Kröte des Monats Mai 2020
Aus dem Niederl. v. Rolf Erdorf.
Gerstenberg 2020.
€ 15,50.
Daan Remmerts de Vries und Floor Rieder: Der Zyklop
Bereits durch seine auffällige und aufwendige Covergestaltung besticht dieses aus dem Niederländischen übertragene Bilderbuch: Ein grünes echsenartiges einäugiges Monster droht ein erschrockenes Insekt zu verschlingen. Der Schriftzug „Der Zyklop“ prangt auf dem Hintergrund seines großzügig ins Bild gesetzten Bauches, dessen feine Schraffuren durch minimale Hervorhebungen auch physisch ertastet werden können. Nicht weniger eindrucksvoll präsentiert sich das Buch nach dem Aufschlagen. Der Text tritt fast vollständig in den Hintergrund, wird in kleiner unauffälliger Schrift maximal peripher am oberen oder unteren Rand der mal bildgewaltigen, mal detailverliebten Illustrationen platziert. Gleich auf der allerersten Doppelseite zoomen wir ganz nah an das frontal vergrößerte Auge des titelgebenden Protagonisten heran. Ein Zyklop hat nur ein Auge, führt der Text in das markante, wesensdefinierende Merkmal jener Kreatur ein, die traditioneller Weise Furcht und Schrecken verbreitet.
Dass das von Daan Remmerts de Vries verfasste Bilderbuch aber keinesfalls bei gewöhnlichen Darstellungsweisen stehen bleibt, sondern dieserart Konventionen vielmehr mit Ironie und Humor bricht, wird schon nach dem ersten Umblättern deutlich, wenn der Text launisch fragt: Ein Auge – wie viel kann man damit sehen? Zwei übereinander platzierte, horizontal in die Länge gezogene Panels zeigen den einäugigen Riesen ergänzend dazu kontemplativ an einem Fluss- oder Teichufer sitzen und mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck ins Wasser blicken, während sich dieser ob seiner mangelhaften Sehkraft lamentiert. Der Seufzer, der seinen Lippen entgleitet, wird in Floor Rieders bemerkenswert ausdrucksstarken Bildern dabei regelrecht hörbar. Zuletzt hatte die niederländische Künstlerin mit ihren Illustrationen zu der als Wendebuch gestalteten Ausgabe von „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ beeindruckt, dessen stimmiges, sorgsam ausgestaltetes künstlerisches Gesamtkonzept sich durch gezielt gesetzte farbliche Akzentuierungen und eine an Holzschnitte erinnernde Technik mit modernem, innovativem Layout auszeichnete. Auf ähnliche Weise lässt Floor Rieder nun in detailliert ausgearbeiteten, am Computer nachkolorierten Linolschnitten in langen doppelseitigen Panoramaansichten ein ganzes Insektendorf entstehen, in dem Heuschrecken – in völliger Ignoranz gegenüber der Existenz des Zyklopen – in Hängematten dösen, Bienen genussvoll Hönig schlemmen und Raupen auf Pilzen Pfeife rauchen (die kennen wir doch!). Aber nicht alles ist Eitel, Wonne, Sonnenschein in Krümelspritz, jeder und jede hat hier seine/ihre Aufgabe und trägt so zum reibungslosen Funktionieren des großen (bzw. in diesem Fall eher miniaturhaft kleinen) Ganzen bei:
Die Seidenraupe spann Bettdecken.
Die Kakerlake sammelte die vollgekackten Eimerchen ein.
Die Rote Kreuzspinne versorgte die Kranken.
Die Wasserjungfer verteile Gläser mit Getränken.
Die Fleischfliege machte Rauchwürste.
Kurzum: alle waren füreinander da – bis eines Tages der Zyklop auftaucht und das Insektendorf Godzilla-gleich verwüstet.
Dabei sequenziert Floor Rieder ihre Bilder in Panels und legt so parallel zu Daan Remmerts de Vries Text schrittweise offen, dass der (scheinbar zu Unrecht als Monster deklarierte) Protagonist gar nicht aus absichtlicher Boshaftigkeit, sondern aufgrund seiner eingeschränkten Sehkraft ungewollt auf Kirchturm und Schulbus tritt. Da eilen die altruistischen Insekten dem frustrierten Zyklopen selbstverständlich sofort zur Hilfe, basteln ihm flink eine Brille – penibel werden hier die entzückenden Handwerksarbeitschritte der eifrigen Helferlein ins Bild gesetzt – und alles könnte wieder gut sein. Wenn der Zyklop nur nicht so dickköpfig wäre …
Wiederholt bricht die Erzählung mit bereits aufgebauten Spannungsbögen und spielt gekonnt mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen, um schließlich ausgelassen das Moment des (Monsterhaft-)Anarchischen zu feiern. Demgemäß ähnelt der Zyklop auch weniger einer klassischen Repräsentation der riesenhaften Kreatur aus der griechischen Mythologie, sondern erinnert dank seiner schuppenartigen Haut, seinen abgerundeten Fußspitzen, seiner hervorschnellenden Zunge und nicht zuletzt seiner geschmeidigen, sich windendenden Körperbewegungen eher an einen (einäugigen) Gecko. Als eine solche chimärenhafte Echse fällt er im Mikrokosmus des Insektendorfes nicht nur durch seine okulare Mutation, sondern vor allem auch durch seine relative Größe aus der Norm. Bei aller (vermeintlichen) Liebenswürdigkeit ist der Zyklop aber letztlich doch ein Zyklop, der tut, was ein Zyklop am besten kann.
Fast unerträglich verständnisvoll zeigen sich die Insekten im Angesicht dieses nun wirklich nicht nett[en] Egozentrismus …
„Der arme Mann“, sagt er dann. „Da geht er wieder. So ganz allein.“
„Furchtbar“, sagten die Dorfbewohner. „Was für ein armer Tropf!“
„Tja, so ist das“, sagte der Bürgermeister. „Das sieht man auch ohne Brille.“
… und bauen mit unbeirrbarem Optimismus und noch genauso nett wie immer ihre Häuser wieder auf. Eine erfrischende Erzählung, die keine Möglichkeit zur überraschenden Kehrtwende auslässt, dabei aber nicht nur durch ihre spielerische Dramaturgie, sondern nicht zuletzt auch durch ihre kunstvolle Bildgestaltung beeindruckt. Monster bleiben (manchmal) eben Monster.
Claudia Sackl
Auf die Dickköpfigkeit von Zyklopen haben schon Aidan Onn und Rob Hodgson in ihrem Bilderbuch „Das Alphabet der Monster“ (Laurence King Verlag) hingewiesen: Dessen Ordnungssystem hat sich die STUBE zum Anlass genommen, um eine umfangreiche annotierte >>> Buch- und Medienliste mit kinder- und jugendliterarischen Monstern zu jedem Buchstaben des ABCs zusammenzustellen.
>>> hier geht es zu den Kröten 2020