Aus dem Niederl. v. Rolf Erdorf.
Gerstenberg 2020. € 14,40.

Edward van de Vendel / Marije Tolman: Der kleine Fuchs

Das Gefühl, zu fallen, kennt wahrscheinlich ein jeder und eine jede aus seinen/ihren Träumen. Man läuft, man springt, man fällt. Zumeist jedoch ohne je anzukommen. Ohne je aufzuschlagen. Denn davor wacht man (zum Glück meistens) auf. Kein solch endloser, aber ebenfalls ein traumhafter Moment des Fallens steht in einem Bilderbuch, das der niederländische Schriftsteller Edward van de Vendel und die niederländische Illustratorin Marije Tolman verfasst haben, sowohl am Anfang als auch am Ende der Erzählung:

Auf den ersten Seiten läuft der titelgebende kleine, in grellem Neonorange leuchtende Fuchs durch eine feingliedrige, monochrome Landschaft. Quer durch Wälder und Wiesen. Auf der Jagd nach lila Schmetterlingen. Bis er am Strand an einen Vorsprung kommt, plötzlich durch die Luft segelt und mit einem „SCHLAG“ am Boden landet.

[Szenenwechsel]

Ein Babyfuchs, „so klein wie ein Äpfelchen“, denkt an „Mama und Milch und an Milch und Mama und mmmmmmmmmmmmmmmm“. Ein junges Füchslein kugelt mit seinen Fuchsbrüdern und Fuchsschwestern durch den Bau. Im Schutz der Nacht zwängt es sich schließlich durch den engen Tunnel hinauf in den Mondschein. Aus dem ersten werden viele Male, denn oben wartet eine buntduftende Welt, die erkundet werden will.

Nach dem Fall des Fuchsjungen haben sich die Darstellungs- und Erzählweisen des Bilderbuchs deutlich verändert. Wurde der Handlungsstrang bis dahin hauptsächlich von den Bildern erzählt, strukturiert nun ein schriftsprachlicher Text das folgende Geschehen. Und auch auf der Bildebene zeichnen sich neue räumliche Ordnungen ab. Die großformatigen, abfallenden Illustrationen – eine Montage aus doppelseitigen, blauweiß eingefärbten Landschaftsfotos und Tierzeichnungen, die in den unterschiedlichsten Farben leuchten – werden abgelöst von durchwegs farbigen, sequentiellen Bildformaten, die als kleine Vignetten oder einzelne Panels (teilweise mit, teilweise ohne Rahmenstruktur) zwischen dem episodenhaft erzählenden Text platziert sind: Der kleine Fuchs trifft auf Käfer, Würmer und Rehe, lernt Blumen, Beeren und Wasserpfützen kennen. Er geht auf Raschelmausjagd, plündert Müllsäcke und schließt Freundschaft mit einem Menschenjungen in roter Latzhose.

Was wie Kindheitserinnerungen erscheint, wird vom Text jedoch als „Traum“ ausgewiesen und immer wieder von der als Rahmenhandlung inszenierten Erzählebene unterbrochen:

[Szenenwechsel]

Wir sehen einen rotgekleideten Jungen (denselben, der den Fuchs in dessen „Träumen“ aus einer ungemütlichen Situation gerettet hat) auf seinem Rad durch die (bereits bekannten) blauweißen Wiesen fahren. Nicht unweit des Strandes, auf dem der kleine Fuchs nach seinem Fall träumend auf dem Rücken liegt.

[Szenenwechsel]

In seinen in den unterschiedlichsten Farbtönen dargestellten Streifzügen, fragt sich der kleine Fuchs zunehmend: „Was ist das für ein Traum?“ Was ist das denn für ein Traum, in dem plötzlich zwei lila Schmetterlinge durch die Luft flattern? Ein Traum, in dem der kleine Fuchs den beiden hinterherjagt? In dem der kleine Fuchs plötzlich durch die Luft segelt? Dem Boden immer näher kommt. Bis er mit einem „SCHLAG“ unten aufkommt.

[Szenenwechsel]

Der Junge findet den schlafenden Fuchs und bringt ihn zu seiner Familie zurück. Dort wacht der kleine Fuchs schließlich auf…

Mithilfe von Stilmitteln wie Wiederholung und Lautmalerei, mithilfe lebensweltlicher Vergleiche und sinnesübergreifender Metaphern weiß Edward van de Vendel, die Erlebnisse des Fuchses in eine behutsame aber expressive Sprache zu kleiden. Dass Marije Tolman es versteht, vielschichtige Geschichten zu erzählen, hat sie bereits in ihren Illustrationen zu „Mein Papa ist der größte Held der Welt“ (Text von Daan Remmerts de Vries, Gerstenberg 2019) bewiesen, in dem sie die phantastischen Vorstellungen der kleinen Lynn gekonnt in die realistische Bildebene integriert hat. In „Der kleine Fuchs“ wählt Tolman eine ebenso einzigartige Farbgebung, wobei sich die Verflechtungen von Wirklichkeit und Imagination nun jedoch wesentlich komplexer und verzweigter zeigen. Dementsprechend raffiniert gestaltet sich auch die bildliche Umsetzung, in der Tolman einzelne Elemente wie den orangeleuchtenden Fuchs, den rotgekleideten Jungen und die lilafarbigen Schmetterlinge zwischen den beiden narrativen Ebenen hin und her wechseln lässt.

Dabei spielen Autor und Illustratorin gekonnt mit Fiktion und Wahrheit, verschränken Binnen- und Rahmenerzählung miteinander und lassen Realität und Traum auf eine Weise verschwimmen, sodass man sich nicht mehr sicher sein kann, was nun Traum und was Wirklichkeit ist: Handelt es sich bei den blauweißen Wiesen vielleicht doch um jene farbentleerte Seelenlandschaft, auf der sich der eigentliche Traum des kleinen Fuchses entspinnt? Was bzw. welcher Fall durch die Luft war zuerst da? Und wird es (in einer Art Zeitschleife) womöglich immer so weitergehen? Immerhin sind die lila Schmetterlinge am Ende des Buches verschwunden und der kleine Fuchs tollt mit seinen Geschwistern wieder durch den (blauweißen) Wald...

Claudia Sackl

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