie kein statisches Gefüge ist, weiß auch der Ich-Erzähler.

… Chaos …

Chaos entsteht zwangsläufig, wenn drei Kinder, eine Jugendliche und eine den Kindern nahezu Unbekannte auf dem Weg ans andere Ende der USA sind. Und zugleich ist es jener Zustand, den Charlie nicht aushält: Denn wenn sein Leben außerhalb von geordneten Bahnen verläuft, braucht er umso mehr Struktur und Ordnung – und das ist im Camper nur bedingt möglich. Diverse Ticks und Zwangsstörungen schreibt die Autorin konkret in den Text ein. Das wird auch durch die Sprache und Gedanken, die Charlie in den Mund gelegt werden deutlich: Lexikalische Definitionen (Spitzkehren sind Kursen, die so spitz sind, dass sich die Fahrtrichtung ständig um 180 Grad ändern) sowie pedantische Hygienevorstellungen und die Suche nach 5-Stern-Toiletten ordnen das Chaos, das sich in Charlies Kopf immer wieder anzubahnen droht. Dabei dominieren diese Ordnungsmomente, die der Protagonist braucht, den Roman aber keineswegs. Ganz im Gegenteil: Bei all der Schwere, lexikalischen Einordnungen und Vogelinformationen gelingt ein humorvoller Text, der das Chaos – das nicht selten von den hyperaktiven Zwillingen verursacht wird – zu ordnen weiß, ohne
bemüht zu wirken.

… und jede Menge Chicken Nuggets

Denn – darauf ist Verlass – Chicken Nuggets schmecken in jedem Bundesstaat und zu jeder Tages- und Nachtzeit gleich. Genauso wenig wie Charlie schlechte Toilettenbedingungen schätzt, verhält es sich mit Lebensmitteln, die nicht vom Huhn (oder so ähnlich) und frittiert sind.

Hühnersuppe in der Dose (mit schlabberigen orangenen und grünen Stückchen in der Brühe ABGELEHNT!
Orangen (zu intensiver Geschmack) ABGELEHNT!
Bananen (zu viele braune Flecken – urgh) ABGELEHNT!
[…] Müsli (Rosinen – würg!) ABGELEHNT!
Und Popcorn (was einem bloß zwischen den Zähnen kleben bleibt. Wer isst so was?) ABGELEHNT!

Und auch wenn einige Irrungen und Wirrungen auf der Reise geschehen, erhält der Roman durch den etwas eigenwillig erscheinenden Ich-Erzähler einen besonderen Sog. Die nüchterne wie liebenswerte Sicht auf die Dinge, die Entwicklungen, die die unterschiedlichen Figuren durchmachen samt familiären Zugehörigkeitsgefühlen und die Sensibilisierung für Kriegsgeschehen gleichermaßen wie für neurodivergente Menschen überzeugen in diesem Roman,  Eine gelungene Kombination aus ernsten Passagen, humorvollen Roadnovel-Elementen und kurzweiligen Hard- und FunFacts über unterschiedliche gefiederte Geschöpfe, die einen beinahe selbst zum Fernglas greifen lassen, um Vögel zu beobachten.

Alexandra Hofer


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