Kröte des Monats April 2023
Knesebeck 2023.
Andre Ducci, Joan Dritsas Haig, Joan Lennon: Talking History. Reden, die die Welt veränderten
Ich bin hier, um sagen, dass unser Haus in Flammen steht … Am 25. Jänner 2019 spricht Greta Thunberg beim Weltwirtschafts-forum vor Spitzenpolitiker*innen über die Klimakrise und ruft in ihrer Rede „Our House Is on Fire“ die politischen und öko-nomischen Entscheidungsträger*innen zu sofortigem Handeln auf. Heutzutage gibt es wohl kaum jemanden, der*die das schwedische Mädchen mit den langen Zöpfen, das 2018 erstmals zum „Skilstreijk för klimatet“ aufrief, nicht kennt. Ihre Rede in Davos schlug globale Wellen – nicht zuletzt aufgrund ihrer kompromisslosen Direktheit: Erwachsene sagen ständig:
Wir sind es den jungen Leuten schuldig, ihnen Hoffnung zu machen.“ Aber ich will eure Hoffnung nicht. Ich will nicht, dass ihr hoffnungsvoll seid. Ich will, dass ihr in Panik geratet.
Wer aber hat schon einmal von Severn Cullis-Suzuki gehört, die sich bereits in den 1990er-Jahren für den Klima- und Umwelt-schutz einsetzte, mit Freund*innen in Kanada eine Kinder-Klimaorganisation gründete und etwa in ihrer Rede beim internationalen Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro ganz ähnliche Motive wie die Initiatorin der Fridays-for-Future-Bewegung über ein Ende des Alles-wird-schon-wieder-gut-Hoffens bediente – wenn auch mit etwas geringerer Radikalität:
Ich kämpfe für meine Zukunft. Ich spreche für alle kommenden Generationen. […] Wir sind Ihre Kinder. Sie entscheiden, in welcher Welt wir aufwachsen. Eltern sollten ihre Kinder mit Sätzen wie „Alles wird gut., „Das ist nicht das Ende der Welt.“ und „Wir geben unser bestes.“ trösten können. Ich glaube nicht, dass sie uns das noch sagen können.
In ihrem Sachbuch Talking History stellen die sambisch-schottische Dozentin und Kindbuchautorin Joan Haig und die schottisch-kanadische Lyrikerin, Roman- und Sachbuchautorin Joan Lennon diese beiden Aktivist*innen und deren Reden gegenüber – und zeigen damit die lange, weltweite Geschichte politischen Engagements für Klima und Umwelt von Kindern und Jugendlichen auf. Eine Geschichte, die sich – wie die von dem brasilianischen Comiczeichner Anré Ducci in kräftigem Grün, (Feuer-)Rot, Gelb und Schwarz gestalteten Doppelseiten zeigen – keinesfalls auf Europa oder den westlichen Raum beschränkt.
Insgesamt 16 Reden von Menschen aus der ganzen Welt – vorwiegend Politiker*innen und Aktivist*innen – werden in „Talking History“ vorgestellt. 16 historische Reden aus den letzten gut 150 Jahren, die die Gesellschaften formten, in denen wir heute leben (wie es im Vorwort der Verfasserinnen heißt). Geleitet von einem ausgeklügelten Bild-Text-Erzählkonzept erkunden wir dabei die historischen Einbettungen ebenso wie die gesellschaftspolitische Auswirkungen der Texte, deren Originalwortlaut (in deutsch-sprachiger Übersetzung) in Ausschnitten präsentiert wird. Von Abraham Lincoln (1863) und Emmeline Pankhurst (1913) über Jawaharlal Nehru (1947) und Nelson Mandela (1964) bis hin zu Personen wie etwa Malala Yousafzai (2013) und Angela Merkel (2015) reicht das vielseitige Spektrum der Redner*innen, die sich in ihren Texten für Menschrechte, Gleichberechtigung, Klimaschutz und andere (gesellschafts-)politische Anliegen einsetzten.
Jeder Rede werden zwei Doppelseiten gewidmet, die jeweils in einem eigenen Farbkonzept gestaltet sind. Zu den Bildporträts der Redner*innen gesellen sich Ausschnitte der jeweiligen Rede, die deren wichtigste Argumente beinhalten, und ausführliche Informationen zu deren historischem und gesellschaftspolitischem Kontext: Welche Umstände zu der Rede geführt haben, wie Gesellschaft und Presse zur ihrer Zeit darauf reagiert haben, welche unmittelbaren bzw. langfristigen (gesellschafts-)politischen Auswirkungen die Rede hatte … all das wird in wohldosierten Informationen aufbereitet. Präsentiert werden diese – ebenso wie die Redeausschnitte selbst – mal in sequentieller Panel-Struktur, mal in Form illustrierter Text-Info-Blöcke. Kurze sprachlich-rhetorische Analysen und/oder inhaltliche Interpretationen der Rede ergänzen das differenzierte historische Wissen, das gekonnt auf verdichtetem Raum vermittelt wird. Parallel zu der zeitlich-linearen Abfolge der chronologisch aneinandergereihten Reden entsteht durch thematische Wegweiser und Querverweise zudem ein komplexes Referenznetz zwischen den verschiedenen Texten, die so auch untereinander in Bezug gesetzt werden. Abschließend erläutert ein umfangreicheres Glossar wichtige Begriffe.
Neben der formalen Gestaltung des Sachbuchs bestechen aber auch dessen Auswahl und inhaltliche Aufbereitung der Reden, die sich durch ihre diverse Zusammenstellung und kritische Auseinandersetzung – sowohl mit den jeweiligen historischen Begebenheiten und den Redner*innen selbst – auszeichnen. Das ausgewogene Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Globalem Süden und Norden wird durch eine Vielfalt an Themen und sozialen Positionierungen ergänzt, die die intersektionale Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegeln: Neben der frühen britischen Suffraragette Emmeline Pankhurst wird so etwa auch die nigerianische Aktivistin Funmilayo Ransome-Kuti vorgestellt – und damit der Blick auf Frauenrechte an unterschiedlichen Orten der Welt gerichtet. Mit der US-amerikanischen Aktivistin Helen Keller wird darüber hinaus auf die Rechte von blinden Menschen fokussiert – und ein informativer Exkurs zur Brailleschrift eingeleitet. Erfrischend ist auch, dass von Persönlichkeiten wie Barack Obama oder Angela Merkel nicht etwa die bekanntesten Reden (Stichwort „Yes we can“ und „Wir schaffen das“) präsentiert werden, sondern etwa Obamas Rede zum 50. Jahrestag der Protestmärsche von Selma nach Montogmery von 2015 und Merkels Rede vor der Weltgesundheitsorganisation in Genf aus demselben Jahr zur Ebola-Epidemie, in der die damalige deutsche Kanzlerin – in weiser Voraussicht, möchte man heute meinen – zu einer besseren und gerechteren internationalen Zusammenarbeit im Angesicht globaler gesundheitlicher Krisen aufrief.
Wörter können die Welt verändern. Mit diesem Satz leiten die Verfasserinnen ihr Sachbuch ein und rufen ihre Leser*innen dazu auf, genau hinzuhören auf diese – und andere – kritische Stimmen. Dabei machen sie nicht nur eine Textsorte, die im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur selten in den Blick gerät, auf äußerst vielseitige, anschauliche und informative, aber dennoch kurzweilige Weise für junge Leser*innen zugänglich, sondern machen auch Lust auf weitere Recherche und Auseinandersetzung mit Sprache und (deren) Geschichte.
Claudia Sackl
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