Kunstmann 2021.
€ 20,60.

Atak: Piraten im Garten

Wild.
Das Gegenteil davon wäre zahm, oder ruhig, oder brav.
Ohne diese gegenteiligen Wort-Paare zu nennen, setzt das Buch dennoch mit einer solchen gegenteiligen (Figuren-) Konstellation ein. Während nämlich wilde Gestalten im Garten Einzug halten (draußen) scheint der Junge mit der Pluderhose, der in seinem Kinderzimmer spielt (drinnen), nicht nur ein wenig aus der Zeit gefallen, so ruhig und brav, als würde es sich um Kästners Emil handeln. Selbst das Entlein, das ihm zur Seite gestellt ist, hockt auf seinem/ihrem Lesesessel und schmökert in „Der kleine Prinz“. (Besonders wild dürfte auch das Entenleben bei dieser Lektüre nicht verlaufen …)
Aber wir haben es ja mit einem Bilderbuch zu tun, das auf seiner Textebene nur in gegensätzlichen Einzelbegriffen erzählt wird. Daher: draußen. Ein wilder Garten, der durchaus an jenen alten, verwahrlosten Garten erinnert, von dem ein Kinderbuch erzählt, das drinnen auf dem Kinderzimmerboden liegt. Noch wilder erscheint dieser Garten, als bereits das Vorsatzpapier auf
Piet
Igor
Ronja
Albert
Tupp
Egon
Norman
fokussiert. Pfeifen rauchen, Säbel rasseln, Pistolen sind gezückt. Finster blickend macht die illustre Gruppe sich auf. Wohin?

Von drinnen fällt der Blick der Leser*innen durchs Fenster nach draußen, während das Kind auf seine Abenteuerspielfigur konzentriert ist, die wohl gerade mit Popeye um eine Schatzkiste streitet. Das Piratenboot liegt (auf Grund gelaufen und unbeachtet) an der Seite. draußen aber scheint sich etwas anzubahnen. Leise versuchen sich die wilden Gestalten durchs Gartendickicht zu schleichen. Ein nicht eben leichtes Unterfangen mit dem Holzbein von Egon, den hohen Absätzen von Ronja und den Stampferbeinen von Tupp. Doch wer hätte gedacht, dass die vor kurzer Zeit im Garten gefeierte Party zum Auslöser der folgenden Ereignisse würde?
Auf das leise nämlich folgt – der für das Bilderbuch per se bestimmenden Dramaturgie des Umblätterns folgend – ein sehr (!) lautes BOOM! So laut, dass es den Leser*innen als Pop-up entgegenspringt. hier blicken die Piraten ein wenig indigniert auf den Luftballon, den der massige Tupp gerade zertreten hat. dort aber ist deutlich mehr durcheinandergeraten. Denn das Haus, das vorher an die Villa Kunterbunt erinnert hat, gemahnt nun an den Fuchsbau der Familie Weasley. drunter und drüber ist hier alles geraten; schnell muss der Schaden untersucht werden. Nun gut, das Entchen reagiert eher langsam, aber das Kind sprintet los um nachzusehen, ob hinten und vorne noch alles beim alten ist.
Der narrative Charakter wird nun zwar weiter verfolgt, wird aber der Erkundung des Hauses (rauf und runter) untergeordnet, durch die neue Wort-Gegensatzpaare effektvoll präsentiert werden können. Genutzt wird dabei der Blick durch die einzelnen Zimmertüren – die ihrerseits zur Gegensatzinszenierung beitragen. Denn groß ist die Türe und klein das Cut-Out, durch das wir blicken. Zu erspähen ist dabei (mit dem Umblättern) eine Doppelseite, in der nun wirklich alles durcheinander geraten ist. Sind die Bildelemente dann aber geordnet, lassen sie sich auch herrlich in Mengen erfassen – von 1x bis 12 x.
Hinter der blauen Türe wiederum ist alles in Mix-Max-Manier vertauscht und muss erst richtig gestellt werden. Selbstverständlich ist dabei auch der jeweilige Blick durch die Türe als Gegensatzvariante inszeniert: ganz schwer wird da plötzlich das zum Guckloch gehobene Entchen, während daneben ein Luftballon ganz leicht an der Schnur schwebt.

Die Farbigkeit der Türen hingegen dient der anspielungsreichen Ausgestaltung der Bildwelten: Kraftvoll und durchaus derb inszeniert der Comickünstler ATAK seine großformatigen Bilder; in kräftiger Farbgebung werden die Sujets flächig und ornamental über die Doppelseiten geworfen, als handle es sich bei dem Kind um Florian und bei den Ereignissen um eine Reise über die Tapete. Es bedarf eines zweiten Blicks, um bei all dieser Bildfülle die kluge Dramaturgie der Geschichte zu erkennen – und dabei all das zu entdecken, was versteckt wurde. Denn in das Bildsammelsurium, das sich zu Garten, Kinderzimmer und Hausflur ordnet, werden zahlreiche Bildanspielungen mit einbezogen, die (kinder-) literarische und kunstgeschichtliche Traditionen, Alltags- und Populärkultur lustvoll miteinander verknüpfen. Eine rote Türe? Hier dürfen Erdbeere und Spiderman genauso wenig fehlen wie Hulk und Erbsenschote bei der grünen. Münchhausen, Struwwelpeter, Petersson oder die drei Schweinchen werden mit dem Wanderer über dem Nebelmeer oder den Schlümpfen durcheinandergewürfelt. Schließlich ist hier alles verkehrt herum. Oder doch passend?

Letztlich weist Pippi Langstrumpf den Weg – auch durch die letzte Zimmertüre in den Garten. Denn auch bei Pippi ging alles kreuz und quer und auch sie wollte Seeräuberin werden. Wie die Piraten im Garten, die versuchen, ihren Schatz zu verstecken. Sie werden dabei versteckt (verdeckt) beobachtet. (Nein, nicht vom Grüffelo. Der versteckt sich im Hintergrund vor der Maus.) Dabei haben Kind und Ente eine Idee und setzen Sein und Schein ein, um die Piraten in die Flucht zu schlagen. Sie bergen den Schatz und kehren nach ihrem Piraten-Abenteuer an den Ausgangsort zurück: ins Kinderzimmer. Ein Essen, das noch warm sein könnte, gibt es hier nicht. Wohl aber ein Bett, in dem sich von all den Aufregungen träumen lässt, die stattgefunden haben, als man noch wach war. Die geborgene Schatzkiste aber ist leer. Der Schatz? Nun, vielleicht halten die Leser*innen ihn selbst ihn Händen? Vom wilden Garten ist ein wilder Kerl geblieben … und schon wartet das nächste wilde Abenteuerland auf seine Leser*innen.

Heidi Lexe

Nicht nur bei den Piraten gibt es einen Garten zu entdecken, sondern auch bei all den Texten, die sich auf der Buchliste zum >>> Garten finden.

Und die Zeit des Gartens ist natürlich auch die Zeit des Sommers. Wie dieser in unterschiedlichen Werken der Kinder- und Jugendliteratur thematisiert wird, kann in der neuen >>> Sommer-Buchliste nachgelesen werden.

>>> hier geht es zu den Kröten 2021