Es ist wieder soweit: Im Juni wird die Kröte der STUBE und der Lesetipp der Literarischen Kurse wieder gemeinsam bespielt. Doppelte Lesempfehlung bedeutet auch Doppelrezension, die in ihrer Gesamtheit wunderbar die Geschichte von Bambi und dessen Autor Felix Salten nachzeichnet.


Jacoby & Stuart 2020.
€ 43,20.
Residenz 2020.
€ 34,00.

Felix Salten / Benjamin Lacombe: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde.

Museum Wien MUSA: Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne. Ausstellungskatalog.

„Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“

Bambi raste hinter ihr drein. Donner schlug von allen Seiten über Ihnen zusammen. Es war, als wäre die Erde mitten entzwei gerissen. Bambi sah nichts. Er rannte. Die angesammelte Begierde, wegzukommen aus dem Getöse, weg aus dem Dunstbereich dieser aufpeitschenden Witterung, der angesammelte Drang zur Flucht, die Sehnsucht sich zu retten, waren endlich in ihm entfesselt. Er rannte. Ihm schien, als habe er die Mutter stürzen sehen, aber er wusste nicht, ob sie wirklich gestürzt war. Er fühlte einen Schleier um die Augen. Den hatte ihm die endlich ausbrechende Angst vor dem Donner darüber geworfen. Er konnte nichts überlegen, nichts beachten, er rannte.

Man kann es Paul Reitter, Literaturwissenschaftler der Ohio States University und amerikanischer Erforscher deutsch-jüdischer Kultur nicht übelnehmen, wenn er festhält: In the end, „Bambi“ may be Austrian schmaltz. Paul Reitter erkennt aber genau darin auch das Potential, „Bambi“ in den amerikanischen Kitsch einzugemeinden, wie Walt Disney das mit seinem Film aus dem Jahr 1942 getan hat. Disney greift dabei zurück auf Felix Saltens Roman aus den 1920er-Jahren, etabliert jedoch eine herzallerliebste Szenerie rund um das kleine, staksige Rehkitz, die mit Saltens literarischem Versuch, dem Seelenleben eines Waldtieres nahe zu kommen, nur mehr am Rande zu tun hat.

„Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“

Verwiesen ist hier auf die Romanversion jener Szene, die mehrere Generationen von Kinobesucher*innen nachhaltig traumatisiert hat: Jene Szene, in der Bambis Mutter bei einer winterlichen Treibjagd erschossen wird und das Rehkitz alleine im Schnee zurück bleibt. Es mag erstaunen, dass Felix Salten (1989 als Siegmund Salzmann in Pest in Österreich-Ungarn geboren) selbst Jäger war, sich dabei jedoch von der gefühlsduseligen Lüge des Waldfriedens abgrenzt und das natürliche Gesetz des Tötens betont, wie Daniela Strigl in ihrem Beitrag „Bambi & Co. Saltens Tierbücher als Dokumente der Zeitgenossenschaft“ zeigt. Dennoch zählt Felix Salten durch seine Tierbücher gleichermaßen wie als Feuilletonist zu einem frühen Aktivisten des Tierschutzvereins, der sich gegen Massentierhaltung und moderne Schlachtbetriebe sowie die Gefangenschaft von Wildtieren in Menagerien oder Zirkussen ausspricht. Der 1931 erschienene Roman „Freunde aus aller Welt. Roman eines zoologischen Gartens“ gibt nachhaltig Zeugnis davon.
Daniela Strigls Beitrag bezieht den zuletzt aufgearbeiteten Nachlass von Felix Salten mit ein und ist Teil des Katalogs zu einer Ausstellung von Wien Museum (im MUSA) und wienbibliothek im rathaus (die jetzt ja endlich wieder besucht werden darf und daher auch bis 19. September 2021 verlängert wurde). Ausstellung und Katalog etablieren Felix Salten als umtriebigen Journalisten gleichermaßen wie als vielgestaltigen Autor und zeigen dessen dichtes Netzwerk zu Künstler*innen und Kunstrichtungen der Wiener Moderne auf.
Denn hinter den beiden Chiffren Bambi und Mutzenbacher verbirgt sich eine mit dem Wiener Kulturleben der Zeit dicht verwobene Biografie (und Werkgeschichte). Allein Murray Halls Beitrag über den Rechtsstreit rund um „Die Geschichte einer Wiener Dirne“ liest sich wie ein Krimi – gibt es doch bis heute keinen Beweis dafür, dass Felix Salten der Autor der „Josefine Mutzenbacher“ ist (wie Karl Kraus zeitlebens journalistisch süffisant betont hat). Die Erben haben die Autorschaft zuerst juristisch zurückzuweisen versucht, um Salten nicht in die Nähe von Pornografie zu bringen; waren aber dann doch sehr umtriebig darum bemüht, die Autorschaft zu beweisen, als es um profitable Rechte und Tantiemen an den zahlreichen Lizenzen, Adaptionen und Neuauflagen des Werkes ging.

„Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“

Der Tod von Bambis Mutter bildet eine Zäsur in jenem Roman, der zum erfolgreichsten von Felix Salten wurde. Beginnend mit 15. August 1922 erschien die „Lebensgeschichte aus dem Walde“ in Fortsetzungen in der „Neuen Freien Presse und in ihrer Gesamtheit noch im selben Jahr in einem Jahrbuch desselben Verlags. Die Rechte lagen aber schon beim Verlag Ullstein, der das Buch dann auch im Dezember 1922 herausbrachte – weitgehend erfolglos wie sich zeigte. Die Rechte gingen an den Autor zurück und erst mit einer Neuausgabe des Romans im Verlag Zsolnay setzte ab 1926 eine Erfolgsgeschichte ein, für die eine 1928 erschienene amerikanische Ausgabe mit der Übersetzung von Autor und Verleger Charles Whittaker Chambers und einem Vorwort des Autors John Galsworthy nicht unbedeutend gewesen sein dürfte. 
Die erzählte Lebensgeschichte aus dem Walde beinhaltet eine Entwicklungsgeschichte, in der sich durchaus die bürgerliche Welt der Zeit spiegelt. Zum strukturbildenden Element wird dabei der Tod von Bambis Mutter. Denn im ersten Teil bleibt Bambi in deren behütendem Einflussraum, ohne die Welt recht erklärt zu bekommen. Nach deren Tod aber wandelt sich die kindliche Lebensphase zum adoleszenten Weg der Erkenntnis über den eigenen Platz im Leben – an neuralgischen Punkten begleitet vom alten Fürsten, dem Vornehmsten im Walde, in dem Bambi gegen Ende des Romans den eigenen Vater erkennt. Das, was im mütterlichen Schonraum noch nicht begriffen werden konnte, wandelt sich nun zu einer Haltung männlicher Selbstbestimmtheit und Separation. Eingenommen wird ein wortwörtlicher Standpunkt des machtvollen Alleinseins, von dem aus gütig auf die Familie (nun Bambis eigene) hinab geblickt werden kann.  
Dieserart unterscheidet sich Felix Saltens Roman sehr deutlich vom Walt Disney-Film, der ja auf dem fröhlichen, kollektiven Miteinander im Wald basiert – und dafür auch die Figur des Kaninchens Klopfer/Thumper einführt. Unterschiedliche politische Implikationen des Romans, wie die sich an den Hirschen (im Vergleich zu den Rehen) beängstigend abzeichnende, und an das Herrenmenschentum erinnernde Vormacht, bleiben im Animationsfilm ausgespart.
Dennoch (oder gerade deswegen) hat Walt Disneys Film sich ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben, während der Roman selbst über Jahrzehnte hinweg kaum literarische Präsenz erlangt hat. Mit den Arbeiten von Illustrator*innen wie Markus Lefronçois oder Benjamin Lacombe aber rückte er zuletzt wieder ins Bewusstsein der (Kinder- und Jugend-) Literatur.

„Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“

Der französische Illustrator Benjamin Lacombe nutzt die Zäsur des Romans für eine buchgestalterische Mitte und breitet seine künstlerischen Mittel wortwörtlich aus: Die Warnung der Mutter wird in deutlich vergrößerter, weißer Schrift ins Dunkel der Doppelseite gesetzt, der Wald drängt vom rechten Rand bereits ins Bild. Mit dem Umblättern stehen die Betrachter*innen mitten im Dickicht. Cut Outs ermöglichen Lacombe mehrere Papierschichten übereinander zu legen, die wie ein Altarbild aufgefaltet werden können und zu einem eindrucksvollen Wald-Panorama anwachsen. In dessen Zentrum erst mit dem Aufklappen der verlorene Bambi sichtbar wird. Einmal mehr legt Benjamin Lacombe ein Meisterstück der Medienkombination dar und nutzt unterschiedliche künstlerische Zugänge, um die Lebensgeschichte aus dem Walde neu zu inszenieren. Die Textseiten sind mit Schmuckleisten gestaltet, die das Wurzelwerk des Waldes aufgreifen und in ihrem verschlungenen Wesen an mittelalterliche Buchgestaltungen erinnern. Naturszenen aus dem Wald werden darüber hinaus in farbintensiven Illustrationen aufgegriffen, die sowohl Bambi als auch andere Figuren in atmosphärisch aufgeladene Szenarien stellen und dabei naturalistische Momente mit malerischem Farbspiel und abstrahierten Perspektiven kombinieren. Unerreicht die Eule, deren Auge aus dem Schwarz einer Baumhöhle leuchtet. Die zahlreichen Bewegungs- (sprich: Action-) Szenen hingegen werden braungrauen Bildfolgen skizzenhaft aufgegriffen, sodass Saltens ja durchaus nicht unpathetischer Text eine erfreuliche Dynamisierung erfährt und damit neu zugänglich wird.

Heidi Lexe

Wer des Französischen mächtig ist und sich genauer für Benjamin Lacombes Arbeitsweise an „Bambi“ interessiert, erhält >>> hier einen Werkstatteinblick.

Informationen zur Ausstellung „Im Schatten von Bambi“ von Wien Museum und wienbibliothek im Rathaus finden Sie >>> hier

Quellen | Zur weiterführenden Lektüre:

Daniela Strigl: Bambi & Co. Saltens Tierbücher als Dokumente der Zeitgenossenschaft. In: Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne. Leben und Werk. Herausgegeben von Marcel Atze unter Mitarbeit von Tanja Gausterer. Wien: Residenz Verlag 2020. S. 319-345.

Heidi Lexe: Bambi – ein Klassiker? In: Felix Salten. Der unbekannte Bekannte. Herausgegeben von Ernst Seibert und Susanne Blumesberger. Praesens Verlag 2006. S. 97-108.

Im Walde treibt sich Bambi herum; was in diesem Handlungsraum und Darstellungsgegenstand aber noch so alles geschieht, zeigt die kürzlich zusammengestellte Buchliste zum Thema >>> Wald.

>>> hier geht es zu den Kröten 2021