Tyrolia 2022.
56 S.

Lena Raubaum und Clara Frühwirth: Worauf wartest du noch?

Das althochdeutsche Wort stuol meint einen Sitz oder Thron. Hält man sich den steinernen Herzogstuhl im Kärntner Zollfeld (9. Jahrhundert) oder den Krönungsthron aus parischem Marmor im Aachener Dom (8. Jahrhundert) vor Augen, ist deutlich zu erkennen: Das Sitzen war einst eine hochherrschaftliche Angelegenheit. Wenn am Vorsatzpapier also 25 Stühle, österreichisch natürlich Sessel, bereit gestellt werden, ist klar: Hier wird zur Königsklasse des Lesenlernens eingeladen – in ein ABC-Buch.
Wiewohl: Mit dem eigentlichen Lesenlernen haben ABC-Bücher schon lange nichts mehr zu tun. In der modernen Kinderliteratur haben sie sich von der Fibel weg und zu unterschiedlichen Formen hin entwickelt, der Buchstabenlust zu frönen. Das ABC dient dabei zuallererst als Ordnungsmoment und wird darüber hinaus zum Steinbruch, aus dem Sprachspiel in all seinen Variationsformen geschlagen wird.

Zurück zu den 25 Sesseln. Wieso 25, wenn doch ABC? Egal.
All das, was hier hoch, breit, mit Armlehne oder ohne, geschnitzt oder geflickt, rund oder eckig an Sitzgelegenheiten präsentiert wird, bildet in weiterer Folge Stück für Stück (Buchstabe für Buchstabe) den Ausgangspunkt der Bild-Inszenierungen. So richtig gesessen wird dabei selten. Vielmehr wird gelümmelt, balanciert, gekuschelt; die Sessel werden zum schlichten Möbelstück oder zur Spiel-Requisite. Zu Haus, Dach, Turm oder Zelt. Denn obwohl bildlich auf die titelgebende Frage reagiert wird, kommt hier keine Langeweile auf. Und das, obwohl das dauern kann, mit dem Warten …

Zu Beginn wartet erst einmal das A auf seinem Polstersesselthron (den Reichs-Apfel im Anschlag) Es wartet, … bis etwas Aufregendes passiert. Lange muss es da nicht warten, denn mit B wird bereits ein Buch aufgeschlagen und in Folge schaffen Lena Raubaum und Clara Frühwirth die kuriosesten Varianten des Wartens. Sie gehen dabei von ganz alltäglichen Situationen aus und verleihen ihnen mit Buchstaben-Hilfe einen Überraschungstwist. Affe, Bär und Chamäleon bleiben außen vor (ok., nicht ganz; aber sie werden zu Nebendarsteller*innen, im Bilderbuchfachjargon: Syllepsen). Stattdessen rückt eine gehörige Portion Chaos in den Blick. Denn hier wartet jemand …bis sich das Chaos von selbst aufräumt. Wie gut, dass das selten der Fall ist, und man damit in noch 22 weitere Situationen einsteigt, in denen das Kinderleben Aufregendes zu bieten hat.

Die knappen Texte haben dabei witzigen, sensitiven oder sogar philosophischen Charakter – und werden erst in der Text-Bild-Kombination in den kindlichen Alltag zurückgeholt: Man wartet … bis die Zeit reif ist. Und weil warten nicht leicht ist, werden die kleinen, grünen Tomaten am Strauch einfach rot angepinselt.
Zuviel Stille? Kein Problem: Man wartet … bis jemand ganz Ohr ist. Das wird das auf dem Ohrensessel schlafende Kind auch gleich sein, denn dahinter baut sich bereits jemand auf, der anhebt, die Metallbecken in feinster Schlagwerk-Manier aneinander zu dreschen.
Wieder leiser? Kein Problem: Man wartet …bis es mucksmäuschenstill ist. Und hier sind es dann auch tatsächlich Maus und Elefant, die auf zwei ausrangierten Kinostühlen sitzen und gebannt aus dem Bild/ins Bild starren. Dessen Schein wirft Schatten, der Blick ist gebannt (ein Krimi?) und vor lauter Aufregung bleibt die Pfote der Maus in der Luft hängen. Eigentlich wollte sie damit nach dem Popcorn greifen (in das sie nur gelangt, weil der Polstersessel für sie mit zwei Sesselpolstern aufgestockt wurde), aber  >>> der Moment, bevor … lässt sie innehalten. 
Rund um die beiden herrscht völlige Stille. Sprich: Alle Bildelemente sind auf den beiden Sesseln platziert. Darunter die ellipsenförmig markierte Stellfläche (konstant, wie in jedem Bild). Darüber hinaus aber werden keine verspielten Details in den flächigen, hier dunkel-lila gefärbten Erzählraum gestellt. Weil: mucksmäuschenstill.

Wenn man hingegen wartet, …bis irgendeine Idee kommt, ist das auch keine sehr laute oder actiongeladene Tätigkeit. Dennoch ist im Bild einiges los – so wie wohl auch im Kopf jenes Mädchens, das kopfüber auf dem Wohnzimmersessel mit Holzlehne im 1950er-Jahre-Style lümmelt. Man sieht zum Beispiel Seifen- oder Denkblasen aufsteigen; manche davon auch gleich wieder zerplatzen. Die Inlineskates hat das Mädchen bereits an; vielleicht denkt sie darüber nach, auf die Insel zu fahren? (Aus Wiener Sicht gemeint wäre damit natürlich die Donauinsel.) Denn ein illustratorischer Inselvorschlag im Kochtopf-Format wird hier gemacht. Bewacht vom Iltis.

Der Ideenreichtum der beiden Künstler*innen beschränkt sich also nicht nur auf die Warte-Situation selbst. Vielmehr werden die Szenerien mit zahlreichen Buchstaben-Assoziationen angereichert – im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Die Tomaten auf der Blumentopfstaude auf dem Garten-Klappstuhl (wir erinnern uns: Man wartet … bis die Zeit reif ist) werden nicht nur rot anpinselt; sie hängen dort in surrealer Gemeinschaft mit klitzekleinen Dalí-Uhren. Selbst das Kaninchen aus „Alice im Wunderland“ scheint hier seine Taschenuhr vergessen zu haben. Und sie passt ja auch wunderbar hier her, in dieses ABC-Kuriositätenkabinett, in dem die Libelle durchs Zimmer schwirrt, einen unendlich langen Faden hinter sich her ziehend. Gewartet wird hier …bis du mit einer Lücke lächelst.  Und ja, der Faden ist um einen Zahn gebunden. Das Kind hat sich ängstlich unter dem Hochstuhl verkrochen. In dessen Lehne bereits eine (andere) Lücke klafft. In Form eines L.

Denn auch das ist eine Besonderheit. Die Bilder denken den knappen, assoziativen Text nicht nur weiter und reichern den Erzählraum mit Figuren und Requisiten an, die den jeweiligen Buchstaben als Anlaut im Namen tragen. Auch der Buchstabe selbst ist immer im Bild versteckt. Das L springt Betrachter*innen natürlich ins Auge. Genauso wie das in einen Polster gestickte K oder das von der Decke baumelnde N. Schon etwas schwieriger zu entdecken ist das I, das als Buchstaben-Buch (samt ISBN-Nummer) verkehrt neben dem ebenso verkehrten Mädchen am Sessel lehnt und durch seinen Denkblasen-i-Punkt erkennbar ist. Richtig kniffelig wird es beim H. Denn so ein kleines Himmel-Bettchen erschließt sich nicht auf den ersten Blick.
Aber auch die Leser*innen sollen ja erfahren, was Warten bedeuten kann.
Wenn man auf so wundersame Weise wartet … bis der Himmel einen Stern fallen lässt.  Schließlich wird das Warten hier mit dem Suchen verkürzt. Mit dem Entdecken, Staunen und Schmunzeln. Mit der Begeisterung für Assoziationsreichtum und Detailvielfalt.
Man möchte glücklich in seinen Sessel sinken – aber Achtung! Im Nachsatz-Papier sehen die 25 Sitzgelegenheiten schon etwas ramponierter aus. Oder aber sie bergen kleine Schätze, die zurückgelassen wurden.

25? Ach ja: Man wartet auch … bis dir zu X und Y etwas einfällt. Nun gut. Manch kleine Egozentriker*innen unter uns müssen darauf ja nicht lange warten:

Rezension von Heidi LeXe


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