Picus 2020. € 22,00.

Cornelia Travnicek: Feenstaub

Petru, Chetra und Magare leben auf einer Insel. Sie haben kein festes Zuhause, keinen geordneten Tagesablauf, keine "richtige" Familie. In dem Getummel der Großstadt bedienen sie sich an dem Reichtum derer, die, wie es scheint, mehr als genug haben. Abliefern müssen sie das Erbeutete bei dem skrupellosen Krakadzil, der nicht zögert, handgreiflich zu werden, wenn die Rechnung einmal nicht stimmt. Ertragen können sie all das nur dank des Feenstaubs, mit dem sie Krakadzil versorgt. Als Petru jedoch Marja kennenlernt, mit ihr die fremde Sprache sprechen und lesen lernt und sich in sie (und ihre warmherzige Familie) verliebt, scheint sein Leben endlich eine Wendung zu nehmen.

Ihren dritten Roman lehnt Cornelia Travnicek an “Peter Pan” an und verknüpft dabei zeitlose Märchenmotive mit gegenwärtiger Sozialkritik. Vor der Folie von James Matthiew Barries Klassikertext erzählt sie von verlorenen, verwunschenen Jungen, einem tickendenden, alles verschlingenden Krokodil und einer mütterlich fürsorglichen Gwendolin. Anders als der Peter Pan des Originals ist Petru jedoch kein Anführer, sondern nur blinder Passagier in seiner eigenen Geschichte wie auch in seinem eigenen Leben. Sein unentdecktes, insulares Dazwischen fällt – wie Nimmerland – aus Zeit und Raum, so wie auch dessen Bewohner*innen aus dem Raster und durch das Sicherheitsnetz der Mehrheitsgesellschaft fallen – unsichtbar solange sie deren Leben nicht unmittelbar berühren.
Dass der magisch-ermächtigende Feenstaub aus “Peter Pan” – der nur wirkt, wenn man an ihn glaubt – dabei zu jener devastierenden Substanz wird, die die Heranwachsenden zwar für kurze Zeit “fliegen”, aber schon bald darauf noch tiefer fallen lässt, ist bezeichnend für Cornelia Travniceks sorgfältig arrangierte Metamorphose des Originaltexts, an der sie unglaubliche sieben Jahre gearbeitet hat. Das in “Peter Pan” nur latent angelegte Moment der Bedrohlichkeit wird in Travniceks Transformation an die Oberfläche geholt: Ist das Verweigern des Erwachsenwerdens für Peter Pan und die Kinder in Nimmerland mehr ein rebellisch-aufsässiges Spiel als bitterer Ernst, wird es in dem nur scheinbar phantastischen Text der österreichischen Autorin mit der harten Realität der Opfer von Kinderhandel konfrontiert: Petru und die anderen wollen und dürfen nicht erwachsen werden, denn als Taschendiebe haben Kinder einerseits leichteres Spiel, andererseits kommen mit dem mündigen Alter auch Unsicherheiten und Verantwortlichkeiten – nicht zuletzt vor dem Gesetz – auf sie zu, durch die ihre Lebenssituation womöglich noch prekärer werden würde. Und so belügen sie die anderen und sich selbst, machen sich jünger, als sie tatsächlich sind, um einen Schutzraum zu beanspruchen, den sie bitter nötig haben. Wie alt Petru nun genau ist, das weiß er ohnehin nicht mehr.

Erzählt wird die Geschichte in einzelnen Textfragmenten, die mal aus mehreren Seiten, mal aus einem einzigen knappen, mal aus einem zeilenlang gedehnten Satz bestehen. So ausschnitthaft wie die Form ist auch das Erzählte selbst: Nur vereinzelt erfahren wir Versatzstücke aus Petrus Vergangenheit. Er ist “nicht von hier”, kommt aus einem Land, dessen Bewohner*innen eine andere Sprache als jene seines neuen Zuhauses sprechen. Erst spät im Text lernen wir, dass er nicht einmal die hiesige Schrift lesen kann. Geografische, kulturelle, politische oder zeitgeschichtliche Hintergründe werden von Cornelia Travnicek nicht genauer ausgeleuchtet. Sie bleiben unbestimmt und können so von jedem Leser und jeder Leserin mit eigenen Assoziationen und Erfahrungen befüllt werden. Manch eine wird vielleicht meinen, in Petrus nebelumwobenem “Niemandsland” die Wiener Donauinsel wiederzuerkennen. Ein anderer wird womöglich gar nicht an ein wortwörtliches Eiland denken. Anstelle einer konkreten Verortung wird für Petru aber gerade das Fehlen seiner Biografie und das – ebenfalls an Peter Pan erinnernde – Rollenspiel identitätsstiftend:
Jedes Mal, wenn ich Marja sehe, lüge ich. Wenn ich sie nicht anlügen würde, könnte ich sie nicht sehen. Lieber wäre mir, dass alles, was ich ihr bisher erzählt habe, mit einem Schlag die Wahrheit wäre, damit ich endlich ich bin, auch wenn ich dann ein anderer sein müsste, nur damit ich mich nicht mehr fühle, als hätte ich die Verbindung zu mir verloren, als ginge ich ständig mit Abstand zu mir selbst.

Wenn das Erinnern scheitert, sehnt sich Petru danach, kein Davor, kein Danach, nur ein Jetzt zu haben. Denn die heile Traumwelt eines “Es war einmal” ist für ihn so weit weg wie ein “normaler” Alltag in seiner Lebensrealität als Straßenkind. Für seine Geschichte findet Cornelia Travnicek eine poetische melancholische, aber auch hoffnungvolle Sprachform, die ihrem Protagonisten schrittweise seine Selbstbestimmung und sein Selbstwertgefühl zurückgibt:
Du bist vielleicht ein verlorener Junge, Petru, aber solange etwas verloren ist, bedeutet das auch, dass jemand danach sucht.

Claudia Sackl

Inspiriert von den vielschichtigen Peter-Pan-Referenzen in Cornelia Travniceks Erzählung hat das STUBE-Team eine Buchliste mit ausgewählten Peter-Pan-Ausgaben zusammengestellt. Die annotierte Zusammenstellung mit fünf Büchern, zwei Filmen und einer CD ist >>> hier aufzurufen.

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