Jacoby & Stuart 2020. € 16,50.

Davide Cali / Maurizio A. C. Quarello: Sie nannten uns die Müll-Kids

 

Eine Ode auf das Lesen zwischen futuristischer Retro-Science-Fiction und nuancierter Gesellschaftskritik - wie diese unterschiedlichen Aspekte nicht nur zusammengehen, sondern sich auch gegenseitig auf vielschichtige Weise ergänzen können, zeigen Davide Cali und Maurizio A. C. Quarello in einem faszinierenden, eindringlich erzählten und kulturell reflektierten Bilderbuch.

Der Blaue Blitz hat alles verändert. Es war, als ob eine riesige Hand die Erde ergriffen und geschüttelt hätte. Das hat nicht länger als zehn Sekunden gedauert. Aber danach war nichts mehr, wie es vorher gewesen war. Es gab nur noch Ruinen und Müll.

Vor diesem Hintergrund entwirft das italienische Künstlerduo eine dystopische Welt, deren Topografie und Ästhetik an eine Kombination aus Anakin Skywalkers (alias Darth Vader) und Rey Skywalkers Heimatplaneten erinnern. Zwischen halb verfallenen, mit technischen Teil-Komponenten ausgestatteten Lehmbauten und Bazaren voller skrupellosen Hehler*innen und skurrilen Lebensformen verschränken sie Versatzstücke unter-schiedlichster, vor allem aber orientalischer Kulturen mit ab-genutzten Steampunk-Elementen zu einer Zukunftswelt, in der alles bereits veraltet scheint. Geschuldet ist dies der spezifischen Historie dieser fiktionalen Welt: Nach der Beinahe-Apokalypse durch den sogenannten „Blauen Blitz” (über den man nicht mehr weiß, als dass er gleich einer riesigen Hand die gesamte Erde durchgeschüttelt hat) sind der Menschheit ihre technischen Errungenschaften abhandengekommen. Nur noch einzelne, verstreute Überbleibsel zeugen aus jener vergangenen Zeit, in der Industrialisierung und Cybertechnologie, aber auch Kulturtechniken wie das Lesen das Leben bestimmten.

In ihrer vormodernen neuen Welt suchen die fünf Freund*innen Lizzy, Dschungel, Tai-Marc, Müllkübel und Penny unter dem „Schrott“ auf den riesigen Müllbergen am Rande der Wüsten-siedlungen nach Brauchbarem, das sie in der Marktstadt ver-kaufen oder gegen Nahrung und Wasser eintauschen können. Auch in dieser Hinsicht haben wir also wieder die beiden Wüsten-planeten Tatooine und Jakku vor Augen. Offensichtlich finden sich die Star-Wars-Anleihen aber nicht nur durch die Figur des/der Schrottsammler*in, sondern auch durch die sogenannten „Churupangi-Rennen”, auf deren Ausgang die menschlichen Stadtbewohner*innen hohe Wetteinsätze abschließen...

Konkrete Erinnerungen an das Davor ihrer Lebenswelt haben die kindlichen Protagonist*innen nicht. Die Geschichten der „Alten” erzählen jedoch von einer Welt, in der alles schön, der Himmel azurblau und die Luft frisch [war]. Es gab Bäume, [...] richtig gutes Essen, nicht nur Konserven. Und es war genug für alle da. In Opposition zu dieser besseren Vergangenheit wird die Realität der fünf Kinder positioniert: Die „Müll-Kids” sind keine Kinder-bande, die sich im befreit-autonomen Raum spielerisch die Welt aneignen. Sie sind ein Kollektiv aus jungen Menschen, die angesichts ihrer prekären Lebensbedingungen und des Fehlens erwachsener Fürsorge und Bezugspersonen versuchen, sich aus eigener Handlungsinitiative und mithilfe kindlichen Zusammen-halts in einer feindlichen Welt durchzuschlagen. Und sie sind nicht die einzigen: Es gab mehrere Müllberge, und auf jedem gab es eine Müllsuchergruppe von Kindern.

Mit diesem Motiv thematisieren die Erschaffer dieser sonderbaren, fast phantastischen Welt sehr reale Probleme unserer Gesellschaft und rufen Bilder von Kindern hervor, die sich in Asien oder Lateinamerika Bakterien, schädlichen Chemikalien und Verletzungsgefahren aussetzen müssen, um auf Müllhalden nach wiederverwertbaren Materialien oder reparier-baren Geräten (die zum Großteil meist aus westlichen Ländern stammen) suchen und sich so ihren Lebensunterhalt verdienen. Diese ernsten gesellschaftspolitischen Dimensionen handelt die Erzählung eben nicht auf realistisch-dokument-arischer Ebene ab, sondern versetzt sie in eine ferne, fremde Zukunft. Die entstehende Distanz erleichtert die kritische Auseinandersetzung mit Themen wie Kinderarbeit – nicht zuletzt deshalb, weil das Bilderbuch diese mit der erlösenden Kraft des Geschichten-erzählens gegenüberstellt: Eines Tages stoßen die fünf Pro-tagonist*innen auf ein sonderbares Objekt, das manche Händler*innen irritiert als nutzlos abstempeln, andere wiederum mit unerklärlicher Faszination erfüllt. Auf ihrer „Queste” heraus-zufinden, was es mit diesem ominösen Gegenstand auf sich hat, treffen die Kinder auf ein vielfältiges Figurenarsenal – von gemeinen Bösewichten bis hin zu bibliophilen Träumer*innen.

Die Auflösung um die Beschaffenheit (und das Transformations-potential) des Fundstücks ist jedoch nicht der einzige Twist am Ende des Buchs. Dass es sich bei jener finalen Wendung um eine ebenso empowernde wie zeitgemäße Entwicklung handelt, ist bei einem so sorgfältig durchdachten (und dennoch an keiner Stelle gekünstelten) Bilderbuch letztlich kaum überraschend, sondern einfach nur beglückend!

Claudia Sackl

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