Kröte des Monats Mai 2021
Aus d. Franz. v. Ulrich Pröfrock.
Lettering v. Minou Zaribaf.
Carlsen 2020.
€ 24, 90.
Thomas Cadène und Benjamin Adam: soon
Science Fiction. Dystopie. Utopie? Climate Fiction. Near-Future Fiction. Future History. – Die von den beiden französischen Comic-Künstlern Thomas Cadène und Benjamin Adam kreierte Graphic Novel „soon“ kann mit vielerlei Labels versehen werden. Geeint werden die unterschiedlichen, ineinander verschränkten Genre- und Motivtraditionen durch ein gemeinsames Anliegen: Die Frage, wie unsere Welt in der Zukunft aussehen könnte, wie diese Zustände beschrieben werden können und wie wir in der Zukunft (genauer gesagt im Jahr 2151) wohl über unsere unmittelbare Vergangenheit sprechen werden.
In einer eindrücklichen, durchaus unkonventionellen Bild-Text-Welt entwirft „soon“ ein zukünftiges Szenario, in dem Klimakatastrophen, Kriege und Pandemien zu einer Apokalypse geführt und die Menschheit auf ein Zehntel der Bevölkerung dezimiert haben. Die Übriggebliebenen leben in sieben urbanen Zentren, ihr Alltag, ihr Energieverbrauch und ihre Bewegungen werden streng reglementiert. Denn die Ressourcen der Erde neigen sich dem Ende zu. Während die verschiedenen Stadtzonen in Asien, Afrika und Amerika – in Europa scheint keine nennenswerte Zivilisation überlebt zu haben – von ihrer Umgebung abgeschottet werden, dürfen die (offiziell) nicht bewohnbaren – weil entweder zerstörten/verstrahlten oder geschützten – 88 % der Erdoberfläche nur von qualifiziertem Forscher- und Arbeitspersonal betreten werden, das die Regeneration der Natur penibel überwacht. In einem für diese Zwecke eingerichteten Labor befindet sich unser Protagonist Juri in der Lehre, als er von seiner Mutter Simone in die Stadt (New Winnepeg, Nordamerika) zurückbeordert wird: Sie steht kurz vor ihrem Aufbruch zu einer Weltraummission ohne Wiederkehr, die im Rahmen des sogenannten SOON-Projekts untersuchen soll, ob die Menschheit auf dem mehrere Lichtjahre entfernten Planeten Proxima Centauri B eine Zukunft haben könnte. Ihre von Presseterminen begleitete Weltreise durch die verbliebenen Stadtzonen unternimmt Simone gemeinsam mit Juri. Dieser ist jedoch wenig interessiert an einer emotionalen Aufarbeitung der Mutter-Sohn-Beziehung, sondern erkundet stattdessen in adoleszenter Selbstbefragung und -bewährung die elternfreien Zonen der jeweiligen Stadt: Ähnlich utopischer Gattungs-traditionen bereist der Protagonist die (für ihn ebenso wie für uns) fremde Welt, die wir anhand seiner Erfahrungen und Reflexionen näher kennen- und hinterfragen lernen.
Das ist ein Erzählstrang der vorliegenden Graphic Novel, der in einzelnen Episoden in unterschiedlichen Pastelltönen aufgefächert wird – und der theoretisch gesehen auch stringent als separate Erzählung gelesen werden könnte. Unterbrochen wird die fortlaufende Handlung im Jahr 2051 jedoch regelmäßig von dokumentarischen Einschüben, die historische Sachinformationen zu der erzählten Zukunftswelt liefern. Scheinen diese zunächst wie auktoriale Erzählerkommentare aus dem Off, wird bald klar, dass sich hier eine deutlich komplexere und durchdachtere Erzählkonstruktion auftut: Denn es handelt sich hierbei vielmehr um Fragmente einer Erinnerungskultur, die Juri (in unterschiedlichen Altersstufen) im Dialog mit seiner Mutter oder Freunden aushandelt. Dies geschieht stets in mediatisierter Form. Mal hilft Simone ihrem Sohn beim Lernen für eine Geschichtsprüfung – zwischen den beiden Juris Tablet, auf dem er seinen Lernstoff in einer vielverzweigten Timeline und unterschiedlichen Infografiken notiert. Mal spazieren sie durch ein interaktives Geschichtsmuseum, dessen Böden und Wände aus Panels bestehen. Die unterschiedlichen Erzählebenen (die jeweiligen Meta-Bilder und die im Gespräch befindlichen Figuren) weiß Benjamin Adam dabei stets auf geniale Weise ineinander zu verweben. Er erschafft nicht nur (detaillierte, verschachtelte) Räume in Panels, sondern platziert seine (Körper-gewordenen) Panels auch im Raum. Die Figuren wiederum bewegen sich häufig nicht innerhalb, sondern außerhalb der Panels durch das Weltall-blaue Gutter, dessen strikte geometrische Struktur mal subtil, mal gänzlich aufgebrochen wird.
„soon“ zeichnet sich aber nicht nur seinen klugen, experimentellen Umgang mit seiner Seitenarchitektur aus, sondern hinterfragt auch auf gesellschaftspolitischer und philosophischer Ebene, wie aus dem Zukünftigen ebenso wie aus dem Vergangenen Sinn erzeugt werden kann. Jene Sequenzen, die retrospektiv auf unsere unmittelbare Zukunft blicken, erzählen nicht einfach linear die Historie dieser zukünftigen Welt nach, sondern hinterfragen durch ihre dialogische Struktur die autorisierte Geschichtsschreibung und zeugen so von dem Spannungsverhältnis zwischen dem kanonisierten kollektiven Gedächtnis der Zukunftswelt und alternativen Erinnerungsformen. Die dichte Struktur der Graphic Novel wird zudem immer wieder durch unterhaltsame Details aufgelockert. Beispielsweise, wenn Oprah Winfrey in Zeitungsausschnitten aus dem Jahr 2034 als US-amerikanische Präsidentin auftritt, während unter den Schlagzeilen berichtet wird, dass Donald Trump wieder einmal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Auf beeindruckend und zugleich beängstigend realistische Weise extrapolieren Thomas Cadène und Benjamin Adam in „soon“ Entwicklungen unserer Gegenwart und erschaffen eine Zukunft, die uns erschreckend nahe erscheint. Während der Grippe-Pandemie im Jahr 2040 fällt der internationale Zusammenhalt auseinander, als die WHO sich außerstande sieht, eine gerechte Verteilung der Impfstoffbestände zu gewährleisten: Als das Virus über die Welt kam, musste mangels wirklicher gemeinsamer Politik … / … jedes Land eigenständig mit den Herstellern von Impfstoffen verhandeln. / Die reichsten Länder bekamen mehr Impfstoff., fasst Juri vor seiner Timeline zur Gesundheitskrise > 2065 zusammen. Das vor jeglicher Berichterstattung über Covid-19 entstandene, 2019 in französischer Originalausgabe erschienene Buch wirkt heute fast prophetisch, das darin imaginierte Szenario dadurch noch ein wenig unheimlicher – aber keinesfalls weniger faszinierend, wenn es auf höchster Graphic-Novel-Kunst die Zerbrechlichkeit gleichermaßen wie die Widerstandsfähikeit der Erde und der Menschheit literarisiert.
Claudia Sackl
Universum, Weltall, Weltraum: Für diese unendliche Weite gibt es unterschiedliche Namen. Wie dieser Raum unterschiedliche Thematisierung in allen Genres der Kinder- und Jugendliteratur findet, zeigt die ausführlich annotierte Buchliste zum Thema >>> Weltall.
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