Carlsen 2021.
Ill. v. Ulrike Möltgen.
€ 12,40.

Tamara Bach: Das Pferd ist ein Hund

Berühmt ist das Gemälde von Franz Marc, auf dem ein blaues Pferd vor einer bunten Landschaft durch das Bild spaziert. Und ebenso blau wie dieses Pferd sind auch die Schrift und die Illustrationen von Ulrike Möltgen, die in Tamara Bachs neuem Kinderroman bewundert werden können. Über diese farbliche Parallele hinaus gibt es allerdings noch eine weitere zentrale Gemeinsamkeit zwischen dem wohl bekanntesten Werk von Franz Marc und dem Buch: In beiden nimmt das Pferd eine zentrale Rolle ein. Aber: Im Gegensatz zu Franz Marcs blauem Pferd ist das Pferd bei Tamara Bach, erstens, eigentlich ein Hund und, zweitens, für alle unsichtbar außer für Luze, die Schwester der Ich-Erzählerin Clara: Und dann hat sie uns erzählt, dass sie unterwegs Flori begegnet ist und mit ihm getauscht hätte. Und SO ein tolles Geschäft, fünf Päckchen Brause […] gegen: einen Hund!
Nach einer Phase kurzer Verwunderung über dieses neue, wundersame Haustier (Ist Luze nicht zu alt dafür?), wird der Hund/das Pferd aber akzeptiert und seine Existenz Luze gegen-über nicht weiter infrage gestellt:

Und Mama dann hat ganz viel gelesen und das Wasser auf dem Herd hat irgendwann gekocht und Luze hatte einen Hund aus Luft – wobei der ontologische Status dieses Hundewesens weitgehend fraglich bleibt, wie sich im Verlauf des Romans immer wieder zeigen wird …

Während Luze mit diesem Hund eine weite Gedanken-Fantasie-Welt eröffnet, verengt sich der realfiktionale erzählte Raum zu Beginn des Romans ganz entscheidend: Claras und Luzes Lebensradius wird auf das Mehrparteienhaus beschränkt, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter und Luzes Vater/Claras Stiefvater leben. Denn es gilt: Homeschooling und Selbstbeschäftigung, statt Schulbank und Freund*innen treffen. Es ist allerdings kein fieses Virus, das die Schule lahmlegt, sondern ein nicht weniger konsequenzenreicher, aber doch etwas weniger fieser Kälteeinbruch:

[A]n einem Freitag war es plötzlich so kalt, dass sie uns früher von der Schule nach Hause geschickt haben […]. Es gibt nämlich auch kältefrei. Wusste ich vorher auch nicht.

Und so wird das Wohnhaus zum hermetischen Raum, in dem ein enges Miteinander zwischen den einzelnen Wohnungsinhaber*innen gepflegt wird, ähnlich wie es schon Fans der Rico-und-Oskar-Buchreihe von Andreas Steinhöfel kennen.
Während also in dem erzählten Außenraum Eiseskälte herrscht, wird dieser die Wärme und Hilfsbereitschaft innerhalb des Hauses oppositionell gegenübergestellt: Die Nachbar*innen helfen einander aus, passen gegenseitig auf die Kinder auf und erklären sich auch bereit, das Hund/Pferd-Theater für Luze mitzuspielen. Vor allem unterstützen sie aber Clara, Luze und Vincent (von dem noch die Rede sein wird), sich an die veränderte Normalität – ein geflügeltes Wort, in Zeiten wie diesen – anzupassen.

Authentisch wird aus Claras Sicht der Alltag im Homeschooling erzählt, der trotz oder gerade wegen seiner immer wiederholenden Struktur (Aufgaben, lesen, Freizeit …) die veränderte Lebensrealität der Protagonistin glaubhaft abbildet. Mit der Begrenzung des Bewegungsradius ändert sich auch das Lebenstempo, was sich in Tamara Bachs Erzähltempo widerspiegelt: Der Roman ist sehr dialogisch erzählt, innerhalb der einzelnen Tage gibt es kaum Zeitsprünge, die Erlebnisse werden detailverliebt ausgestaltet und in einem ruhigen und immer wieder humorvoll kommentierenden Ton erzählt. Berichtet wird also weniger das Alltägliche im Besonderen – ein rasendes Abenteuer, eine Krimihandlung – als vielmehr das Besondere im (neuen) Alltäglichen: Ein Streit mit Claras bester Freundin Lisa, die sich seitdem nicht mehr bei ihr meldet. Die Beziehung zu Claras Vater, der als Fernfahrer wenig Zeit für seine Tochter hat, und, als er sich unerwartet bei ihr meldet, die Lücke, die er hinterlassen hat, wieder spürbar macht. Und: Claras Gefühle für Vincent, der praktischerweise ein Stockwerk über ihr wohnt, etwas älter ist als sie und ...

...der schönste Junge auf der Welt ist. So schön, dass mir das Herz immer ein bisschen weh tut, wenn ich ihn sehe. Das klingt jetzt ganz schön schmalzig und kitschig und so. Aber das geht nicht anders. Ist alles war. Auch das mit dem Herz.

Verbunden sind diese beiden Protagonist*innen räumlich durch ein Spiegelphänomen:

Wenn es dunkel ist und Vincent in seinem Zimmer ist, dann kann man das von unserer Küche aus sehen. Im Innenhof ist ein Aufzug, und der Aufzugschacht ist aus Glas. Und Vincent hat sein Zimmer direkt über unserer Küche.

Da sich Vincents Vater nicht den ganzen Tag um seinen Sohn kümmern kann und seine Mutter gerade eine Familienauszeit nimmt, steht er plötzlich vor Claras und Luzes Tür, um die Homeschooling-Tage mit ihnen zu verbringen. Dabei findet eine weitere Textsorte Eingang in den Roman: der Witz.

Denn [d]as Allerschönste an Vincent aber, das ist sein Lachen. […] Leider lacht Vincent sehr selten. Und in dem Winter hat er meistens sauer geguckt. […] Jedenfalls habe ich mir dann vorgenommen, Vincent zum Lachen zu bringen. Mit Witzen. Klar.

Dramaturgisch spannt sich der Bogen über die Wochen der Kältephase, die dem Roman seinen zeitlichen Rahmen geben. Innerhalb dieser erzählten Zeit bitten die drei kindlichen Protagonist*innen ihre Nachbar*innen vor die (Handy-)Kamera, um einen Film über ihr Wohnhaus zu drehen. Dabei erhalten sie Einblick in die unterschiedlichen Lebenswege und Lebenslagen, in die großen und kleinen Katastrophen – auch in die ihrer eigenen Eltern. Clara, Vincent und Luze geht es dabei auch um das Reparieren der Problemstellen, wie sie es nennen. Aber auch wenn Vincent handwerklich sehr geschickt ist, braucht es andere Werkzeuge, um die Lebenslücken zu schließen, Probleme zu lösen und Kurven zu kratzen. Dafür wird auf eine altbekannte Form des Reparaturzaubers zurückgegriffen: das Wunschdenken.

Ich […] hab mich auf den Rücken gelegt und gesagt: „Komm wir spielen jetzt ein Spiel. […] Das Spiel heißt ALLES WIRD GUT.“ […] Das ist nämlich so. Wenn Luze oder ich einen dreckigen Tag haben, wenn nichts schön ist, dann spielt Mama das mit uns. Weil sie sagt, dass man das erst visualisieren muss (also sich vorstellen), dass es dann erst so werden kann, wie man es sich vorstellt. Ein bisschen wie Kerzenausblasen und wünschen. Nur ohne Kerzen. Und man wünscht es nicht. Man sagt, dass das so wird.

Gemeinsam sprechen die beiden Protagonist*innen aus, was sie sich für sich, ihre Familien und die Menschen im Wohnhaus wünschen (Lisa ruft an und entschuldigt sich bei mir und sagt, dass es ihr leidtut, dass sie so fiese Sachen zu mir gesagt hat […]). Die Imagination dieser besseren Welt wird schlussendlich real und so endet der Roman mit einem Happy End für alle Beteiligten – auch für den Pferdehund, der beim Gelingen der Situation seine Pfoten im Spiel zu haben scheint, auch wenn das im Roman in der Schwebe bleibt: Immer wieder hilft er den drei Kindern aus der Patsche, indem er ihre Mutter aufschreckt, als sich die drei im Keller des Hauses in Schwierigkeiten gebracht haben oder indem er Luze Dinge verrät, die in anderen Wohnungen (vor allem in jener von Vincent) besprochen werden. Ob der Hund nun tatsächlich als fantastisches Wesen existiert und nur von Luze gesehen werden kann oder ob er nur ein Hirngespinst kindlicher Fantasie ist, bleibt offen. Was an dieser Erzählung innerfiktional tatsächlich „wahr“ ist, wird auch bereits zu Beginn infrage gestellt, denn Clara macht ihre Erzählung ganz eindeutig als Produkt ihrer eigenen Rekonstruktion der Ereignisse deutlich und wird damit zur unzuverlässigen Erzählerin: Also das war so ungefähr. Luze ist irgendwann komisch geworden.

Am Ende steht das Verlassen des hermetischen Raumes – Clara, Luze und Vincent bauen nach dem Ende der Kaltfront vor dem Wohnhaus Schneewesen – und dabei endet auch das Dasein des (imaginären?) Hundes auf der Handlungsebene. Der Hund aus Luft löst sich in Luft auf. Und ab da war das Pferd, das ein Hund war, einfach weg. Und wir haben etwas anderes gespielt. Zurück bleibt – sowohl auf der Handlungsebene als auch bei den Leser*innen – ein warmes Gefühl, das der äußeren Kälte mit Leichtigkeit zu trotzen vermag.

Julia Lückl


Ganz im Zeichen des Kinderromans steht auch der 16. Oktober 2021, an dem zunächst Andrea Kromoser einen Workshop unter dem Titel "Ronja, Rico und die anderen" leiten wird, bevor Kirsten Boie zu Werkstattgespräch und Lesung zu Gast ist.
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Für wen es noch mehr Kinderromane sein dürfen, der/die wird in den >>> altersspezifischen Buchlisten fündig, während >>> hier eine Auswahl an Wohlfühl-Bilderbüchern bereitgestellt wird.

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