Kröte des Monats April 2022
Aus d. Italien. v. Cornelia Panzacchi
Mit. Ill. v. Timo Kümmel.
Thienemann 2022.
512 S.
Davide Morosinotto: Shi Yu. Die Unbezwingbare
„Die einzige Regel, die wirklich eine Rolle spielt, ist folgende: Was ein Mann kann und was ein Mann nicht kann.“, erklärte Captain Jack Sparrow im grandiosen ersten Teil der „Fluch der Karibik“-Serie. Und lag damit komplett falsch.
Was ein Mann kann, kann eine Frau schon lange.
Denn nicht ein Mann kommandierte die größte Piratenflotte der Weltmeere, sondern Zheng Yi Sao (1775–1844). Nach dem Tod ihres Mannes 1807 stand sie einer Allianz von rund 800 bis 1000 Schiffen vor – jedes davon mit rund hundertköpfiger Besatzung. Der Schaden, den diese ungeheure Flotte dem chinesischen Seehandel mit Portugal und Großbritannien zufügte, war so immens, dass der Generalgouverneur den Piraten 1810 (nach mehrfachen vergeblichen Versuchen, die Flotte militärisch zu zerstören) Amnestie anbot. Ein großzügiges Angebot, dem Zheng Yisao folgte und so nicht nur ihr Leben, sondern auch ihren erbeuteten Wohlstand rettete. Verhandlungsgeschick, Klugheit und Unerschrockenheit bewies sie fortan auf dem Festland, wo sie im Glückspiel und Casinobetrieb erfolgreich tätig war.
An diese mächtige und trotzdem hierzulande kaum bekannte Frau hat Davide Morosinotto die Protagonistin seines Abenteuerromans angelehnt, für den er mit dem Premio Strega Ragazze e Ragazzi ausgezeichnet wurde.
Waisenmädchen Yu lebt mehr schlecht als recht in einem Gasthaus in der chinesischen Provinz Kanton. Kost und Logis muss die Sechsjährige, seit sie denken kann, durch Arbeit in Küche und Schankraum verdienen. Die Grundszenerie erinnert an „Les Misérables“, doch hier ist es kein reicher, geheimnisvoller Fremder, der Hoffnung bringt, sondern ein alter Stammgast. Durch Zufall entdeckt Yu, dass Li Peng nicht nur schwerer Alkoholiker, sondern auch Meister einer geheimen Kampfkunst, des Wushu der Luft und des Wassers ist – und er erklärt sich bereit, Yu zusammen mit seinem Enkel Li Wei zu unterrichten. Der erste Schritt vom kleinen Mädchen zum allseits gefürchteten Piratenadmiral ist getan. Der zweite Schritt wird durch eine Tragödie vorbereitet: Eines Tages taucht er doch auf, der geheimnisvolle Fremde, doch er will nicht das Küchenmädchen sprechen, sondern Peng. Nachts wird der alte Mann tot aufgefunden, der Fremde ist verschwunden. Ihn zu finden und ihren Lehrmeister zu rächen, wird Yus Antrieb. Ganz im Gegenteil zu Wei, der von einem hohen Beamten adoptiert wird und daraufhin seine Vergangenheit zu vergessen scheint. Statt des Wushu der Luft und des Wassers lernt er nun den Kampfstil seines neuen Vaters, statt Freiheit schwebt ihm eine klassische Beamtenkarriere vor, das Buch mit dem Wissen um Pengs Geheimnisse liegt versteckt und verschlossen in seinem Zimmer. Yu findet bei einem Besuch klare Worte für ihren einstigen Freund:
„Du schämst dich wegen Peng und auch wegen mir. Weil ich nicht lesen kann und keine Seidenkleider besitze. Ich dachte, du wärst immer noch derselbe wie früher, aber du hast dich verändert. Du bist eine einzige Enttäuschung.“ […]
Sie sollte ihren Freund Wei erst viele Jahre später wiedersehen und in schlaflosen Nächten bitter bereuen was sie zu ihm gesagt hatte, wo es so vieles anders zu besprechen gegeben hätte. Aber so laufen die Dinge eben manchmal.
Bevor sie viele Nachforschungen anstellen kann, gerät Yu selbst in Schwierigkeiten: Kaiserliche Beamte verfolgen eine Gruppe Piraten ins Gasthaus, es kommt zum Kampf, bei dem Yu – die sich, fasziniert vom Freiheitsanspruch der Seeleute – nicht rechtzeitig in die Küche gerettet hat, bewusstlos geschlagen und kurzerhand auf das Piratenschiff verschleppt wird. Was ein Mann nicht kann? – Nach dem Eifer des Gefechts klar denken.
„Du hast Recht, Himmlischer Steuermann“, gab Scharlachroter Tiger zu. „Ich hätte sie vielleicht doch nicht entführen sollen.“ „Ist ein bisschen spät, das zu bereuen, findest du nicht auch?“
Was macht man mit Beute, die niemand will? Wegwerfen. Zum ersten Mal nutzt Yu ihre heimlich gelernten Kampfkünste und kann im Duell gegen einen Piraten ihr Recht auf Leben und – überraschend schnell – eine neue Heimat erringen. Wieder wird sie zunächst Küchengehilfin, nimmt aber auch immer mehr an Überfällen (eher: Abschreckungsmanövern, damit die Schiffe sich beim nächsten Mal kampflos ergeben und keine Leben riskiert werden) teil und erhält aufgrund ihrer akrobatischen Technik einen neuen Namen: Fliegende Klinge. Nach einigen Jahren rettet sie mit Übersicht ihrem Kapitän das Leben. Die ungeschriebenen Gesetze der Piraten sehen vor, dass sie dafür einen Wunsch freihat. Die Rückkehr nach Hause, zu Wei? Genug Gold, um nie wieder von jemandem abhängig zu sein und selbstbestimmt leben zu können?
Die Zähne von Goldener Drache blitzten auf, als er das Mädchen anknurrte: „Eine Dschunke und eine Mannschaft! Habe ich richtig gehört? Du, ein kleines Mädchen, willst das Kommando über ein Schiff?“ „So ist es“, erwiderte Yu. „Ich will Piratenkapitän werden.“
Von den Rangbezeichnungen darf man sich nicht täuschen lassen: Weibliche Kapitäne sind möglich, wenn auch nicht üblich. Unverheiratete Frauen dürfen Männer herumkommandieren, wenn sie klug und überzeugend genug sind – Fliegende Klinge ist beides und dazu noch eine bessere Kriegerin als ihre gesamte Mannschaft. Der erste Raubzug soll das ändern, führt er doch zu Wei und seinem Buch. Yus ohnehin geringe Hoffnungen in die alte Freundschaft werden völlig zerstört, als sie feststellt, dass Wei inzwischen geheiratet hat. Das Buch kann sie stehlen, aus dem alten Wunsch nach Rache wird aber nichts: Der geheimnisvolle Fremde taucht wieder auf und gibt sich ebenfalls als Meister des Wushu der Luft und des Wassers zu erkennen. Nachdem er Yu davon überzeugt hat, nicht Pengs Mörder zu sein, wird er ihr neuer Lehrmeister. Und schon bald hat sie Gelegenheit, ihre neuen Fähigkeiten einzusetzen: Ein alter Feind erklärt ihrem ehemaligen Kapitän den Krieg, beide rufen ihre Verbündeten herbei. Fliegende Klinge folgt dem Ruf und handelt sich den Posten als rechte Hand aus. Ihre Hand wiederum sichert sich der attraktive Pirat Blauer Tiger: Den Tod vor Augen, wird noch einmal ausgiebig gefeiert und geheiratet. Die Schlacht am nächsten Tag gerät fast zur Katastrophe, der Plan wird verraten, Yus ehemaliger Kapitän getötet. Wieder muss sie sich beweisen und hunderte Seeleute vor dem sicheren Tod retten. Es gelingt. Doch statt gefeiert zu werden, muss Yu feststellen, dass sie übertölpelt wurde.
Was ein Mann kann, ist, seiner Ehefrau zu befehlen. Jeder Mann und jede Frau auf jedem Piratenschiff schuldet Admiral Fliegende Klinge absoluten Gehorsam – und sie schuldet ihn Blauer Drache, der nur zu gern die Lorbeeren für den Sieg seiner Frau einheimsen möchte. Ein Missstand, der vorläufig durch Einschüchterung behoben werden kann, auf lange Sicht aber müssen die Regeln neu geschrieben werden. Yu fügt dem Piratenkodex neue Regeln zu, die Morosinotto teils direkt vom historischen Vorbild übernimmt (allerdings soll nicht Zheng Yi Sao selbst, sondern ihr Sohn der Urheber sein): Willkürliche Entführungen sind verboten, ebenso wie Vergewaltigung und Misshandlung weiblicher Gefangener. Frauen und Männer sind auf See gleichberechtigt (wohl eher nicht historisch). Diebstahl oder Misshandlung von Küstenbewohner*innen ist verboten. Erbeutete Schätze müssen gerecht zwischen allen aufgeteilt werden, nichts darf zurückbehalten werden.
Schnell zeigt sich: Die größte Flotte der Welt zu kommandieren, bedeutet vor allem Verwaltungsarbeit. Mit vierundzwanzig Jahren (Morosinotto arbeitet mit Zeitsprüngen, um Yu vierzig Jahre lang begleiten zu können) ist das einstige Küchenmädchen fast schon Beamtin, so wie Wei, den sie seit mehreren Jahren nicht gesehen hat und doch nicht vergessen kann. Seiner Einladung aufs Festland kann sie daher nicht widerstehen – und läuft in eine Falle. Dieses eine Mal ist Yu nicht die Klügere, ihr Widersacher (dessen Namen man bereits am Klappentext erfährt) ist wesentlich älter, mächtiger und intriganter: Cao Feng, der oberste Eunuch am kaiserlichen Hof, Ratgeber und heimlicher Beherrscher Seiner Majestät. Eine alte Prophezeiung besagt, dass das Wasser sich gegen den Himmel auflehnen werde. Was anderes kann das bedeuten, als dass Seeleute sich gegen den Sohn des Himmels (wie ein Beiname des Kaisers lautet) erheben werden? Doch nicht nur politisch ist die Piratin Feng ein Dorn im Auge: Er will auch jede Erinnerung an den Wushu der Luft und des Wassers vernichten. Warum, wird erst klar, als Yu sich nach drei Jahren der Folter aus ihrem Gefängnis befreien kann und mit den meisten ihrer ehemaligen Mitgefangenen ans Meer zurückkehrt: weil diese Kunst unbezwingbar macht.
Waren die weiten Sprünge, die Yu von Peng lernte, noch physikalisch möglich (oder zumindest vorstellbar), sprengt das, was sie nach ihrer Rückkehr lernt, die Grenzen der Naturgesetze. Yu lernt, auf dem Wasser zu gehen, unter Wasser zu atmen und von Welle zu Welle zu fliegen. Fähigkeiten, sie mehr denn je braucht. Wieder hat ihr untreuer Ehemann versucht, die Flotte unter sein Kommando zu bringen. Doch Blauer Tiger ist und bleibt ein schwacher Gegner. Cao Feng dagegen holt zum alles entscheidenden Schlag aus: Die kaiserliche Armee greift die Flotte an. Längst ist die Prophezeiung wahr geworden: Die Angriffe der Piraten bedrohen den internationalen Handel mit anderen Seemächten und damit Chinas Aufschwung. Die gewaltige Seeschlacht, bei der viele Piraten ihr Leben lassen, mündet in einen absolut filmreifen Showdown am Hauptmast.
„Wir zwei sind gleich“, sagte Cao. „Wir stammen beide aus einfachen Verhältnissen. […] Und schau mich jetzt an: Sie nennen mich Fürst, aber ich bin mächtiger als der Kaiser. Ich herrsche über das Land, so wie du über das Meer herrschst. Es war Schicksal, dass wir beide uns begegnen. Wir sind die Größten.“
„Wage nicht, das zu wiederholen“, fauchte Yu ihn an. „Ich bin Die Größte. Du bist nur ein kriechender Wurm.“
The rest is history: Ausgerechnet Wei überbringt Admiral Fliegende Klinge das Friedensangebot des Kaisers, das sie annimmt. Nachdem einige Missverständnisse ausgeräumt sind, flammt die nie gelebte Leidenschaft für eine Nacht auf. Für ein gemeinsames Leben reicht sie nicht, zu unterschiedlich sind die beiden. Wei kehrt nach Kanton zurück, Yu begründet eine Gasthauskette, die ihr auch als Spionagering dient.
Nach dem letzten Zeitsprung – Yu ist sechsundvierzig Jahre alt – übergibt sie das geheime Buch ihrer und Weis Tochter.
Was ein Mann kann… Davide Morosinottos kindliche Charaktere zeichnen sich oft durch Willensstärke und Eigensinn aus. An Shi Yu kann er diese Wesenszüge über Jahrzehnte hinweg entfalten und sie im Wechselspiel mit anderen Motivationen und Eigenschaften zeigen. Yu wird vom trotzigen zum schwärmerisch verliebten Mädchen, bleibt aber immer misstrauisch und auf den Überlebenskampf gefasst. Später dominieren die Liebe zu ihren Kindern und die Sorge um ihre Flotte. Dass der hohe Verwaltungsaufwand absolut nicht das ist, was man sich unter dem Piratenleben vorstellt, hält sie nicht von der Erfüllung ihrer Pflicht ab. Überhaupt ist zurückschauen fast nie eine Option für Fliegende Klinge. Einzig Wei bleibt ihr wunder Punkt, doch freundschaftliche und familiäre Beziehungen bleiben immer stärker als Romanzen.
Was ein Mann (noch) kann: Morosinotto kann nicht nur Figuren, er kann auch historische Settings: Nach Nordamerika, Sibirien und Italien nimmt er die Leser*innen nun ins China des beginnenden 19. Jahrhunderts mit. Durch viele Beschreibungen, bildhafte Benennungen (auch jede Wushu-Übung hat einen bezeichnenden Namen, z. B. Biss des Grauhais oder Hagel, der die Ernte zerstört) und Details aus dem Alltag (Speisen, Zeitangaben, Kleider) vermittelt er eine dichte, lebendige Atmosphäre. Eine so starke Figur wie Shi Yu braucht einen plastischen, intensiven Hintergrund, um nicht übermenschlich zu wirken – und sie bekommt ihn. Vom ersten bis zum letzten Gasthaus, in dem die Piratenfürstin lebt, ist jeder Schauplatz im Text sorgsam und kühn gezeichnet (was sich in der Übersetzung bewahrt). Das trifft auch auf das Coverbild von Rébecca Dautremer zu, das Yu in voller Rüstung und mit herausforderndem Blick zeigt. Über Vor- und Nachsatz segelt ein Schiff, eine Dschunke, wie im Glossar am Ende erklärt wird.
Und Jack Sparrow? Der bekommt auch die Chance, seinen Irrtum einzusehen. Eine der Kapitäninnen, die sich in „Fluch der Karibik: Am Ende der Welt“ zum Rat der Piratenfürst*innen zusammenfinden, soll lose auf Zheng Yi Sao basieren.
„[…] Alle Menschen leben in Gefängnissen, die sie sich selbst gebaut haben. Aber wir Piraten? Ach!“ Nachtfalter grinste. „Wir haben Schiffe die uns über die Meere tragen, und der Wind treibt uns an, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten. Tag für Tag entscheiden wir frei, wo wir hinwollen und was wir tun.“
Simone Weiss
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