Hanser 2020. € 16,50.

Issa Watanabe: Flucht

Während die Sammelkröte im August lyrisch-beschwingt dahergekommen ist, wird es mit Blick auf den herannahenden Herbst düsterer und ernster. Nicht aber weniger künstlerisch, wenn im Bilderbuch-Format rückverwiesen wird auf einen anderen Sommer. Jenen von vor fünf Jahren, den Flüchtlingssommer 2015.

Nahezu völlig schwarzer Hintergrund. Durchsetzt nur von schemenhaften Wellen, Bäumen in grau und rot und einer Schar von tierähnlichen Wesen im Vordergrund, die sich zumeist von links nach rechts durchs Bild bewegen. In ihrer Darstellung sind die anthropomorphen Tierwesen umso farbenfroher gekleidet – zumindest zu Beginn. Die Gruppe ist bunt zusammengewürfelt und versinnbildlicht dadurch die Multikulturalität jener Menschen, die von Flucht betroffen sind: die Ordnung der Nahrungskette und die topografischen Lebensräume der Tiere sind außer Kraft gesetzt. Neben Fuchs und Gans begeben sich auch Schaf, Giraffe, Löwe und Eisbär auf eine Reise. Eine Reise ins Ungewisse.
Flucht zählt wohl zu jenen Themen, die in den letzten Jahren am öftesten ihre kinder- und jugendliterarische Realisierung erfahren haben – egal in welchem Format. Zu Sachbüchern, Romanen und Graphic Novels reiht sich nun erneut ein Bilderbuch, im Original unter dem Titel „Migrantes“ veröffentlicht und von der peruanischen Illustratorin Issa Watanabe gestaltet. Das vielbesprochene Thema erhält damit dennoch ganz neue künstlerische Intensität: Bereits auf dem Schmutztitel schreitet ein stolz anmutender, blauer langbeiniger Vogel ins Bild. Auf seinem Rücken ein Geschöpf, das einerseits Assoziationen zum mexikanischen Totenkult am „Dia de los muertos“ hervorruft und andererseits stark an den Tod in Wolf Erlbruchs „Ente, Tod und Tulpe“ erinnert, ohne diesen kopieren zu wollen.
Mit einem Koffer in der Hand ruft das Wesen mit Totenkopf und schwarzem, mit bunten Blumen bestickten Umhang der Tiergruppe nach, um sich anzuschließen. Zunächst ebenbürtig wandert es mit ihnen von Doppelseite zu Doppelseite. Von Situation zu Situation, die durch die phantastischen Anleihen der menschlich anmutenden Wesen mit Tierköpfen zwar verfremdet, aber in ihrer Aussagekraft keineswegs gemindert werden und dabei medial wohlbekannte Szenerien hervorrufen: ein überfülltes Flüchtlingslager (wenngleich im düsteren Wald und nicht in einem eingezäunten Gelände), ein Schlauchboot am Meer, das sinkt und schließlich das mit Müh und Not an den Strand retten, nur um zu begreifen, dass es nicht alle Bootsinsass*innen geschafft haben. Die Mimik der Tiere? Ausdrucksstark. Ernst. Ängstlich. Verzweifelt.
Die Willkür, mit welcher Menschen, oder in diesem Fall vermenschlichte Tiere, ein solches Schicksal ereilen kann, zeigt sich in der Zusammensetzung der Gruppe: selbst die Stärksten (Elefant, Nashorn oder Löwe) sind gegen Entwurzelung und Vertreibung aus ihrer Heimat – wo auch immer diese gelegen haben mag – machtlos. Und auch noch so viel Zusammenhalt kann nicht verhindern, dass die schwächsten diese Reise nicht überstehen.
Die Frage ist, welche Rolle das Totenkopfwesen dabei einnimmt:
Ist er oder sie selbst bereits ein totgeweihter Flüchtling? Oder ist er/sie tatsächlich der Tod selbst? Zum Teil wandert dieses Geschöpf mit der flüchtenden Gruppe, zu einem anderen fliegt es hoch über ihren Köpfen auf dem Rücken des blauen Vogels oder ist gar nicht im Bild zu sehen. Die Interpretation, dass es sich um den Tod selbst handelt, manifestiert sich vor allem in einer der letzten ganzseitigen Illustrationen: ein Hasenwesen hat die Überfahrt und das Sinken des Schlauchbootes nicht überlebt und liegt – nach kummervollen Abschied der Überlebenden und mit dem mittlerweile verblassten Umhang des Totenkopfgeschöpfs zugedeckt – scheinbar friedlich im Schoß des Todes. Ein zutiefst trauriges, aber zugleich auch sehr tröstenden Bild. Die Koexistenz zwischen Leben und Tod, das Moment des Übergangs und das Nebeneinander von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit werden damit auf eindrucksvolle Art und Weise verbildlicht.  
Der Farbsymbolik der Bildkompositionen in Bezug auf das Totenkopfwesen, aber auch mit Blick auf das gesamte Werk kommt eine tragende Rolle zu und eröffnet vielschichtige Lesarten. Die Differenzierung zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten – oder jenen, über denen der Tod schwebt – wird durch den Einsatz von roten Blüten markiert. Ist der Hintergrund auf der Flucht grau und in sehr matten Farben gehalten, stehen die Bäume am Ende der Reise in voller kräftiger rot-rosa Blütenpracht und wirken in der gedämpften Atomsphäre wie ein umso stärkerer Hoffnungsschimmer. Ein illustratorisches Motiv, das sich auch schon früher auf einer Doppelseite finden lässt, die neben dem Tod des Häschens die einzige monoszenische Illustration bildet: ein Eisbär im Reich der Lebenden mit rot blühenden Bäumen im Hintergrund steht dem Totenkopfwesen vor grauer, abgestorbener Baumkulisse gegenüber. Handelt es sich dabei um eine Verhandlung, wenn der Tod dem Eisbären eine graue Blume entgegenstreckt und dabei einen gelben Umhang trägt? Gelb, eine Farbe, die im Allgemeinen mit Licht und Wärme in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig aber auch die Farbe der Pest, des Egoismus und der Gefahr, wenn man an Warnschilder für Radioaktivität oder Chemie denkt. Ist der Tod also eine Erlösung auf dem beschwerlichen Weg voll von Strapazen oder muss man sich vor ihm/ihr in Acht nehmen?

Issa Watanabe schafft mit ihrem zeit-, ort- und wortlosem Bilderbuch ein geniales Debüt am deutschsprachigen Markt, das sich aus der Fülle an Flucht-Büchern hervorhebt. Durch die detailreichen Illustrationen, die Assoziationen zu bekannten, immer noch medial viral gehenden Ikonografien hervorrufen, verweist die junge Illustratorin Missstände ohne zu moralisieren auf moderne Odysseen von Menschen, die ihrer Heimat beraubt wurden.

Wie und wo Flucht noch thematisiert wird, lässt sich >>>hier in einer immer wieder aktualisierten und ergänzten Buchliste nachlesen.  

Alexandra Hofer

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