Kröte des Monats August 2020
mixtvision 2020.
€ 16,50.
nils mohl und katharina greve: könig der kinder /
tänze der untertanen. gedichte
Als Drehbuchautor des Films „Es gilt das gesprochene Wort“ wurde er heuer für den Deutschen Filmpreis nominiert. Als Autor des Adoleszenzromans „Es war einmal Indianerland“ wurde er 2012 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und lotete in Folge mit seiner Stadtrandtrilogie eine Grammatik des Erwachsenwerdens aus. Er war Lead-Writer der Gaming App „Story Beats“ und Story Coach für die Textmanufaktur.
Und nun: Ein überraschender Genrewechsel, der im Vorfeld bereits durch ein literarisches AntiVirusProgramm auf Instagram begleitet wurde: In gleich zwei zeitgleich erschienen Bänden präsentiert Nils Mohl Gedichte. Dabei wird jener Band (gelbliches Knallorange), in dem vielfach sprachspielerisch gefubbert wird, an Kinder adressiert, und jener Band (blaustichiges Hellgrün), in dem die Sprache gleichermaßen auf die Probe gestellt wird wie die von ihr erfassten lebensweltlichen Zusammenhänge, an Jugendliche. Diesen Adressierungen entsprechen nicht nur Stil und Tonalität der Gedichte, sondern auch die unterschiedliche grafische Gestaltung der beiden Bände: Katharina Greve, die in Ihrem illustratorischen Hochhaus-Projekt (ein digitaler Comic, der später als hochformatiges, aber querformatig zu lesendes Buch erschien) ein hundertundzweistöckiges Panoptikum urbanen (Innen-) Lebens entworfen hat, arbeitet hier erfrischend reduziert. Freigestellte Illustrationen teasern zentrale Figuren oder thematische Aspekte der Gedichte und begleiten die Texte, ohne sie künstlerisch in den Hintergrund zu drängen. Dieserart entstehen zwei literarisch gleichermaßen wie grafisch liebenswert und durchdacht gestaltete Bücher, die nicht in der Regalabteilung für bibliophile Lyrik-Anthologien, sondern im literarischen Alltag der Zielgruppe selbst Platz finden sollen. Oder in der Literaturvermittlung. Oder im Kontext genussvoller, intermedialer Adaptionsprozesse. Oder dort, wo das STUBE-Team einmal mehr dem mehr kollektiven Genuss der Auseinandersetzung mit Lyrik-Bänden frönt. Also hier.
ich und du
Ohne Du gibt es kein Ich. Oder war es doch, dass es ohne Ich kein Du geben kann? Wie auch immer es um ein Ich oder Du stehen mag – für eine geschwisterliche, freundschaftliche oder anders-liche Beziehung, in der man womöglich auch streiten kann, braucht es immer zwei Personen. Wie der Verlauf von gegenseitiger Wertschätzung hin zu einem (kleinen) Streit aussehen kann, wird in „ich und du“ wunderbar verknappt dargestellt.
Zunächst sehr harmonisch zeigen die ersten je drei Wort starken Zweizeiler, in die geschickt die Dimensionen von Raum (wo), Zeit (wann) und Modus (wie) eingeflochten sind, die Zuneigung zueinander:
wo immer du
da immer ich
Wie schnell es aber eskalieren kann, wissen die Leser*innen nach einigen Liebes- oder Freundschaftsbekundungen:
wieso nur du
du immerzu
Bis am Ende keine*r der beiden Beteiligten mehr weiß, was der Grund war und warum es überhaupt zur „Auseinandersetzung“ gekommen ist: äh ich ich äh. War es die Selbstsüchtigkeit des Ichs oder des Dus oder des Wirs? Eine Frage, die einem womöglich auch aus dem eigenen Leben bekannt sein könnte – worum gings noch gleich im letzten Streit?
Wo der eine oder die andere vielleicht ein Fragezeichen, einen Beistrich oder ein Rufzeichen gesetzt hätte, lässt Nils Mohl die kurzen Verse für sich stehen. Ebenso reduziert kommen die Illustrationen von Katharina Greve daher: liebevoll aneinander geschmiegte Gesichter kehren sich zunehmend mit ärgerlich-trauriger Miene voneinander ab.
Xandi Hofer
so oder so
Dass die Interaktion zwischen Ich und Du nicht immer reibungsfrei abläuft, haben Nils Mohl, Katharina Greve und Xandi Hofer bereits an anderer Stelle thematisiert. Während sich das synchrone Paar in „ich und du“ jedoch trotz (oder wegen?) der anfänglich überwältigenden Innigkeit letztlich distanziert und entgegengesetzte Richtungen einschlägt, erweist sich in „so oder so“ die ironische Ergänzung (bzw. die ergänzende Ironie) als vielversprechendes Heilmittel. Da wie dort entspinnt Nils Mohl auf verdichteten Zeilen einen verknappten Schlagabtausch, der auf der einen Seite zeigt, wie schnell absoluter Einklang in trennende Konflikte überschlagen kann, und wie auf der anderen Seite trotz (oder wegen?) der Lust an der Provokation eine Harmonie des Inhomogenen ent- und bestehen kann, die jeglicher Rationalität entbehrt.
ich so, du so
– du hast mir meinen verstand geraubt
– o das bisschen? asche auf mein haupt
Dass es weniger Vernunft und Verstand als Spontanität und Unernst in den Paradoxien der Liebe und/oder Freundschaft braucht, legen die beiden Dialoge von Ich und Du, die sich jeweils im Paarreim zusammenfügen, nahe. In einem gewitzten (Sprach-) Duell alternieren die schlagfertigen Zeilen der Opponent*innen – das Genre des Western ist dem Hamburger Drehbuchautor ja ohnehin nicht unbekannt.
du so, ich so
– hey du raubst mir echt noch den verstand
– ach ohne ist‘s auch ganz interessant
Die durchlässigen Grenzen zwischen Ich und Du werden auch in Katharina Greves zugehöriger Illustration sichtbar, die sich über die Buchseite hinaus erstreckt und entlang des Falzes ein gedoppeltes schwarzflächiges Profil mit einzelnen orangefarbigen Bildakzenten spiegelt: Ein komplementäres (statt kongruentes) Duo, das vielstimmigen Einklang verspricht. Wenn doch auch im echten Leben alles immer so „einfach“ und unbeschwert sein könnte!
Claudia Sackl
entstehung der gezeiten
Mit Arbeitskolleginnen und -kollegen verbringt man oft meist ebenso viel Zeit wie mit Familie, Freunde oder Vereinsmitgliedern. Oft sogar mehr. Man lernt sich über die Jahre kennen und irgendwann kann man Sätze der anderen zu Ende führen. Vor allem dann, wenn man im selben populärkulturellen Pool schwimmt und zusammenhält: in guten TV-Serien wie in schlechten. Dank Gruppentherapeutischer Gespräche konnte sogar das Ende von „Game of Thrones“ ohne traumatische Folgen überstanden werden. Gerade eben ist das fast ebenso epochal inszenierte Finale der in Deutschland produzierten TV-Serie „Dark“ auf einem bekannten Streaming-Dienst über die Bühne gegangen. Auch darüber gab es viel zu sagen, die Meinungen gingen auseinander. An einem Punkt war man sich jedoch einig: Die sich über die gesamte dritte Staffel wiederholenden Sätze, die der Erzählung biblische, philosophische, essentielle Tragweite bescheren sollten, fanden alle ungemein lustig und wurden kurzerhand in den Büroalltag eingebaut. Seither vernimmt man während Dienstbesprechungen Formulierungen wie: „Deine Vorstellung des Fernkurs-Curriculums verhält sich zu meiner wie Licht und Schatten“. Auf der gegenüberliegenden Seite sagt darauf jemand: „Wie Leben und…“ und eine dritte Kollegin „… und Tod“. Im STUBE-Team liegen also schwerwiegende Dichotomien voll im Trend und daher könnte Nils Mohls Gedicht „die entstehung der gezeiten“ zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen.
Die 20 Zeilen über das Dasein und das Nicht-Dasein von Wasser am Strand, die Katharina Greve lustvoll mit einer elegant ausgestreckten Figuration der Flut bebildert, zeigt trotz der Leichtigkeit der Verse, dass es auf dieser Welt Dinge gibt, die sich fundamental unterscheiden, die sich einander nie annähern, nie eine Gemeinsamkeit und nie Konsens finden werden. Würde man diese Gedanken in der STUBE laut vorlesen, würde jetzt wahrscheinlich jemand flüstern: „Anfang und…“, worauf alle im Chor, lachend-laut „… und Ende“ brüllten. Nils Mohl und das STUBE-Team verbindet nicht nur eine Freundschaft, sondern auch der humorvolle Blick auf die substanziellen Dinge im Leben: da kam die ebbe / zog voll übermut / der flut an der langen schleppe / machte sich neben ihr breit / sprach zur kollegin / es ist jetzt zeit für meine wenigkeit / zieh‘ leine sonst mach‘ ich dir beine.
Vielleicht geht es im Gedicht „die entstehung der gezeiten“ um mehr als „nur“ die Entstehung der Gezeiten. Vielleicht steckt in Nils Mohls Gedicht ein Bezug zu einer unvereinbaren Trennung, zu Erkenntnissen, die durch Wasser und Land symbolisiert werden, vielleicht aber auch nicht. Wie bei vielen der Gedichte darf man die Zeilen mit einem Augenzwinkern lesen, man darf sie in ihrer kunstvollen Einfachheit (nicht Simplifizierung) ganz Ernst nehmen und man darf sie immer als Anregung auf das eigene Leben heranziehen oder Lyrik einfach Lyrik sein lassen. Das STUBE-Team im Chor: „Wie Ebbe und Flut“.
Peter Rinnerthaler
kurzmärchen
Das Epos. Der Roman. Die Novelle. Geschichten werden in unterschiedlichen literarischen Formen erzählt, denen wiederum (in den meisten Fällen) auch eine bestimmte Tendenz zu einer sehr üppigen, umfangreichen oder sehr prägnanten, kurzen Art des Erzählens zu eigen ist. Lyrik, der sich Nils Mohl in diesen beiden wunderbaren Bänden widmet, kommt meist mit wenigen Wörtern aus (auch wenn es natürlich längere lyrische Formen wie die Ballade gibt). Mit wie wenigen Wörtern aber ein Gedicht auskommen kann, um eine Geschichte wieder zu geben, die meist deutlich ausführlicher erzählt wird, beweist der Autor in „Kurzmärchen“. Wo sonst, etwa im ersten der Hausmärchen in der Sammlung der Brüder Grimm, länger ausgeführt wird, in welcher Zeit die Geschichte spielt, was das Problem ist, wie es zu lösen sein könnte, werden in unglaublichen vier Wörtern handelnde Personen, dramatischer Höhepunkt und Ende höchst präzise benannt. Dass hier geküsst statt an die Wand geworfen wird, ist natürlich ein wenig schwierig, sei jedoch angesichts des von Katharina Greve hinreißend dargestellten Frosches verziehen – denn wer könnte einem solchen Kussmund widerstehen?
Kathrin Wexberg
höhere mathematik und keine tiefere bedeutung
Die Stadt = eine Mixtur aus Formen. Diese werden in den Himmel gesetzt und festgemacht. Geometrie, von Kränen erschaffen. Mit diesem Bild steigt Nils Mohl in ein Spiel der Logik und gleichzeitig Unendlichkeit ∞ der Mathematik ein. Die übereinander gestapelten Formen lassen die Umgebung in die < Höhe schießen und damit ‚unberechenbar‘ (nicht-rechenbar oder unvorhersehbar) werden.
In dieses Szenario tritt nun ein kleines Tierchen, ein Element der Natur, mit vielen – nicht gezählten – Füßen. Ohne Namen kommt es daher und krabbelt uns den Rücken hoch. Ein komplett nicht-berechenbar und nicht-benennbares Wesen, das im Kontrast zur geradlinigen Geometrie der Stadt steht. Die Illustration konstruiert das Insekt um und ersetzt den Körper mit seinen Beinen und Fühlern durch die Kreiszahl . Den Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes περιφέρεια (peripheria) = Randbereich. Es trägt uns an die Randbereiche der Mathematik – an die Randbereiche des Berechenbaren.
Der Schluss bricht nun endgültig mit den mathematischen Verhältnisse von > und <, wenn dem Tierchen Flügel wachsen und es noch unberechenbarer erscheint. Dann hat die höhere Mathematik keine tiefere Bedeutung mehr. Dann steigt das Tierchen mit Flügel hinauf und überragt jegliche Kräne und Städte und deren Geometrie.
Das Gedicht ist ein endloses philosophisches Potpourri, sodass selbst Mathematik-Muffel, denen beim Anblick von π nicht nur ein Insekt über den Rücken läuft, höher als Kräne springen können vor Genuss.
Tamara Kurzbauer
exquisite expertisen
Wer ein X im Namen trägt, sogar ein EX, hat eine besondere Vorliebe für alles buchstäblich Gekreuzte, selbst dann, wenn damit den vergangenheitsgeformten Lebensniederlagen gefrönt wird: exhosen sitzen enger. exfreuden nennen sich nun also frustration. Nun gut, behelfen lässt sich mit extratouren durch sommerlich geblümten Flatterhosenabteilung (schließlich weiß man: extratouren sind legal / exhibitionisten anormal); auch wenn ein explodierender Kleiderschrank sie nur mit bumm-peng! auswirft, um vor modischer Unangemessenheit zu warnen. Im exdunkel, also im licht des Hochsommers gesehen, lässt sich auch damit das exil verlassen und damit der heimersatz mit der STUBE tauschen. Wenigsten nimmt man dann in gemütlicher Aufmachung an den sommerlichen Klausuren teil, die wieder einmal zeigen: exkurse dauern länger. Aber wer darum weiß, dass die exegese sich nicht nur wissenschaft nennt, sondern ohnehin kein Modediktat kennt, darf schon mal ein unmodisches exempel statuieren. exfehler (auch modische) werden mit dem winterlichen Schwarz ohnehin wieder ausradiert, sodass man das exgepresste, das sich saft nennt, auch ohne angsterfüllten Gedanken an den zu verbiegenden expander zu Kaffee und Keksen reichen kann. Schließlich geht es darum, dass in der Planung der nahen und weniger nahen Zukunft der STUBE exklusives einen ehrenplatz kriegt. Da gilt es, keine not zu leiden, auch dann nicht, wenn man kein exminister ist. Und schließlich sollen die X und EX im STUBE-Leben auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen; ganz nach dem Motto:
extremer ehrgeiz nennt sich streben
experiment im volksmund leben
Fazit: Nils Mohl wird am 16. Oktober 2020 mit seinen beiden Lyrik-Bänden beim STUBE-Freitag zu Gast sein.
Heidi Lexe
Nils Mohl liebt Bonusmaterial, das STUBE-Team auch!
#1 >>>Nils Mohl: Beim Erzählen alles in Ordnung?
Eine kurze Geschichte des Vor- und
Zurückspulens. In: Heidi Lexe (Hg.): Timewarp und Taschenuhr. Zeit in der Kinder- und Jugendliteratur.
Tagungsbericht. STUBE 2019. Reihe fokus.
#2 >>>Es war einmal Indianerland. Ein Trip von Ilker Ҫatak. Nach dem preisgekrönten Roman von Nils Mohl.
Rezension von Heidi Lexe im August 2018.
#3 >>>Das Hochhaus. 102 Etagen Leben von Katharina Greve.
Rezension von
Claudia Sackl im März 2018.
#4 >>>Timewarp und Taschenuhr. Zeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bericht im Tagebuch der STUBE-Homepage von Alexandra Holmes im Mai 2018.
#5 Das beste zum Schluss:
Terminaviso: Nils Mohl wird die beiden Gedichtbände im Rahmen eines STUBE-Freitags am 16. Oktober 2020 präsentieren.
>>> hier geht es zu den Kröten 2020