Kröte des Monats Februar 2022
Aus d. Schwed. v. Karl Kurt Peters,
Oetinger 2022.
€ 15,95.
Astrid Lindgren und Johan Egerkrans: Mio, mein Mio
Ein Chart-Hit von (Teilen von) ABBA, Christian Bale in einer frühen Kino-Rolle und nicht zuletzt der Deutsche Jugendliteraturpreis – auch wenn „Mio, mein Mio“ lange nicht so bekannt ist wie Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter oder Kalle Blomquist, hat der phantastische Roman von 1954 einiges an kurioser Trivia zu bieten. Die ersten beiden Informationen haben, wie könnte es anders sein, mit der Verfilmung zu tun: In der schwedisch-norwegisch-sowjetischen Co-Produktion von 1987 verkörperte der damals erst 13-jährige Christian Bale Jum-Jum, den besten Freund der Titelfigur. Benny Andersson und Björn Ulvaeus komponierten einen Song für den Film, der ganze 17 Wochen die Spitzen der schwedischen Charts anführte. Doch nun genug des unnützen Wissens und hinein in den wie gesagt wenig bekannten Text, von dessen Entstehungsmoment Lindgren gerne und oft erzählt hat: Er lag in einer Begegnung auf ihrem Weg von ihrer Wohnung in der Dalagatan zu ihrer Arbeit beim Verlag Rabén & Sjögren begründet, der durch den Park Tegnérlunden führte.
„Mio, mein Mio, das ist eigentlich ein kürzeres Märchen, das ich geschrieben habe, und ich weiß nicht mehr richtig, wie ich darauf gekommen bin, aber auf jeden Fall hat alles im Tegnérlunden angefangen. Ich lief durch den Tegnérlunden und sah einen kleinen Jungen auf einer Bank, und da dachte ich so bei mir, ja, vielleicht wohnt er in dem Haus dort. Ich habe dann ein bisschen darüber nachgedacht, dass er so dasaß. Und dass der Geist in der Flasche kam, und dass er ins Land in der Ferne geflogen ist. Aber eigentlich wollte ich gar nicht mehr als das schreiben. Sondern das Märchen wurde damals in einer Zeitung abgedruckt. Dann, nach ein paar Jahren, fing ich an nachzudenken und mich zu fragen, wie es ihm dort in der Ferne wohl erging. Ob er jemand hatte, mit dem er zusammen sein konnte, wenn er Benka nicht hatte, wie zu Hause in der Tegnérgatan."
(Quelle: https://www.astridlindgren.com/de/figuren/mio-mein-mio)
Im Mittelpunkt steht also ein einsamer Bub, dem die Autorin den Namen Bo Vilhelm Olsson alias Bosse gab. Wie viele Jahre später Harry Potter lebt er als ungeliebtes angenommenes Kind bei Tante Edla und Onkel Sixten, die ihm ständig das Gefühl geben, lästig und anstrengend zu sein. Mithilfe des bereits erwähnten Geistes in der Flasche und eines zeichenhaften goldenen Apfels findet er jedoch auf die Grüne Insel, ins Land der Ferne. Dort wartet sein Vater, der König, der ihn nicht nur liebevoll in die Arme schließt, sondern auch endlich bei seinem wahren Namen nennt:
„Neun lange Jahre habe ich dich gesucht”, sagt mein Vater, der König. „Nachts habe ich wach gelegen und gedacht: Mio, mein Mio. Dann muss ich doch wohl wissen, dass du so heißt.”
Da sieht man es. Das mit dem Bosse war so falsch, wie alles andere falsch war, als ich in der Upplandsgatan wohnte. Und jetzt ist es richtig geworden. (S. 14)
Doch die in poetischer Sprache und mit formelhaften Wiederholungen gezeichnete Idylle währt nicht lange, denn wie so oft in phantastischen Welten gilt es eine Bewährungsprobe zu bestehen. Mio obliegt es, den bösen Ritter Kato zu besiegen und das von ihm in Armut und Elend gehaltene Land Außerhalb zu befreien. In diesem Auftrag zeigen sich weitere Parallelen zu Harry Potter: Wie dieser ist Mio ein erlösendes Kind, das sich dem Kampf mit einer Figur stellen muss, die das absolut Böse verkörpert (nicht zuletzt stellt sich heraus, dass Ritter Kato ein Herz aus Stein hat). Und wie dieser bezieht er seine Kraft für diesen Kampf aus seiner Fülle an liebevollen Beziehungen, wie es Heidi Lexe für Harry Potter formuliert hat. Als er entschlossen zur finalen Konfrontation aufbricht, sagt er zu seinem besten Freund Jum-Jum:
„Ich will in meiner letzten Stunde an dich und an meinen Vater, den König, denken.” (S. 124)
Nun, fast 70 Jahre nach seiner Veröffentlichung, erscheint der Roman in einer neuen Gestalt. Der Text bleibt unverändert in der ersten Übersetzung, die Karl Kurt Peters 1955 verantwortete. Neu sind hingegen die Illustrationen, die ursprünglich von Ilon Wikland stammten: Es war das erste erzählende Buch von Astrid Lindgren, das sie illustrierte, viele weitere sollten folgen und prägten die Rezeption der Texte sicher nachhaltig. Für die Neuausgabe konnte niemand geringerer als Johan Egerkrans gewonnen werden. Der 1978 geborene Künstler, der ursprünglich aus dem Bereich des Computerspiels kommt, zählt zweifellos zu den bedeutendsten schwedischen Illustrator*innen der Gegenwart. Den deutschsprachigen Buchmarkt eroberte er in den letzten Jahren mit seinen schaurig-schönen Bildern zu Nordischen Wesen, Nordischen Göttern und Untoten, alle bei Woow Books erschienen, die mittlerweile auch im Schuber erhältlich sind.
In seinen Bildern spart Egerkrans nicht an dramatischen Effekten: Meist als ganzseitige Bildtafeln gestaltet, zeigt er zentrale Handlungsmomente wie den Flug in das Land der Ferne, den Aufbruch in das Land Außerhalb und natürlich die Konfrontation mit dem bösen Ritter Kato, in kräftigen Farben und mit spektakulären Kontrasten von Hell und Dunkel gestaltet. Das besondere Licht der Morgendämmerung, das kühle Leuchten des Mondes und die strahlenden Augen der verzauberten Vögel verleihen den Bildern eine besondere Wirkung, die der märchenhaften Atmosphäre der Geschichte entspricht. Es sind Bilder, die man sich immer wieder und sehr lange anschauen kann – wer damit nicht aufhören möchte, findet im >>> Webshop des Künstlers signierte Drucke der Illustrationen.
Der 1956 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Text wurde oft vor dem biographischen Hintergrund der Autorin ausgedeutet: Wie Bosse verbrachte auch ihr erstes Kind Lasse, den sie sehr jung aus einer Beziehung mit ihrem verheirateten Chef bekam, einige Lebensjahre bei einer dänischen Pflegefamilie, bis sie ihn zu sich holen konnte. Zwei Jahre vor Erscheinen des Buches war ihr Mann Sture, wohl an den Folgen seiner Alkoholabhängigkeit, gestorben. Es kann also gut sein, dass ein Teil ihrer Trauer die oft beklemmende Stimmung des Märchens geprägt hat. Doch abseits solcher Interpretationen bietet das Buch, auch so lange nach seiner Entstehung, Anknüpfungspunkte für Leser*innen unterschiedlicher Altersstufen und Lebensphasen: Denn wer sehnt sich nicht manchmal nach einem paradiesischen Land der Ferne, in dem man endlich in seinem wahren Wesen erkannt wird?
Kathrin Wexberg
Nicht nur die Kröte des Monats steht ganz im Zeichen des 20. Todestages von Astrid Lindgren.
Kathrin Wexberg hat überdies in einem Radio-Interview über ihr Leben und Werk gesprochen. Das Interview finden Sie >>> hier
Und: Im internen passwortgeschützen STUBE-Card-Bereich findet sich neuerdings eine >>> Medienliste, in der Bücher und Medien zu und rund um Astrid Lindgren versammelt sind.
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