Kröte des Monats November 2021
Jungbrunnen 2021.
€ 15,00.
Michael Roher: Kali kann Kanari
Eine Familie. Fünf Personen. Und ein Nymphensittich, der plötzlich auf dem Balkon auftaucht. Das ist die Ausgangskonstellation von Michael Rohers Kinderroman, der mit viel Sprachwitz und Humor von dem Besonderen (und Verrückten) im Alltäglichen der Ich-Erzählerin Lisbeth berichtet. Eingebettet wird Lisbeth dabei gleich zu Beginn in ihr ebenso liebevolles wie chaotisches Familiengefüge, wenn sie sich, ihren aufgeweckten kleinen Bruder Kali, die Mutter (die supergut beim Sachen-im-Internet-suchen-und-finden ist) und natürlich Oma Magda und den zauberhaften Udini-Opa vor den Vorhang holt und den Leser*innen vorstellt.
Ich heiße Lisbeth. Ich bin neun. Meine Haarfarbe ist braun, meine Augenfarbe grün und mein Lieblingsnaschzeug sind dunkelrote Fruchtgummischnüre. Ich mag Katzen. Ich bin ziemlich gut im Zeichnen. Ich kann auch ein bisschen Jodeln. Und im Fernsehraten gewinne ich fast immer.
Der Hinweis auf Lisbeths Zeichenkünste ist mit Sicherheit nicht zufällig platziert, denn kennenlernen kann man die Familie nicht nur im Rahmen von Lisbeths kurzen Textportraits, sondern auch in den rund um den Text gesetzten orange-schwarzen Illustrationen. Der stimmige Illustrationsstil erweckt den Eindruck, aus (sehr begabter) Kinderhand zu stammen und verweist darauf, dass wir es hier mit einer überaus authentischen kindlichen Erzählerin zu tun haben: Sie liefert nicht nur die Stimme für diesen Roman liefert, sondern untermalt ihn auch wortwörtlich mit ihren Bildern und skizziert in Bild und Text ihr Familiengefüge. In ebendieses intakte, wenn auch chaotische Familiengefüge bricht nun von außen ein tierischer Gast ein:
Mein Bruder Kali entdeckte ihn als Erster:
„Lisbeth, schau!“, rief er und drückte die Nase gegen die Fensterscheibe. „Da ist ein Papagei!“ […]
„Ein Geweih?“, frage der Opa Udini von seinem Schaukelstuhl aus. Der Opa Udini, muss man wissen, ist schon ein wenig verwirrt und außerdem ziemlich schwerhörig.
Was tut man, wenn einem ein fremder Sittich (als der sich der Papagei entpuppt) zufliegt und bei einem einziehen will? Richtig, man geht zur Polizei und macht eine Finderanzeige – zumindest, wenn es nach Lisbeths Mutter geht. Dass die Situation aus dem Ruder läuft, wenn die ganze Familie gemeinsam an der Polizeidienststelle antanzt, muss wohl nicht extra erwähnt werden: Denn Kali kann Computer, wie Lisbeths Bruder vermerkt und beweist dies auch sogleich, indem er in einem unbeobachteten Moment den Polizeicomputer bearbeitet – und lahmlegt. Im weiteren Verlauf des Romans wird sich zeigen, dass Kali nicht nur Computer kann, sondern auch Fußball, Auto und Kassa – und jedes Mal ist das Chaos vorprogrammiert. So lässt sich der Titel Kali kann Kanari (nebenbei bemerkt: eine wunderschöne Alliteration!) auch als Vorwarnung lesen: Er verweist auf ein humorvolles Familienabenteuer, in dem sich die Ereignisse bald zu überschlagen beginnen. Nach kurzer Zeit mit dem neuen Vogelhaustier finden Lisbeth und Kali zufällig heraus, dass der Sittich ausgerechnet das Haustier von Lisbeths Erzfeind Kentucky war und natürlich sollte er auch wieder zu diesem zurück … Doch kurz darauf lässt der Udini-Opa den Vogel bei einem seiner Zaubertricks aus Versehen verschwinden. Wie reagiert man auf so etwas? Am besten mit Tönen:
Tönen heißt: Augen schließen, tief einatmen und dann möglichst lange diesen „Ooooooooom!“-Gesang machen. Das ist so ähnlich wie meditieren, sagt Mama. Und das hilft angeblich, wenn man sich wegen irgendetwas aufregt.
Dass nicht alle Eltern so sorgsam und beschützend mit ihren Kindern umgehen, wie Lisbeths und Kalis Mutter es tut, zeigt sich bei den Nachforschungen, die Lisbeth und Kali anstellen, um herauszufinden, ob der Sittich wirklich dem Kentucky gehört: In der Schule prahlt dieser mit seinen reichen Eltern und allerlei Habseligkeiten, aber es stellt sich heraus, dass all die Angeberei nur ein Schutzschild ist, das er vor sich herträgt; dass die harte Schale einen weichen (und damit verletzlichen) Kern umgibt. Denn der Kentucky lebt – weil er von seinem Vater vernachlässigt wurde – in einer sozialpädagogischen WG. Hier beweist der Roman, dass eine glückliche Familie nicht auf biologische Grenzen beschränkt ist. Denn so wie Lisbeth und Kali auf eine sichere und sorgsame Familie als Rückhalt bauen können, ist die WG, in der Kentucky sein Zuhause gefunden hat, um nichts weniger liebevoll und sympathisch. Und dass eine glückliche Familie nicht zwingend aus Mutter, Vater, Tochter, Sohn bestehen muss, sondern dass andere Familienkonstellationen ebenso das vielgewünschte Familienglück erlauben, zeigt sich ja auch an Lisbeths Familie: Ihre Mutter und ihr Vater leben getrennt, aber das finden Kali und ich nicht weiter schlimm. Er kommt oft zu Besuch. Trotzdem erzählt Michael Roher keine Geschichte, in der die Welt immer und überall rosarot ist: Der Vater hat Geldsorgen, Lisbeth streitet sich mit ihrer besten Freundin, weil die den Kentucky plötzlich gar nicht mehr so schlecht findet, und dann ist da immer noch der verschwundene Sittich, der eigentlich wieder zurück zu seinem früheren Besitzer sollte …
Der Weg zu Versöhnung und Freundschaft mit dem Kentucky und der Rückgabe des Sittichs ist eine Achterbahnfahrt durch den Alltag. Mit Humor wird dabei nicht gespart: Die Wortverdreherei des schwerhörigen Udini-Opas führt immer wieder zu komischen Situationen, aus denen Lisbeth ihre Familie wieder herausmanövrieren muss. So muss sie etwa ihren Bruder und Großvater unauffällig aus dem übergroßen Aquarium in der Tierhandlung befördern, nachdem der Großvater seiner Schwerhörigkeit wegen einen Satz der Tierladeninhaberin in eine Schwimmeinladung umgedeutet hat:
Ich fuchtelte wild mit den Armen und bedeutete ihnen, sie sollten doch bitte, bitte gefälligst schnellstens auftauchen. Wasser plätscherte über den Rand der Glasscheibe, als Opa an die Oberfläche geblubbert kam. „Aber was ist denn?“, fragte er und schüttelte sich ein paar Tropfen aus dem Ohr. „Die Dame hat doch gesagt, es dürfen auch die Kunden baden gehen.“
„Ein paar Runden durch den Laden drehen, hat sie gesagt!“, stieß ich hervor, „Und jetzt raus mit euch, aber dalli!“
Doch aus all dem Chaos geht am Ende eine Freundschaft zwischen Lisbeth, ihrer besten Freundin und dem Kentucky hervor, die mit einer gemeinsam geteilten Fruchtgummischlange besiegelt wird. Und so ist die Welt am Ende zwar nicht rosarot, aber doch zumindest glücklich-warm-orange; wie die Illustrationen in diesem überaus stimmigen Kinderroman.
Julia Lückl
Für alle Harry-Potter-Fans hat Michael Roher ein Bild- und Textzitat dieses berühmten Romans eingefügt. Wer schon immer wissen wollte, wie die Übersetzung der Harry-Potter-Bände so vonstattengeht oder wer sich für andere kinder- und jugendliterarische Themen interessiert, sollte unbedingt einen Blick in die >>> STUBE-Schriftenreihe werfen.
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