Mit Bildern von Julie Völk.
Aus d. Niederländ. v. Meike Blatnik
Gerstenberg 2021.
€ 14, 90.

Kathleen Vereecken: Alles wird gut, immer

Ich sah nicht, wie sich meine Eltern in den nächsten Tagen langsamer bewegten. Wie angestrengt ihr Lächeln wirkte, bis es schließlich verschwand. Ich sah nicht, wie sie mit anderen Erwachsenen zusammenstanden und flüsterten. […] Natürlich sah ich das schon alles. Aber ich wollte nicht.

Es sind jene Tage im Ersten Weltkrieg, an denen in einem kleinen belgischen Dorf der Krieg ankommt. Zunächst in Form von Flüchtlingen. Massen von Menschen ziehen durch die kleine Ortschaft. Davor war heile Welt. Man wusste zwar, dass es Krieg gibt, aber der Ort, in dem die 12-jährige Alice mit ihrer Familie wohnt, ist davon (noch) verschont geblieben. Stattdessen ist sie ein ganz normales Kind, freut sich auf den Jahrmarkt, schlägt sich den Bauch mit Süßigkeiten voll und verbringt am liebsten die Zeit mit ihrer besten Freundin Johanna. Der Inbegriff dieser glücklichen Zeit ist ein metallener Globus, im Inneren hohl und voll von Süßigkeiten, die an die Geschwister verteilt werden können. Dieser Globus wird es auch sein, der am Ende an glücklichere Zeiten erinnern lässt, als die Familie noch komplett war.

Die flämische Autorin legt mit ihrem neuen Text, der 2019 zum besten flämischen Kinderbuch gekürt wurde, eine Geschichte vor, die zeitlos gelesen werden kann: Denn auch wenn der Text im Ersten Weltkrieg verortet ist, verzichtet die Autorin nahezu völlig auf innertextuelle Zeitverortungen oder warum das eigentlich neutrale Belgien doch in den Krieg verwickelt wurde. Vielmehr verhandelt sie das Erlebte aus der konsequenten Ich-Perspektive eines 12-jährigen Mädchens. Dabei wählt sie einen kindlich-naiven Blick auf das Geschehen und bleibt dabei erschreckend genau in ihren Beschreibungen.

Nachdem der Krieg immer näher kommt, beschließt die Familie zu fliehen. Wohin? Das weiß keiner so genau und nach tagelangen Strapazen auf der Flucht kehrt die Familie um. In ein Zuhause, welches nicht mehr das gleiche ist wie jenes, das sie einige Zeit zuvor verlassen hatten. Die Kinder gehen zur Schule, am Sonntag in die Kirche und der Vater zimmert Särge – früher waren es Möbel. Ein Stuhl, ein Tisch, ein Kasten. Die braucht aber niemand mehr. Die Devise für die Familie ist, sich normal zu verhalten, unauffällig:

Das war etwas, über das ich lange nachdenken musste. Wie verhielt man sich normal? Sich auffällig verhalten war leicht, albern und anstrengend sein auch. Doch wie sich normal verhalten aussah, wusste ich nicht. […] Wir gingen nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. Ganz normal. Bis wir in Lachen ausbrachen und beschlossen, dass sich normal zu verhalten blöd war.

Von normal kann im Ausnahmezustand Krieg natürlich keine Rede sein; Nach dem plötzlichen Tod der Mutter – durch einen Raketenangriff am Weg zum Bäcker – begibt sich die Familie nunmehr ohne Mutter wieder auf die Flucht. Ob das titelgebende Mantra der Mutter Alles wird gut, immer nun auch noch stimmt, bleibt in diesem Moment fraglich.
Bevor sich die Familie auf den Weg macht, vergräbt Alice besagten Globus mit einer Handvoll anderer Erinnerungsgegenstände im Garten – unter anderem ein Familienfoto, auf dem alle ausgelassen lachen –, die hier hoffentlich auf sie warten. Bis dahin heißt es für Alice mehr Verantwortung zu übernehmen.

Der Krieg wird von Tag zu Tag spürbarer: Kälte, Heimatlosigkeit, Hunger, Angst und Ungewissheit werden zu ständigen Begleitern. Damit einher geht auch Krankheit: Vater und Schwester erkranken an Typhus, während Alices Bruder bei einem Angriff verletzt wird. Um zumindest drei Kinder in Sicherheit zu wissen, werden Alice und ihre beiden jüngeren Geschwister mit einem Viehtransporter nach Frankreich geschickt. Ohne Sprach- und Ortskenntnisse findet sich die 12-Jährige in der Position des Familienoberhaupts wieder:

Dass ich Angst hatte, wollte ich sagen. Ich hätte es zu meinem Vater und meiner Mutter gesagt. Zu Oscar und Rosa. Auch zu Johanna. Aber niemals zu Jules und Clara. Ich war die Älteste. Und die Älteste musste die Stärkste sein.

Es wird eine zutiefst ehrliche Hauptfigur gezeichnet, die innerhalb kürzester Zeit erwachsen werden muss. Die Grausamkeiten des Krieges prägen natürlich den Plot, dennoch gelingt es der Autorin die kindliche Wahrnehmung in den Vordergrund zu rücken und unaufgeregt über Unvorstellbares zu schreiben. Dabei wird auch immer wieder der Blick auf das Positive in der Welt gerichtet und sei es auch noch so klein.
Dieser kindlichen Wahrnehmung verpflichten sich auch die fein gezeichneten, schwarz-weißen Illustrationen der österreichischen Künstlerin Julie Völk, die immer wieder in den Text oder an den Anfang respektive das Ende der Kapitel gesetzt werden. Sie nehmen mal weniger, mal mehr Raum ein und demonstrieren in ihrer Schlichtheit das Erlebte, die Ausweglosigkeit und die inneren Empfindungen der Protagonistin.
Am Ende findet sich eine Familie in Frankreich wieder, die zwei Familienmitglieder weniger zählt und in der ein scheinbar normaler Alltag eingekehrt war; die Kinder gehen zur Schule, der Vater tischlerte wieder. Alles war normal…
Nur unsere Familie war nicht mehr normal. Sie war in Stücke geschnitten. Zerschnitten wie Papier und über alle Gebäude zerstreut. […]
Zwei Schnipsel fehlten. Davongetragen vom Wind, nach oben hinauf. Bis in den Himmel.

Was aber bleibt, ist der Globus tief vergraben im Garten, der den Krieg überdauert.  

Alexandra Hofer


Nicht mit dem ersten, aber mit dem zweiten Weltkrieg beschäftigt sich die Buchliste Shoah und Widerstand.
Außerdem wurde in einer Buchliste zum Thema Flucht thematisiert, in welcher Form und aus welchen Gründen Menschen flüchten müssen und wie sich das in Kinder- und Jugendliteratur niederschlägt.

>>> hier geht es zur den Kröten 2021