Aus dem Engl. v. Tatjana Kröll.
Knesebeck 2020. € 13,00.

Jessica Love: Julian ist eine Meerjungfrau

Arielle war DIE Meerjungrau der 1990er-Jahre, Julian ist 2020! Als Kinder ihrer Zeit zeigen die an Andersens Märchen „Die kleine Seejungfrau“ (1837) angelehnten Figuren wie sich die Schlüsselfrage nach der eigenen Identität maßgeblich unterscheiden und wie konträr das Thema „Gender“ ins Bild gebracht werden kann. Während Arielles stereotype Norm-Körperzeichnung und die selbstverständliche Wiederholung des Prince-Charming-Narrativs beispielhaft für alle Disney-Prinzessinnen kritisiert werden kann, ist Julian ein Vorbild für eine zeitgemäße Erzählung über Gender-Fluidität. Was nach schwer theoretischer Kost für die genderaffine Blase klingt, ist jedoch ein Bilderbuch, das mit dem Prinzip der Einfachheit zeigt, wie man mit dem eigenen Leben und dem eigenen Körper glücklich sein oder werden kann.

Das beginnt auf dem Vorsatz- und endet auf dem Nachsatzpapier, wo fünf in ihren Dimensionen ganz unterschiedlich gezeichnete, mit bunten Badeanzügen bekleidete Frauenfiguren (später: Meerjungfrauen) und Julian durch ein türkis eingefärbtes Swimmingpool gleiten. Dazwischen entwickelt die in Brooklyn lebende Bilderbuchkünstlerin Jessica Love eine bunte, humorvolle und durchaus spannende Erzählung, in dessen klarem Text kein Wort unbedacht gesetzt zu sein scheint: „Das ist ein Junge namens Julian. Das ist seine Oma. Und das hier sind drei Meerjungfrauen. Julian LIEBT Meerjungfrauen.“ Auf wunderschön brauntönigem Papier setzen sich die geringfügig dunkleren Hautfarben der Bilderbuchfiguren auf harmonische Weise ab und zeigen ebenso wie die reduzierte Raumgestaltung, dass es keine üppige Detailarbeit braucht, um eine vielfältige Erzählung ins Bilderbuch zu setzen. Die einleitende U-Bahn-Szenerie, in der Julian mithilfe eines Buches von seiner eigenen Transition zur Meerjungfrau zu träumen beginnt, wird mit einem abgerundeten Fenster und einer Sitzbank angedeutet. Der farbenfrohe Unterwasser-Traum samt einer schwungvoll inszenierten Unterwasserwelt-Verwandlungsallegorie schwappt wie eine leichte Welle in Julians Alltag herein, bevor er von seiner Oma rasch in die Realität zurückgeholt „Komm, mein Schatz. Wir sind da.“ Üppig gestaltet sind dagegen Kleidung, Make-up, Frisuren der Figuren und die Pop-kulturellen Einschreibungen, die das Bilderbuch in ein sommerlich, zeitloses Brooklyn setzen, wo unter anderem ein entfesselter Wasserhydrant mit spielenden Kindern oder Sonnenbrillen tragende sowie an Milkshakes schlürfende Jugendliche vor einer rotschattierten Backsteinwand für eine äußerst hippe Szenerie sorgen.

Doch auch der wirklich coole, mit Schirmkappe, zwei Dackeln, gelb-grün-gestreiftem Hemd, Flower-Short und weißen Strümpfen ausgestattete Senior-Hipster wird von einer Figur in den Schatten gestellt: Julian, dessen prozesshafte Verwandlung in den eigenen vier Wänden, in Abwesenheit der Großmutter, dem Medium Comic ähnlich in Sequenzen erzählt und vor einem Spiegel von Statten geht. Als Oma aus der Dusche steigt, hat der Titelheld den farbenfrohen Blumenschmuck der Wohnung in kunstvolle Hair-Extensions, den weißen Rüschenvorhang in einen eleganten Rock verwandelt und farblich abgestimmt Rouge und Lippenstift aufgetragen. Doch wirklich begeistert scheint Oma von der Aufmachung des Enkelkindes nicht zu sein. Sie verlässt den Raum, kehrt mit grimmiger Miene und dem Satz „Komm mal her, mein Schatz“ zurück. Das Moment des Umblätterns sorgt auch in diesem Bilderbuch für eine ordentliche Portion Spannung; gepaart mit der nun leicht verunsicherten Mimik der jungen Meerjungrau.

Auf der nächsten Doppelseite ist dann alles gut! Oma überreicht einer der queersten Figuren der Bilderbuch-Geschichte die noch fehlende Perlenkette, von der das Kind schon in der U-Bahn geträumt hatte und die das Meerjungfrauen-Dasein komplettiert. Hand in Hand verlassen die zwei nun top-gestylten Figuren das Haus und machen sich auf den Weg: „‚Wohin gehen wir?‘ / ‚Das wirst du gleich sehen‘, sagte Oma.“ Ohne das Ende vorwegzunehmen, kann verraten werden, dass es sich um eine noch buntere, noch modischere Zukunft handeln wird. Ein perfekter Ort für eine Meerjungfrau, wie Julian eine ist, ein Ort für die jungen und alten, großen und kleinen, dicken und dünnen sowie alle irgendwie dazwischenliegenden (Meeres-)Bewohner*innen der Stadt.

Peter Rinnerthaler

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